Archive for April, 2010

Ich und der Grimme Online Award

Monday, 19. April 2010

unterholz

Wie ich gerade zu meinem maßlosen Entsetzen feststellen musste, ist mein Weblog für den diesjährigen Grimme Online Award vorgeschlagen worden. Dieser Preis wird seit 2001 vom Adolf-Grimme-Institut vergeben, um „Qualität im Netz“ zu fördern und die Aufmerksamkeit auf herausragende publizistische Online-Angebote zu lenken, die einem hochwertigen Qualitätsanspruch gerecht werden. So weit, so gut. Die Preise werden in den drei Kategorien – Information, Wissen und Bildung, Kultur und Unterhaltung – vergeben. Hier wird’s schon kitzlig, denn ich bin in allen diesen Ressorts aktiv und wüsste nicht, was mir am meisten am Herzen liegt: Die Vermittlung aktueller Informationen, begleitet von vertiefenden Analysen? Der Wissenstransfer im Dienste von Bildung, Beratung und Aufklärung meiner Leser? Oder deren Unterhaltung auf formal und inhaltlich hohem Niveau, durch die Darstellung kreativer Konzepte abseits des Meinstreams? Aber vielleicht ist ja gerade für solche Wanderer zwischen den Welten, Flaneure abseits ausgetretener Pfade wie mich die vierte Kategorie erfunden worden, der Grimme Online Award Spezial. Er prämiert innovative und qualitativ herausragende Konzepte und Beispiele für publizistisch relevante Web-Angebote sowie publizistische Einzelleistungen von besonderer Qualität, die den ersten drei Kategorien nicht zuzuordnen sind.

Obwohl jeder Internet-Nutzer und Online-Anbieter zwischen dem 15. Januar und dem 15. März 2010 jedes beliebige deutschsprachige Internetangebot vorschlagen konnte, zähle ich auf der nunmehr geschlossenen Vorschlagsliste nur 1.420 Webadressen. Das finde ich einerseits lächerlich wenig, soll es doch schon vor Jahren mehr als eine Million Weblogs in Deutschland gegeben haben. Andererseits ist es schauderhaft viel für die bedauernswerten sieben Mitglieder der Nominierungskommission, die nun vor der Aufgabe steht, alle eingereichten Vorschläge zu sichten und eine Vorauswahl zu treffen, die dann zur Preisfindung an die ebenfalls siebenköpfige Jury weitergereicht wird. Ich habe mir die Liste mit den 1.420 Links eben mal ausgedruckt. Sie ist 19 Seiten lang, obwohl ich die Schrift auf 8 Punkt heruntergedimmt habe. Da die Kandidaten strikt in der Reihenfolge des Eingangs aufgeführt werden, die letzten zuoberst, ergibt sich ein buntes Durcheinander. Ich stehe an Position 1.035, zufällig zwischen www.scoolz.de und www.karrierebibel.de. Dem „Schüler Magazin“ direkt vor mir fehlt schon im Untertitel was, nämlich ein Bindestrich. Im Forum geht’s dort um Penislängenvergleich und die Frage, wann endlich die Brüste wachsen. Von hinten raunt ein smarter Wirtschaftsjournalist mir ins Ohr, dass ich mich mit meiner speckigen grauen Kordjacke besser gleich ins Wachsfigurenkabinett, Abteilung Moorleichen begeben soll. Das ist Jochen Mai, Autor eines Buches namens Karrierebibel, in dem definitiv alles drinsteht, was ich für meinen beruflichen Erfolg, zum Beispiel als Blogger, wissen muss. Und da dieser ultimative Ratgeber gar nicht ultimativ genug sein kann, ergänzt Jochen Mai dessen Inhalte auf seiner gleichnamigen Website regelmäßig um die allerneuesten Erfolgsrezepte.

Ich bin weder jung im Sinne von Scoolz noch erfolgreich im Sinne der Karrierebibel. Wie konnte ich mich nur auf diesen Webcontest verirren? Wer hat sich diesen grausamen Scherz mit mir erlaubt? Und was kann ich dagegen tun?

Leider geben die Statuten des Preises keine Auskunft über einen Fall wie meinen. Vermutlich ist der durchschnittliche Blogger rattenscharf auf diese Auszeichnung. Ich wüsste ja gern, wie viele der übrigen 1.419 Online-Anbieter sich selbst beworben und wie viele einen guten Freund vorgeschickt haben, weil ihnen dieses Ranschmeißerische nicht so liegt. Rätselhaft ist ja übrigens auch, dass die Verantwortlichen beim Adolf-Grimme-Institut direkt nach Ablauf der Frist von zweitausend eingegangenen Vorschlägen tönten. Vielleicht gehören ja die fehlenden 581 Webadressen unbescholtenen Leuten meiner Kragenweite, die sich augenblicklich ans Institut gewandt und um Löschung ersucht haben? Oder der Dublettenabgleich wurde erst nach Herausgabe der Pressemeldung vorgenommen?

Sei es, wie es sei. Vielleicht lassen die Verantwortlichen des Grimme Online Award im Eduard-Weitsch-Weg ja in regelmäßigen Abständen eine promovierte Praktikantin nach „Grimme Online Award“ googeln. Die stößt dann vielleicht auf diesen Beitrag in meinem Blog und liest folgendes Statement: „Liebe Damen und Herren der Nominierungskommission des Grimme Online Award! – Lassen Sie sich von meinem Weblog www.revierflaneur.de nicht aufs Glatteis führen. Zwar ist sein äußeres Erscheinungsbild schlicht und bescheiden. Zwar drückt der Autor seine wenigen Gedanken klar und deutlich aus und bemüht sich dabei um die Einhaltung aller geltenden Regeln der deutschen Sprache und Schrift. Hinter dieser Fassade aus Wohlanständigkeit und Korrektheit tun sich jedoch Abgründe auf! Auf Schritt und Tritt lauern Anarchie und Aufruhr, Verführung der Jungen und Alten zu Trotz und Widerspruch, Verhöhnung der Werktätigen und Erfolgreichen, Leugnung gängiger Glaubenssätze, Zweifel an unumstößlichen Wahrheiten – und dies alles in so geschickter Tarnung, dass es Ihnen gar nicht aufgefallen wäre, hätte ich Sie hier nicht darauf gestoßen. Jede lautere Zweckorientierung, wie Sie sie in Ihrer Ausschreibung zum Ausdruck bringen, ist diesem Weblog wo nicht fremd, so doch verdächtig. Machen Sie sich und mich nicht unglücklich! Lassen Sie die Finger von diesem Blog! – Ihr Revierflaneur.“

