Archive for October 16th, 2010

Intermezzle (I)

Saturday, 16. October 2010

triefaugeseiwachsam

Ich habe mich jetzt doch durchgerungen, mir gelegentlich über meine Zeitgenossenschaft das Maul zu zerreißen. Bislang biss ich die Zähne zusammen, wann immer mir besonders bittere Enttäuschungen begegneten. Zum Beispiel, wenn ich kopfüber aus einer Verehrung in eine Verachtung fallen musste. Offenbar vertrage ich dergleichen Abstürze nun nicht mehr unwidersprochen. Es tut mir leid, wenn das erste Opfer meiner Mäkelei nun gerade ein Bekannter meines Freundes werden muss. Sei‘s drum!

Meine Tageszeitung brachte heute auf ihrer Literaturseite ganzseitig einen Essay, der in der Fußnote als Bearbeitung eines Vortrags ausgewiesen ist, welchen sein Autor, Georg Klein, beim Kulturfestival fliesstext 10 in Ingolstadt hielt. Abgesehen davon, dass ich nichts von „Kulturfestivals“ halte, die im Fließtext untergehen, und schon erst recht nichts von Essays, die auf Vorträge „zurückgehen“, zwingt mich diese Veröffentlichung zu einem knappen Affront.

Das Artikelchen mit der barbusigen Schönen, die offenbar als Eyecatcher herhalten soll [s. Titelbild], damit überhaupt ein Trottel wie ich seinen Blick auf dem Weg zum Interview in der Wochenendbeilage für das knappe Momentchen anhält, das ausreicht, um sich in die ersten Sätze zu verbeißen – dieses Artikelchen also hebt mit folgenden Worten an: „,Was Wörter sind, das wisst ihr?‘ So sprang es mir vor kurzem aus einem zu Recht berühmten Roman entgegen.“ (Georg Klein: Heimat im Wort; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 240 v. 16./17. Oktober 2010, S. 16.) An dieser Stelle dürfte der durchschnittliche SZ-Leser über seinem samstäglichen Frühstücksei, mittelweich gekocht zur nächsten Seite umblättern, um sich dort durch dick und doof ins Twitterlexikon verlocken zu lassen. Nicht so ich, vermutlich Georg Kleins einziger Leser. Ich frage mich: Woher hat er den Satz? Was für ein Buch ist es denn, von dem er da spricht? Und ich erfahre in der sechsten und letzten Spalte, dass der Mann, der diesen Satz angeblich geschrieben hat, kein geringerer als Arno Schmidt sein soll. Das kommt mir spanisch vor, und so steige ich auf meine wackligen Tage auf meine morsche Bibliotheksleiter, erklimme die oberste Sprosse und hieve Zettels Traum herunter. Und was lese ich da, auf Seite 24 unten und Seite 25 oben?

„Was ‚Worte‘ sind, wißt | Ihr – ?“ (Zum Vergleich: ,Was Wörter sind, das wisst ihr?‘ Ich zähle bei einem Satz mit fünf Wörtern fünf Abweichungen!) Wie billig es ist, gerade diesen Satz zu zitieren! Schon Gunnar Ortlepp schnappte sich vor vierzig Jahren in seinem Spiegel-Artikel anlässlich des Erscheinens von Zettels Traum genau diesen Satz, um flott und flüssig mit dem Wälzer fertig zu werden. Aber Klein hatte nicht vier Tage wie der Spiegel-Redakteur, sondern vierzig Jahre eines vermeintlich sorgfältig reflektierenden Intellektuellen Zeit, das Buch zu lesen, gründlich und genau. Unorigineller geht es nun gar nicht mehr. Vermutlich hat Klein sein vorgebliches Schmidt-Zitat aus dritter oder vierter Hand. Aber wenn man schon nicht originell ist, sollte man doch wenigstens richtig zitieren können, oder? Es ist ein Jammer mit dem Niedergang des Zeitungsfeuilletons in Deutschland.

Ob Schmidts dickes Buch zu Recht berühmt ist, darüber zu urteilen steht jedenfalls Georg Klein nicht zu, solange er sich nicht wenigstens als jemand erwiesen hat, der zu lesen versteht. (Vom Schreiben wollen wir hier noch gar nicht reden.)

Artikel-Nr. 0009-0498

Saturday, 16. October 2010

initialendesherrnk

Koestler, Arthur: Die Gladiatoren / Sonnenfinsternis / Ein Mann springt in die Tiefe. Drei Romane. M. e. Nachw. d. Autors. Bern / Stuttgart / Wien: Alfred Scherz Verlag, 1960. – 701 & 3 S., 20,7 x 13,3 cm, OLw. m. Deckel- u. Rückenprägung. – Umschlag m. kleinen Randläsionen, Papier altersbedingt gebräunt. – Erste Ausgabe dieser Zusammenstellung mit dem Nachwort. – Die engl. Originalausgaben erschienen u. d. T. The Gladiators (1939), Darkness at Noon (1940) und Arrival and Departure (1943).

