Einmal sterben reicht

manfeyn

In den letzten Tagen habe ich vor dem Einschlafen ein äußerst unterhaltsames, vergnügliches, aufmunterndes Buch gelesen – das ich allerdings als Betthupferl nicht weiterempfehlen kann, denn es treibt einem die Müdigkeit aus. Sollte man zudem wie ich die Schlafstatt noch mit einer Bettgenossin teilen, so macht man sich durch gelegentliche unbezwingbare Lachanfälle unbeliebt. Die Rede ist von einer Sammlung autobiographischer Geschichten aus der Feder des US-amerikanischen Physikers Richard P. Feynman (1918-1988), die deutsch unter dem bezeichnenden Titel „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“ erschienen ist. (A. d. Am. v. Hans-Joachim Metzger. München: Piper, 1987.)

Dabei hat Feynmans Erzählweise etwas an sich, was mich sonst auf die Palme bringen kann. Sie laufen nämlich in aller Regel darauf hinaus, dass uns Lesern keine andere Wahl bleibt, als Feynman unbedingt für den blitzgescheitesten, hinterlistigsten, witzigsten, unbeugsamsten und mutigsten Kerl aller Länder und Zeiten zu halten – kurzum für eins jener einsamen Genies, denen nur einer das Wasser reichen kann, nämlich ebenderselbe, und deren es in der besseren Gesellschaft des 20. Jahrhunderts mehr gibt als Einzelsocken in der Großwäscherei.

Tatsächlich war ich ungefähr bei Seite 80 nahe daran, das Buch wegen dieser nur notdürftig mit etwas Understatement gemilderten Posiererei aus der Hand zu legen. Doch dann beschloss ich, an Feynmans offenkundige Freude an der Selbstdarstellung für die restlichen 380 Seiten einfach keinen Anstoß mehr zu nehmen und mich ganz auf das zu konzentrieren, was er sonst noch, nämlich über den Rest der Welt zu sagen hat. Diesen Entschluss habe ich nicht bereut, denn er hat, was das betrifft, eine ganze Menge zu sagen. (Gegen Ende des Buches scheinen ihm übrigens selbst Gewissensbisse wegen seiner Protzerei gekommen zu sein, denn da treibt er das Understatement auf die Spitze, indem er zum Beispiel steif und fest behautet, dass der 1965 an ihn verliehene Nobelpreis für Physik ihm nur Ärger und Verdruss gebracht habe.)

Wenn ich die geistige Grundhaltung von Feynman auf einen einzigen Begriff bringen sollte, so würde ich sagen, er ist wo er geht und steht unorthodox. Wenn etwas stets und zu allen Zeiten auf diese Weise gemacht worden ist, und sei es mit den allerschönsten Erfolgen, so ist es für Feynman eine unabweisbare Herausforderung, es gerade auf eine völlig andere, womöglich entgegengesetzte Weise zu tun. Im schlimmsten Fall stellt sich heraus, dass es so nicht klappt, aber dann hat Feynman doch immer noch eine wertvolle Erfahrung gemacht. Wenn alle Welt behauptet, dass sich ein Tresor, der mit einer sechsstelligen Zahlenkombination verschlossen ist, nie und nimmer in einer halben Stunde öffnen lässt, dann führt Feynman einem staunenden Publikum ein ums andere Mal vor, dass er solche Tresore im Handumdrehen öffnet. (Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um Geldschränke in irgendwelchen Banken, gefüllt mit schnödem Gold oder Geld, sondern um die Tresore in Los Alamos, die die Pläne für die ersten Atombomben enthielten, an deren Bau er mitwirkte.) Wenn er den Psychiatern der Musterungskommission Rede und Antwort stehen muss, um seine Tauglichkeit für die US-Army zu prüfen, antwortet er wahrheitsgemäß auf jede einzelne Frage, mit dem Ergebnis, dass er als „unnormal“ ausgesondert wird, und rekonstruiert dieses „Verhör“ zu unserer großen Freude Wort für Wort, damit wir nie vergessen, welch fragwürdige Größe die „psychische Normalität“ nach den Kategorien der Psychiatrie ist. Wenn er zu einem Kongress nach Japan eingeladen wird, verlässt er sofort die ausgetretenen Pfade des Wissenschaftstourismus und logiert gegen alle Widerstände nicht im Tagungshotel, sondern in einem Hotel im japanischen Stil, wo er nebenbei herausfindet, warum er bis dahin keinen Fisch gemocht hat und ihn nun ganz köstlich findet. Wenn alle Stammgäste einer Bar mit Oben-ohne-Tänzerinnen sich weigern, für den in Bedrängnis geratenen Besitzer einzutreten, weil sie um ihren guten Leumund fürchten oder sich einfach schämen, springt Feynman in die Bresche und kann nichts dabei finden, Nackttänzerinnen zu bewundern. Wenn Feynman in ein Gremium berufen wird, das die Freigabe neuer Mathematiklehrbücher zu verantworten hat, dann liest Feynman im Unterschied zu seinen Kollegen alle ihm vorgelegten Bücher gründlich von der ersten bis zur letzten Seite, findet sie überaus verbesserungsbedürftig und sorgt damit für einen Eklat. Und damit habe ich noch nichts über den Bongo-Trommler, den Aktzeichner, den Halluzinationsforscher, den Entzifferer eines Maya-Buches und über eine ganze Reihe weiterer Erscheinungsformen von Richard P. Feynman gesagt.

Da hat offenbar jemand in vollen Zügen ein sehr vielseitiges und unterhaltsames Leben gelebt. Und dazu passt auch, was Feynman kurz vor seinem Tod zum Besten gab: “I’d hate to die twice. It’s so boring.”