Vom Ständer geschüttelt (I): DUMMY

Sunday, 18. April 2010

dummy

Immer schon habe ich mich für jene eher randständigen Periodika interessiert, die im Schatten der Massenpresse zwar ein karges Dasein fristen, dabei aber oft einen Wagemut und Erfindungsreichtum an den Tag legen, von dem die Großen nur träumen können. (Und wenn sie schlau sind, kupfern sie dort ab, was das Zeug hält. Bekanntestes Beispiel: Als die twen 1971 einging, war der Stern deren beste Kopie und schrieb sich von da an konsequenterweise stern.) Mehr noch als das Layout und die Bebilderung interessieren mich allerdings die Texte, die bei der Illustrierten-Kritik, wie könnte es anders sein, meist nicht in den Mittelpunkt der Bewertung gestellt werden. Manch augenfreundliches Magazin erweist sich dann bei näherer, lesender Erkundung als ein karges Stoppelfeld, auf dem Stotterer herumstolpern und sich doch Autoren nennen. – Ich werde ab heute sporadisch brandneue, bereits etablierte oder vor langer Zeit eingegangene Heftserien des deutschsprachigen Pressehandels vorstellen und mit dem Fokus auf ihre sprachliche Werthaltigkeit taxieren.

Den Anfang mache ich heute mit DUMMY, das sich im Untertitel „Unabhängiges Gesellschaftsmagazin“, manchmal auch „Das Gesellschaftsmagazin aus der Hauptstadt“ nennt und vierteljährlich jeweils zum Beginn der neuen Jahreszeit in einer Druckauflage von 45.000 Exemplaren erscheint. Das Heft hat das Format 222 x 287 mm und soll es auf einen Umfang von ca. 148 Seiten bringen. Mir liegt mit Nr. 26 das aktuelle Frühjahrsheft vor, das sich mit nur 114 Seiten bescheidet. Laut einer Umfrage vom März vorigen Jahres deckt sich die Leserschaft ziemlich genau mit den Sinus-Milieus der „Postmateriellen“ und „Modernen Performer“, die jeweils zehn Prozent der Bevölkerung in der BRD ausmachen. Es sind dies einerseits die aufgeklärten Nach-68er mit liberaler Grundhaltung, postmateriellen Werten und intellektuellen Interessen; andererseits die junge, unkonventionelle Leistungselite, die beruflich wie privat ein intensives Leben führt, auf Multi-Optionalität und Flexibilität Wert legt und sich für Multimedia-Technologie begeistert. Jetzt wissen wir, wer die Leute sind, die für ein solches Heft einmal im Quartal 6 Euro am Kiosk lassen (bzw. einmal jährlich 24 Euro zzgl. Porto und Versandkosten überweisen), was sie bei einem monatlichen Haushaltseinkommen von 2.500 Euro netto nicht allzu sehr schmerzen dürfte. Jedes Heft widmet sich einem auf dem Titel deklarierten gesellschaftlich relevanten Thema und wird von jeweils anderen Grafikern gestaltet. Sogar die Typographie des Titels DUMMY ist auf jedem Heft eine andere. Auf dem Mediadatenblatt des Magazins heißt es, DUMMY treffe „mit seinem publizistisch einmaligen Konzept […] punktgenau die Lebenseinstellung“ seiner Zielgruppen. Schon möglich, aber was genau an dem publizistischen Konzept nun so einmalig sein soll, wird nicht verraten. Themenheft-Magazine gibt es viele und gab es schon immer. Ich nenne nur als seit vielen Jahren erfolgreiche Beispiele zwei Hefte aus der Schweiz, das Du-Magazin und das Magazin Folio der Neuen Zürcher Zeitung; und das legendäre, von Benneton gesponserte Colors-Magazine von Tibor Kalman und Oliviero Toscani. Aber vielleicht darf man solch vollmundige Selbstanpreisung nicht allzu wörtlich nehmen. (Immerhin sollte Herausgeber Oliver Gehrs gelegentlich einmal veranlassen, dass das Wort „Millieu“ auf dem Datenblatt korrigiert wird.) Doch nun schauen wir uns ganz vorurteilsfrei an, was die DUMMY-Redaktion aus dem Thema „Provinz“ gemacht hat.

Noch vor dem Editorial überfällt sie uns mit einem Zitat aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels: „Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.“ Soll uns hier also mit Berufung auf die sozialistischen Klassiker die Gleichung Provinz = ländliche Gebiete = idiotische Bevölkerung aufgedrängt werden? Ganz abwegig ist das ja nicht einmal, denn laut Wikipedia bezeichnet Provinz wenigstens in der Umgangssprache „das Gebiet außerhalb der Hauptstadt oder an der Peripherie eines Landes, manchmal mit abwertender Konnotation: Da aktuelle Moden oder Sitten oft zuerst in den Städten auftreten und diese im ländlichen Raum noch wenig bekannt sind, gilt dieser als eine rückständige, ‚provinzielle‘ Gegend.“ Der Wert eines im besten Sinn aufklärerischen Magazins über Provinz könnte also etwa darin bestehen, mit solchen oberflächlichen Verallgemeinerungen und realitätsfernen Vorurteilen zu brechen und sich in der Provinz auf die Suche nach einer neuen, posturbanen Avantgarde zu begeben. Schaut man sich aber die fünf ernst zu nehmenden Textbeiträge des Heftes an, dann behandeln vier von ihnen tatsächlich den hinterwäldlerischen Idiotismus der Provinz, nämlich im schwäbischen Donzdorf, in einem Dorf in Märkisch-Oderland nahe Strausberg, in Bielefeld und in dem Dorf Bagwa in der Ukraine. Allein der fünfte Artikel führt aus dieser bedrückenden Engherzig- und -stirnigkeit hinaus und stellt uns das Deep Springs College in der kalifornischen Wüste vor, wo Elitestudenten neben ihrer akademischen Ausbildung Kühe melken und Felder bewässern, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren.