Dieses Buch bekam ich vor ein paar Jahren mal von einem über 90-jährigen Herrn geschenkt, der mittlerweile verstorben ist. Er war zeitlebens sehr kulturbeflissen, allerdings galt seine große Liebe eher dem Theater. Zugleich war er sehr sparsam und liebte es, kleine Gefälligkeiten, um die er mich und andere bat, statt mit Geld mit kleinen Geschenken zu entlohnen, wenn eben möglich aus dem scheinbar unerschöpflichen Fundus seines eigenen Krimskrams, ihm selbst unwillkommene Geschenke, für die er angestrengt nach dankbaren Abnehmern suchte. Das klingt nun vielleicht abschätzig, so meine ich es aber keineswegs. Vielmehr hatten diese originellen Kompensationen auch etwas sehr Rührendes, steckte doch immer viel Nachdenken und Kombinieren dahinter. Nach Arthur Koestler hatte er mich einmal völlig ohne jeden erkennbaren Zusammenhang gefragt: Ob ich den denn kennte, was ich von ihm gelesen hätte, was ich von ihm hielte? Da dachte ich gleich: ,Nachtijall, ick hör dir trappsen!‘ Und richtig, ein paar Wochen später kam er mit der dicken Schwarte, drei Romane in einem Band, um die Ecke. [Das Titelbild zeigt die Initialen des Autors im vorderen Einbanddeckel.] Das war insofern eine kleine Enttäuschung, als ich sowohl Die Gladiatoren als auch Sonnenfinsternis in wenn nicht schönen, so doch originellen Einzelausgaben bereits besaß. Na gut, geschenktem Gaul schaut man nicht ins Maul. Und da ich schon dabei bin, Redewendungen vom laufenden Meter abzuspulen, hier gleich die nächste: Ich machte gute Miene zu bösem Spiel.

Der Name Koestler begegnete mir zum ersten Mal, als ich mich für den Spanischen Bürgerkrieg (Juli 1936 bis April 1938) interessierte, auf der Suche nach den wenigen Beispielen gelebter Utopie, nach einer Welt ohne Herren und Knechte, ohne Eigentum und Diebstahl, buddelnd nach dem Strand unterm Pflaster, nach der verlorenen Zeit, als das Wünschen wenn nicht geholfen, so doch immerhin gelindert hat, nämlich den Schmerz über das verlorene Paradies. Arthur Koestler gefiel mir in diesem Zusammenhang insbesondere wegen seiner schillernden Widersprüchlichkeit. In diesem Zusammenhang will ich nicht wieder das berühmte Wort von Conrad Ferdinand Meyer über den Menschen im Widerspruch zitieren, sondern zur Abwechslung mal Pier Paolo Pasolini, der wusste „wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.“ Dessen Beispiel zeigt ja, dass die Konsequenz eines nach Gewaltlosigkeit strebenden Revolutionärs schließlich in den gewaltsamen Tod führen muss. Wenn Koestler sein Engagement als Kriegsberichterstatter auf Seiten der Republikaner (nicht der Anarchisten um Buenaventura Durutti) im Spanischen Bürgerkrieg überlebt hat, war das wohl mehr Glück als Verstand. Ein Vaterland hat der aus Ungarn stammende Österreicher, deutschsprachige Sohn eines jüdischen Industriellen, der zudem in Englisch und Französisch schrieb, nie gehabt, nicht gekannt und kaum gewollt. Meine ganz große Verehrung für Arthur Koestler setzte aber viel später ein und hatte völlig andere Ursprünge, auf die ich später, anlässlich des Verkaufs anderer seiner Bücher aus meiner Bibliothek, sicher noch einmal zu sprechen kommen werde. (Vorausgesetzt, sie finden einen Käufer.)

Den dritten der hier versammelten Romane, Ein Mann springt in die Tiefe, hätte ich vielleicht doch gern einmal gelesen. Jedenfalls ist der Anfang – und ich bin ein Spezialist für die Ästhetik und Magie von Romananfängen – mindestens überdurchschnittlich gut gelungen: „Na, dann los, dachte der junge Mann, beugte den Oberkörper unbeholfen vor und sprang – es sah mehr nach einem Unfall als nach Absicht aus – in die Tiefe.“ (Ich nenne in meiner ewigen Hitliste der besten Romananfänge gegenwärtig nur 97 besser gelungene!)

Bei Begleichung des Rechnungsbetrags in Höhe von 52,10 Euro geht dieses Buch in den Besitz von M. Sch. in Berlin über.