Womit aber füllt die DUMMY-Redaktion die übrigen zwei Drittel des Heftes? Da gibt es zur Einstimmung ein Interview mit dem Humangeografen Peter Dirksmeier, der gleich eingangs das Thema des Themenheftes abschießt, indem er die Frage verneint, ob es überhaupt noch einen Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, Metropole und Provinz gebe. Ein kurioser Sprachführer Kolonial-Deutsch aus dem Jahr 1916 wird vorgestellt, anhand von vier Seiten im Faksimile. Die zwei- und dreibuchstabigen Ortskürzel auf den Autonummernschildern der Republik haben die Redaktion zu einem despektierlichen Assoziationsspiel verleitet, mit peinlich unlustigem Ergebnis. Charlotte Roches Ex Eric Pfeil erinnert sich leider an die Wirkung seines provokanten Outfits als Pubertierender in Bergisch Gladbach. Eine Geschichte über das isoliert lebende Volk der Sentinelesen ist so dünn, dass sie nur noch mittels 16-Punkt-Schrift auf Artikellänge hochgefüttert werden kann. Das kommentierte Verzeichnis separatistischer Abspaltungen weltweit, von Abchasien bis Xinjiang, mutet mich ebenfalls wie ein von der Not abgepresster Lückenbüßer an. Und noch dünner wird die Luft! Streichholzschachtelgroße Bildchen und ein fußnotenartiger Textstreifen verlieren sich auf den Seiten über eine Pendlerin zwischen Berlin und Spremberg. Zum Ausklang erfahren wir auf einer Seite, was die Taliban ihren Frauen verbieten, in Gestalt einer Top-Ten-Liste, was nicht nur geschmacklos, sondern auch unsinnig ist, denn nach welchen Kriterien wurde denn die Reihenfolge von 1 bis 10 festgelegt? Den traurigen Abschluss bildet eine herablassende Kritik der Zeitschrift Landlust aus der Feder von Herausgeber Oliver Gehrs. Die Landlust tritt gewiss weit weniger ambitioniert auf als das DUMMY, hält aber vielleicht, was sie verspricht.

Einen Artikel habe ich bewusst noch nicht erwähnt, weil ich ihn für den versöhnlichen Abspann aufbewahren wollte, denn er ist der einzige, den ich wirklich gelungen finde. Vielleicht liegt das auch daran, dass er von einem journalistischen Profi verfasst wurde. Hartmut Palmer ruft sich unter dem Titel In einem fernen Land die Bonner Kneipe „Provinz“ in Erinnerung, in der in den 1980er-Jahren Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihr Herz füreinander entdeckten. Dazu werden zeitgenössische Fotos von Axel Greinert gezeigt, an denen ich mich gar nicht satt sehen kann. Und hier blitzt sogar mal ein Erkenntnislicht aus dem Trüben. Nie habe ich die provinzielle Verspießerung der 68er so barrierefrei studieren können wie auf diesen Bildern. – Fazit: Das Heft wirkt auf mich, als wäre ihm die Puste ausgegangen und es traue sich bloß noch nicht, sich aus dem Rennen zu nehmen.

Antiquariat (II)

Thursday, 15. April 2010

paradisenow

Mehr als ein Vierteljahr ist nun ins Land gegangen, seit ich die Eröffnung meiner Firma – Manuel Hessling Antiquariat Revierflaneurhier bekannt gab. Unvorhergesehene Widrigkeiten aller Art hemmten meine Unternehmungslust ein ums andere Mal. Erst jetzt, so scheint’s, kann ich endlich Nägel mit Köpfen machen.

Heute habe ich die ersten hundert Bücher aus dem Lager gezogen, sie abgestaubt, durchgesehen, auf versteckte Mängel geprüft und auf ihren Verkaufswert taxiert. Ich stellte eine bunte Mischung zusammen, ließ mich dabei vom Zufall bestimmen, suchte nicht nach besonders wertvollen Preziosen. Schließlich sollte es ja ein represäntativer Querschnitt sein, den ich da sozusagen als Kostprobe an den Internet-Vertrieb melden würde. Wenn ich meine komplexen Gefühlsregungen bei dieser Arbeit auf einen einfachen Begriff bringen müsste, so würde ich sagen: Es beschlichen mich „gemischte Gefühle“ – und diese halten auch noch an.

Einerseits bin ich froh, mich nun endlich zu diesem Schritt durchgerungen zu haben: mich nämlich von einem großen Teil meiner längst über jedes vernünftige Maß hinaus angeschwollenen Bibliothek zu trennen. Andererseits sind mit manchem Buch, das ich in der Hand und in meinem Herzen wäge, so viele intensive Erinnerungen verbunden, dass es mir manchmal erscheint, als würde mit dieser Trennung ein Stück meiner eigenen Geschichte ausradiert.

Dies gilt besonders für Bücher, die ich noch als Jugendlicher von meinem schmalen Taschengeld gekauft habe. Nach langem Zögern und Zagen habe ich mich damals speziell zu diesem Buch durchgerungen und dafür auf ein paar andere verzichtet, die mit ihm konkurrierten. So war es zum Beispiel mit dem kleinen Bildbändchen The Living Theater – Paradise Now. (Ein Bericht in Wort und Bild. Text Erika Billeter. Fotos Dölf Preisig. Bern München Wien: Rütten+Loening Verlag, 1969.) Das habe ich vermutlich 1972 in einem Modernen Antiquariat an der Rüttenscheider Straße gekauft, für 3,95 DM statt 9,80 DM. Wie beneidete ich damals die lebensfrohen Akteure der Theatertruppe von Julian Beck (1925-1985) und Judith Malina (*1926). Ich hätte am liebsten mit meinen 16 Jahren die Schule geschmissen und wäre aufgebrochen, um mich diesen spielfreudigen Hippies anzuschließen. Wenn ich heute in dem Büchlein blättere, das ich schon seit vielen Jahren nicht mehr in die Hand genommen habe, dann fühle ich mich sofort wieder in diese Jugendträume hineinversetzt.

Ich schreibe 18,00 Euro hinein und verabschiede mich von ihm mit einem wehmütigen Lächeln. Vielleicht ist das viel zu teuer? Aber es ist mir lieb und teuer. Billiger gebe ich’s nicht her. Wahrscheinlich werde ich mit diesem Unternehmen auf keinen gründen Zweig kommen. Aber warten wir es ab.

Filmkritik-Kritik (I)

Tuesday, 13. April 2010

colinfirthinbank

Vorgestern habe ich mir an der Seite meiner Gefährtin in der Essener Lichtburg den ersten Film des Modedesigners Tom Ford angeschaut. Es waren auffallend viele attraktive junge Männer in Begleitung älterer Herren im Kino. Das ist erfreulich, denn heute kann kein Produzent mehr auf seine Kosten kommen, wenn er ausschließlich ein cineastisch motiviertes Publikum anspricht. Die mimische Leistung des Hauptdarstellers, Colin Firth als George Falconer, hat A Single Man eine Oscar-Nominierung eingebracht. Das internationale Echo auf den Film, nach dem gleichnamigen Roman von Christopher Isherwood von 1964, war durchweg positiv, und auch hierzulande war das Urteil nahezu einhellig. Einen „traumwandlerisch schönen, traurigen Film“ nennt ihn Rainer Ganserma in der SZ. Ein „bravouröses Regiedebüt“ hat Peter Zander von der WELT gesehen und bescheinigt dem Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Ford eine verblüffende Stilsicherheit. Harald Peters von der gleichen Zeitung spricht von einem „eigenwilligen, wundervollen Werk“. Für die Kritikerin der ZEIT, Anke Leweke, ist A Single Man nicht nur ein Film, der „schön anzusehen ist“, „sondern auch ein schöner Film“. Michael Althen schließlich stellt Fords Debüt in der FAZ gar in die Tradition eines Klassikers wie Le feu follet von Louis Malle. Selbst im linken Freitag, von dem man am ehesten angenommen hätte, dass er sich mit dem Sujet und insbesondere mit dem auf Hochglanz polierten Milieu dieses Streifens schwertun würde, findet Matthias Dell nur lobende Worte und die überraschende Einsicht, der Film sei „auf subtile Weise […] politisch.“

Wenn sich alle Welt in einem Urteil dermaßen einig ist, dann kann die Versuchung für einen kämpferischen Geist unwiderstehlich werden, trotzig das gerade Gegenteil zu behaupten. So gab’s auch ein paar Zuschauer, genauer: ein Zuschauerpaar in der Lichtburg, das ein Viertelstündchen vor Schluss des Films das Kino verließ. Während ich mich noch fragte, welche Erwartungen hier enttäuscht worden waren, hatte die Frau an meiner Seite schon eine Erklärung parat: „Die konnten es bestimmt nicht länger aushalten und mussten dringend heim ins Bett!“

Da sind die Gründe, warum Ekkehard Knörer vom Perlentaucher den Filmgenuss wohl auch gern vorzeitig abgebrochen hätte, offenbar ganz anders gelagert. Gleich im ersten Absatz seiner Besprechung nennt er A Single Man unverblümt ein „Machwerk“. Was seinen Kolleginnen und Kollegen gerade als der besondere Vorzug des Films erschien, die Perfektion des Designs bis ins kleinste Detail, das nennt Knörer mit Bezug auf dessen Optik „fortgesetzte platte Redundanzproduktion“, während seine feinen Ohren „von der maximal minimal [sic] pathetisierenden Musik“ gepeinigt wurden, dass er sich fühlte „wie mit nassem Handtuch geprügelt“. Die ästhetische Konzeption nennt er eine der „streng gescheitelten Trauerkloßhaftigkeit“; und unterm Strich muss er feststellen, „dass im Leben eines durch und durch falschen Films eine echte Regung ein Ding der Unmöglichkeit ist.“ Wer dächte da nicht an Adornos bekannte Sentenz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“? Und wenn man deren Kontext kennt, nämlich den 18. Aphorismus unter dem Titel Asyl für Obdachlose in Minima Moralia (Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin u. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1951, S. 55-59), dann trifft diese Assoziation ins Herz der Diskussion über diesen Film, denn hier wie dort geht es nach meinem Dafürhalten ums Wohnen der Unbehausten in einer keinen Schutz mehr bietenden Welt.

Wenn es in A Single Man eine Szene gibt, an die sich jeder erinnert, dann ist es jene Rückblende, in der Literaturprofessor George Falconer (Colin Firth) „am Telefon vom Tod seines Freundes erfährt und ihm beschieden wird, dass die Familie auf seine Anwesenheit bei der Beerdigung keinen Wert lege – wie er versucht, die Fassung zu wahren, wie er seine versagende Stimme zur Disziplin zwingt und wie ihn nach dem Ende des Gesprächs dann die bleierne Gewissheit in den Sessel drückt und seine Augen überlaufen lässt, während es draußen in Strömen regnet, ist so erschütternd, dass es quasi alles beglaubigt, was den Film sonst nur an der Oberfläche zu bewegen scheint.“ So hat es Michael Althen empfunden. Und nun halten wir dagegen, was Ekkehard Knörer gesehen hat und wie er es bewertet: „Die Szene, in der George Falconer am Telefon vom Tod des geliebten Mannes erfährt, wird als schauspielerische Glanzleistung gepriesen. Aber auch und gerade an ihr ist alles ausgestellt. Tom Ford setzt seinen Hauptdarsteller ins perfekt eingerichtete Bild und lässt ihn wie ein gelehriges Tier im Zoo echtes Gefühl performieren. Der tut das, ringt virtuos um Fassung, aber gelangt übers Klischee einer solchen Situation kein Jota hinaus.“ Und darauf folgt besagter Satz vom durch und durch falschen Film. Was hat Knörer denn eigentlich sehen wollen? Einen Dokumentarfilm?

Ich für mein Teil habe den Film genossen. Und jedem, der sich bei diesem Genuss selbst im Wege steht, darf ich mein aufrichtiges Beileid aussprechen.

Vorlesepein (II)

Sunday, 11. April 2010

glasbuchlese

Über die Frage, wie zeitgemäße „Dichterlesungen“ in Buchhandlungen und auf anderen Bühnen heute auszusehen haben, wurde jüngst im Branchenmagazin buchreport kontrovers diskutiert.

Prof. Dr. Stephan Porombka (*1967), der an der Universität Hildesheim Kulturjournalismus und Literaturwissenschaft lehrt, eröffnete am 7. März die Debatte, als er forderte, dass sich die Vermittler von Literatur bewusster mit der Medienkonkurrenz auseinandersetzen müssten: „Es wird zunehmend wichtig, Literatur weniger im reinen Sinn zu denken und sich stattdessen stärker gegenüber den anderen Künsten und Medien zu öffnen, um vor allem auch ein jüngeres Publikum zu gewinnen.“ Porombka wendet sich sodann gegen die klassische Autorenlesung, weil sie einen veralteten Literaturbegriff repräsentiere, der – so wörtlich – „aus der Perspektive der Mediengesellschaft überholt ist, weil er nicht den gegenwärtigen Umgängen mit Texten entspricht.“ – Mal davon abgesehen, dass es den Plural von „Umgang“ in der hier gewählten Wortbedeutung nicht gibt: Was ist denn der gegenwärtige Umgang mit einem Text, zum Beispiel mit einer Erzählung wie Bartleby von Herman Melville? Liest man ihn nicht mehr Zeile für Zeile, von links nach rechts? Und was muss man anstellen, um bei einer öffentlichen Präsentation dieses Textes dem gegenwärtigen Umgang zu entsprechen? Im Background eine Lightshow abfackeln? Den Text als Rap intonieren? Da kann ich nur den Schreiber Bartleby zitieren: “I would prefer not to.”

So ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten. Der Leiter des Literaturhauses Hamburg, Dr. Rainer Moritz (*1958), hält in seiner Entgegnung vom 7. April gar nichts von Porombkas forschen Forderungen, und zwar gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Konkurrenz in der hochtechnisierten Mediengesellschaft: „Wo die Literatur heute stärker denn je mit dem Internet, dem Film oder der Musik konkurriert, muss sie vor allem zeigen, dass sie ein Angebot macht, über das Internet, Film oder Musik nicht verfügen. Literarische Texte ernst zu nehmen und an ihre stille ästhetische Wirkung zu glauben heißt eben nicht, sie mit anderen Kunst- und Kommunikationstypen zu vermengen.“ Besser hätte ich es selbst nicht sagen können – und genau diesem Rezept bin ich bei meinen Literarischen Soireen stets treu geblieben, wenngleich ich im Verlauf eines Titanic-Abends mal ein Papiermodell des Luxusliners vorführte.

Porombka hatte, vermeintlich treffsicher, ein Schmähwort für die von ihm zum Anachronismus erklärte Veranstaltungsform gefunden. Er nannte sie „Wasserglaslesung“, weil neben dem Buch vor dem Autor meist nichts als ein Glas Wasser auf dem Lesepult steht – vorzugsweise kohlensäurefrei, damit der Rezitierende und seine Zuhörer nicht durch Rülpser vom reinen Textgenuss abgelenkt werden. Es bietet sich geradezu an, den Begriff als einen Ehrentitel aufzugreifen und in aller Unschuld offensiv für eine Reihe von bewusst schlichten Autorenlesungen zu verwenden, wie sie Moritz beschreibt, „wo es kein Brimborium, keine Musikbeschallung, keine Powerpoint-Präsentation, keine Weinverkostung gibt, allenfalls ein fundiertes Gespräch mit dem Autor, der zuvor seine Sätze auf die Zuhörer hat wirken lassen.“

Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass der Verzicht auf das besagte Brimborium allein noch nicht zwingend eine gelungene Lesung nach sich zieht. Und ich muss sogar einräumen, dass der größere Teil der vielen Wasserglaslesungen, die ich in meinem langen Leser- und Buchhändlerleben aussitzen musste, zum Weglaufen war. Doch daran hätte multimedialer Hokuspokus auch nichts geändert, vielleicht allenfalls davon abgelenkt.

[Hier geht es zum ersten Artikel dieser Folge: Vorlesepein (I).]

Einmal sterben reicht

Saturday, 10. April 2010

manfeyn

In den letzten Tagen habe ich vor dem Einschlafen ein äußerst unterhaltsames, vergnügliches, aufmunterndes Buch gelesen – das ich allerdings als Betthupferl nicht weiterempfehlen kann, denn es treibt einem die Müdigkeit aus. Sollte man zudem wie ich die Schlafstatt noch mit einer Bettgenossin teilen, so macht man sich durch gelegentliche unbezwingbare Lachanfälle unbeliebt. Die Rede ist von einer Sammlung autobiographischer Geschichten aus der Feder des US-amerikanischen Physikers Richard P. Feynman (1918-1988), die deutsch unter dem bezeichnenden Titel „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“ erschienen ist. (A. d. Am. v. Hans-Joachim Metzger. München: Piper, 1987.)

Dabei hat Feynmans Erzählweise etwas an sich, was mich sonst auf die Palme bringen kann. Sie laufen nämlich in aller Regel darauf hinaus, dass uns Lesern keine andere Wahl bleibt, als Feynman unbedingt für den blitzgescheitesten, hinterlistigsten, witzigsten, unbeugsamsten und mutigsten Kerl aller Länder und Zeiten zu halten – kurzum für eins jener einsamen Genies, denen nur einer das Wasser reichen kann, nämlich ebenderselbe, und deren es in der besseren Gesellschaft des 20. Jahrhunderts mehr gibt als Einzelsocken in der Großwäscherei.

Tatsächlich war ich ungefähr bei Seite 80 nahe daran, das Buch wegen dieser nur notdürftig mit etwas Understatement gemilderten Posiererei aus der Hand zu legen. Doch dann beschloss ich, an Feynmans offenkundige Freude an der Selbstdarstellung für die restlichen 380 Seiten einfach keinen Anstoß mehr zu nehmen und mich ganz auf das zu konzentrieren, was er sonst noch, nämlich über den Rest der Welt zu sagen hat. Diesen Entschluss habe ich nicht bereut, denn er hat, was das betrifft, eine ganze Menge zu sagen. (Gegen Ende des Buches scheinen ihm übrigens selbst Gewissensbisse wegen seiner Protzerei gekommen zu sein, denn da treibt er das Understatement auf die Spitze, indem er zum Beispiel steif und fest behautet, dass der 1965 an ihn verliehene Nobelpreis für Physik ihm nur Ärger und Verdruss gebracht habe.)

Wenn ich die geistige Grundhaltung von Feynman auf einen einzigen Begriff bringen sollte, so würde ich sagen, er ist wo er geht und steht unorthodox. Wenn etwas stets und zu allen Zeiten auf diese Weise gemacht worden ist, und sei es mit den allerschönsten Erfolgen, so ist es für Feynman eine unabweisbare Herausforderung, es gerade auf eine völlig andere, womöglich entgegengesetzte Weise zu tun. Im schlimmsten Fall stellt sich heraus, dass es so nicht klappt, aber dann hat Feynman doch immer noch eine wertvolle Erfahrung gemacht. Wenn alle Welt behauptet, dass sich ein Tresor, der mit einer sechsstelligen Zahlenkombination verschlossen ist, nie und nimmer in einer halben Stunde öffnen lässt, dann führt Feynman einem staunenden Publikum ein ums andere Mal vor, dass er solche Tresore im Handumdrehen öffnet. (Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um Geldschränke in irgendwelchen Banken, gefüllt mit schnödem Gold oder Geld, sondern um die Tresore in Los Alamos, die die Pläne für die ersten Atombomben enthielten, an deren Bau er mitwirkte.) Wenn er den Psychiatern der Musterungskommission Rede und Antwort stehen muss, um seine Tauglichkeit für die US-Army zu prüfen, antwortet er wahrheitsgemäß auf jede einzelne Frage, mit dem Ergebnis, dass er als „unnormal“ ausgesondert wird, und rekonstruiert dieses „Verhör“ zu unserer großen Freude Wort für Wort, damit wir nie vergessen, welch fragwürdige Größe die „psychische Normalität“ nach den Kategorien der Psychiatrie ist. Wenn er zu einem Kongress nach Japan eingeladen wird, verlässt er sofort die ausgetretenen Pfade des Wissenschaftstourismus und logiert gegen alle Widerstände nicht im Tagungshotel, sondern in einem Hotel im japanischen Stil, wo er nebenbei herausfindet, warum er bis dahin keinen Fisch gemocht hat und ihn nun ganz köstlich findet. Wenn alle Stammgäste einer Bar mit Oben-ohne-Tänzerinnen sich weigern, für den in Bedrängnis geratenen Besitzer einzutreten, weil sie um ihren guten Leumund fürchten oder sich einfach schämen, springt Feynman in die Bresche und kann nichts dabei finden, Nackttänzerinnen zu bewundern. Wenn Feynman in ein Gremium berufen wird, das die Freigabe neuer Mathematiklehrbücher zu verantworten hat, dann liest Feynman im Unterschied zu seinen Kollegen alle ihm vorgelegten Bücher gründlich von der ersten bis zur letzten Seite, findet sie überaus verbesserungsbedürftig und sorgt damit für einen Eklat. Und damit habe ich noch nichts über den Bongo-Trommler, den Aktzeichner, den Halluzinationsforscher, den Entzifferer eines Maya-Buches und über eine ganze Reihe weiterer Erscheinungsformen von Richard P. Feynman gesagt.

Da hat offenbar jemand in vollen Zügen ein sehr vielseitiges und unterhaltsames Leben gelebt. Und dazu passt auch, was Feynman kurz vor seinem Tod zum Besten gab: “I’d hate to die twice. It’s so boring.”

Sentimentale Reise, gelumbeckt

Friday, 09. April 2010

yorick

Worauf ich seit bald zwanzig Jahren warte, das ist endlich eingetreten. Der kongeniale Tristram-Shandy-Übersetzer Michael Walter (*1951) hat nun auch Laurence Sternes zweites großes, kleineres Werk ins Deutsche übertragen: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick (Berlin: Verlag Galiani, 2010).

Durch diesen Paukenschlag wurde ich erstmals auf den jungen Berliner Galiani-Verlag aufmerksam, der im vergangenen Herbst als Kiepenheuer&Witsch-Imprint von Wolfgang Hörner und Esther Kormann aus der Taufe gehoben wurde. Hörner hat selbst das Nachwort zu diesem Büchlein geschrieben, dem wir entnehmen, dass es schon mit der Übersetzung des Originaltitels – A Sentimental Journey trough France and Italy – ein Problem gab. Das Adjektiv “sentimental” war im Englischen ein Neologismus. Wie sollte man es ins Deutsche übertragen? Der bis heute meistgedruckte Übersetzer des Buches, Johann Joachim Christoph [nicht Christian, wie Hörner S. 328 fälschlich schreibt!] Bode (1730-1793), entlehnte hierfür das von Lessing gerade neu gebildete Wort „empfindsam“, das auf kurzem Weg bald zur Bezeichnung einer literarischen Bewegung herhalten durfte. Bodes Übersetzung wurde nicht nur viele Male neu aufgelegt, sondern auch von manchem vorgeblichen Neuübersetzer stillschweigend oder ausdrücklich zugrunde gelegt und lediglich modernisiert, wie Hörner in seiner Auflistung der überaus zahlreichen deutschsprachigen Ausgaben zwischen 1768 und 1963 vermerkt. Auch ich besitze eine solche Bode-Bearbeitung (Lawrence Sterne: Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Übers. v. J. J. Bode. Bearb. u. Nachw. v. Franziska Meister. M. e. Titelill. u. 39 Federzeichn. v. Curth Georg Becker. Hamburg: Dr. Ernst Hauswedell & Co., o. J. [1946]). Sie kann ich gelegentlich zum Vergleich hinzuziehen, denn der Neuübersetzung geht naturgemäß der Ruf voraus, sexuelle Anspielungen des Autors deutlicher werden zu lassen als Bode und seine Zeitgenossen und Nachfolger in einer noch so viel „keuscheren“ Ära – und es könnte durchaus interessant sein, diese Differenz im Einzelfall nachzuvollziehen. Doch darüber ein anderes Mal. Heute will ich mich nur mit der materiellen Ausstattung dieses neuen Buches befassen.

Als in den Jahren 1983 bis 1991 im Zürcher Haffmans-Verlag die Erstausgabe der Walter’schen Tristram-Shandy-Übersetzung erschien, da imitierte diese Ausgabe sogar die Editionsweise des Originals. Jenes wie diese erschienen über einen Zeitraum von acht Jahren in neun Einzelbänden. Nun hätte man auch bei der Sentimental Journey ähnlich verfahren und die beiden ersten Teile des fragmentarisch geblieben Werkes in zwei separaten Bänden erscheinen lassen können, aber dann wäre die Ausgabe vermutlich zu teuer geworden. Was ich nicht bitter genug beklagen kann, ist ein anderer Mangel. Der Nachtwächter Bonaventura hat in einer frühen Blog-Rezension die Ausstattung des Buches gelobt und mit einer Einschränkung als „vollkommen“ bezeichnet. Wie gern würde ich mich diesem Lob anschließen, doch die Einschränkung bedeutet nun einmal das Schlimmste, was man einem Buch überhaupt antun kann: Es ist gelumbeckt!

Was das heißt, habe ich an anderer Stelle bereits einmal deutlich gemacht. Auf alle anderen offensichtlichen Vorzüge des Einbands, die Bonaventura aufzählt, könnte ich dankend verzichten: auf den flexiblen, bedruckten Leineneinband, auf die abgerundeten Ecken und schon erst recht auf das modisch gewordene Lesebändchen, das ohnehin bald ausfranst und schmuddelig wird – wenn das Buch nur fadengeheftet wäre! Manchmal ersehne ich die Zeiten der Interimsbroschur zurück, wo ein fadengeheftetet Buchblock bloß in etwas stärkeres Papier eingeschlagen war. Damit ging man zu einem Buchbinder seiner Wahl und ließ das Buch nach den eigenen Vorstellungen prachtvoll in Leinen, Leder oder Pergament für die Ewigkeit einfassen, ganz nach Gusto und Geldbeutel – und nur dann, wenn der Inhalt diesen Einsatz verlohnte. Dies wäre ja in diesem Falle durchaus angeraten, denn das Buch besticht durch eine exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen und ein informatives, illustriertes Nachwort, wie Bonaventura richtig anmerkt. Desto bedauerlicher, dass es für den entscheidenden Lebensfaden, an dem doch alles hängt, nicht gereicht hat.

Wo bleibt die Initiative zur Rettung der Buchkultur, die sich auf die Fahnen schreibt, das elendigliche Lumbecken wenigstens bei wertvollen Büchern zu bekämpfen und vor allem die Buchkäufer für den kleinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen Lumbeck und Fadenheftung zu sensibilisieren? Sonst werden in hundert Jahren auch die wertvollsten Bücher aus unserer Ära nur noch eines sein: traurige Loseblattsammlungen!

[Titelbild: Federzeichnung v. Curth Georg Becker aus der erwähnten Ausgabe von Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, S. 122.]

Protected: Monte Verità

Thursday, 08. April 2010

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Gleichgewicht des Schreckens

Wednesday, 07. April 2010

trinity

Gestern haben US-Außenministerin Hillary Clinton (*1947) und US-Verteidigungsminister Robert Gates (*1943) ein neues Strategiepapier der Obama-Regierung zum zukünftigen Umgang ihres Landes mit Atomwaffen vorgestellt. Diese 2010 Nuclear Posture Review (NPR) gilt vorläufig für die nächten fünf bis zehn Jahre und wurde allgemein als ein Fortschritt auf dem Weg zu einer globalen atomaren Abrüstung begrüßt, wobei die Meinungen wie üblich auseinandergingen, ob es sich hierbei nun um einen kleinen oder großen Fortschritt handelt.

Ich persönlich musste wieder einmal feststellen, dass mein eigenes Wissen über diese für die Zukunft der Menschheit doch so existenzbestimmende Frage lückenhaft bis falsch ist. Ich hatte bisher nämlich angenommen, dass die USA als freiheitlicher und friedliebender Staat Atomwaffen nur dann einsetzen würden, wenn ein feindlicher Aggressor sie zuvor mit Atomwaffen angegriffen hätte oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorstünde und anders nicht abgewendet werden könnte.

Nun lese ich in dem gestern veröffentlichten Fact Sheet des U. S. Department of Defense Office of Public Affairs: “The United States will not use or threaten to use nuclear weapons against non-nuclear weapons states that are party to the Nuclear Non-Proliferation Treaty (NPT) and in compliance with their nuclear nonproliferation obligations.” Mit anderen Worten: Die USA hätten bisher auch Staaten mit Nuklearwaffen angreifen können, die solche Waffen nicht einmal selbst besitzen, geschweige denn sie gegen die USA zum Einsatz gebracht hätten oder dies wenigstens angedroht hätten. Und auch nach der neuen Selbstverpflichtungs-Erklärung schließen die USA nicht aus, Staaten mit Nuklearwaffen zu attackieren, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben haben, ganz gleich ob diese nun über solche Waffen verfügen oder nicht (#2.1 des Fact Sheet). Zurzeit sind dies allerdings nur die beiden erklärten Atommächte Indien und Pakistan sowie die beiden „vermutlichen“ Atommächte Israel und Nordkorea. Wenn ich es recht verstehe, dann könnten die USA somit selbst nach den fortschrittlichen neuen Regeln ein Atombömbchen auf meine Heimatstadt fallen lassen, wenn Deutschland unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist seine Zugehörigkeit zum Atomwaffensperrvertrag aufkündigen würde.

Aber keine Panik! Schließlich wollen die USA künftig nur unter „extremen Umständen“ und zur „Verteidigung ihrer vitalen Interessen“ zu diesem allerletzten Mittel greifen (#2.2 des Fact Sheet). Was das genau heißen würde, möchte ich mir vorläufig nicht ausmalen. Schließlich gibt es ja Szenarios, mit denen man weitaus wahrscheinlichere Katastrophen heraufbeschwören kann. Da ist z. B. noch immer die ungeklärte Frage, wie die mit Kernkraftwerken bestückten Staaten einen terroristischen Angriff dieser unzureichend gepanzerten Objekte durch gezielte Flugzeugabstürz oder panzerbrechende Waffen verhindern wollen. Fest steht wohl, dass selbst in Deutschland mindestens sieben Reaktoren gegen einen solchen Anschlag nicht ausreichend geschützt sind (Brunsbüttel, Philippsburg 1, Isar 1, Biblis A und B, Neckarwestheim 1 und Unterweser). Wie es im benachbarten Ausland aussieht, etwa in Tschechien oder im mit AKWs geradezu bepflasterten Frankreich? Ich will es lieber gar nicht wissen.

Einerseits soll man auch kleine Fortschritte begrüßen, in einer Welt, die zu Hoffnung so wenig Anlass gibt. Andererseits darf man sich nicht durch solche kleinen Fortschritte darüber hinwegtäuschen lassen, wie weit wir noch immer von einer langfristig stabilen Friedenssicherung auf diesem Planeten entfernt sind.

Hörfunk (IV)

Sunday, 04. April 2010

nightflight

Gute Nachrichten für Alan-Bangs-Fans! Der Deutschlandfunk-Ableger DRadio Wissen hat den Meister der Popmusikansage – welch ein Euphemismus – zur Wiederbelebung seines legendären Nightflight gewinnen können.

In einer Preface-Sendung wurde Bangs von Nail Al Saidi und Julia Rosch in der „Redaktionskonferenz“ am 31. März 2010 zu seiner bewegten Geschichte am Mikrofon befragt. Man merkte dem zuletzt von den Sendern nahezu kaltgestellten Moderator an, wie sehr er den Augenblick dieses Comebacks herbeigesehnt hat. Und ich war erleichtert, ihn hier in alter Frische vernehmen zu können.

Was Bangs sagt, ist niemals nur so dahingesagt – und kommt ihm doch ganz entspannt über die Lippen. Da redet einer, der es nicht nötig hat, mit einem festen Konzept im Kopf durch die Sendung zu marschieren. Ein Gedanke ergibt sich organisch aus dem anderen.

Der Zuhörer wird mal zustimmen, mal anderer Meinung sein, das ist oft genug ja auch eine Frage des (Musik-)Geschmacks. Aber unterhaltsam sind diese nächtlichen Monologe immer gewesen. Das liegt zu einem guten Teil wohl auch daran, dass Bangs getrost darauf verzichten kann, seine Sendezeit mit langweiliger Faktenhuberei und degoutanten Skandalgeschichten zu füllen. In seinen besten Sendungen war die Musik schließlich nur der angenehme Ausgangpunkt für kluge Meditationen über Literatur und Kunst, die Liebe und das Leben, Ängste und Sehnsüchte, Versuchung und Verzweiflung, Glück und Unglück, Irrtum und Erlösung. Und es spricht einiges dafür, dass Bangs an diese schöne Tradition auf dem neuen Nightflight anknüpfen will. So hat er zum Beispiel angekündigt, in einer Sendung seine Begeisterung für Herman Melvilles Bartleby zu bekunden und zu erklären. (Damit rennt er bei mir natürlich offene Türen ein; vgl. meine XXIII. Literarische Soiree). Hoffentlich gewährt man ihm bei diesem Sender und in diesem Format die nötigen Freiräume, um seine unkonventionellen Spaziergänge durch die Popmusikgeschichte und -gegenwart ohne Fußfesseln und Scheren im Kopf unternehmen zu können.

Ab heute und künftig immer sonntags von 23:05 Uhr bis Mitternacht lauschen wir also neugierig bei DRadio Wissen auf Alan Bangs und seinen neuen Nightflight. Ich wünsche guten Start, weiten Flug und sichere Landung und werde hier sicher zu gegebener Zeit meine Meinung über das neue Hörfunk-Highlight kundtun.

[© Titelbild: Umschlagillustration von Lutz Kober zu Alan Bangs: Nightflights. Das Tagebuch eines Dee Jay. Düsseldorf u. Wien: Econ Verlag, 1985.]

Google fünf Jahre verspätet

Friday, 02. April 2010

googleverspaetet

Heute erfreut uns Google wieder einmal mit einem seiner lustigen Rätselbilder, die in unregelmäßigen Abständen die sechs bunten Buchstaben des Firmennamens aus chronikalischem Anlass verschönern.

Zum 2. April 2010 sehen wir also eine dunkelrote Blüte, der ein zwergenhaftes Mädchen im schulterfreien Abendkleid entspringt, zwei weiße Garnrollen und ein Nadelkissen mit sieben Stecknadeln.

Woran soll diese Kinderbuchillustration erinnern? Wenn wir mit dem Mauszeiger über das Bild fahren, werden wir schnell belehrt: „200ster Geburtstag von Hans Christian Andersen“ steht in dem ALT-Tag, das sich dann öffnet [s. Titelbild]. Klickt man auf das Bild, so erscheinen nacheinander noch vier weitere Illustrationen.

Nun weiß ich allerdings genau, dass der 200. Geburtstag des dänischen Märchendichters heute vor genau fünf Jahren gefeiert wurde. Ich selbst habe nämlich am 1. April 2005 eine Literarische Soiree zu seinen Ehren veranstaltet und mit meinen Gästen sozusagen in diesen Geburtstag reingefeiert.

Hans Christian Andersen wurde am 2. April 1805 (nicht 1810!) in Odense geboren, da beißt keine Maus einen Faden von ab. Google ist mit 100 Milliarden Dollar zurzeit die wertvollste Marke der Welt – und sollte nicht in der Lage sein, das korrekte Geburtsjahr eines weltberühmten Märchendichters zu ermitteln? Nun wurden die Andersen-Bilder nicht nur bei Google Deutschland, sondern auf allen Google-Homepages weltweit gezeigt – und natürlich auch bei Google Dänemark! Allerdings ist überall sonst die Datierung im ALT-Tag korrekt: „HC Andersens 205-års fødselsdag“ heißt es z. B. in Dänisch. Bloß die deutschen Google-Betreuer waren so bräsig, das Jubiläum um fünf Jahre abzurunden. Vielleicht mochten sie nicht glauben, dass ein so „unrunder“ Geburtstag wie der 205te solchen Aufwand rechtfertigte.