Archive for March 31st, 2010

Erstlesealter (II)

Wednesday, 31. March 2010

dasroteu

Als im Zeichen des Krebses Geborener des Jahrgangs ’56 war ich zur Einschulung Ostern 1962 noch nicht alte genug. Aber längst war ich begierig darauf, das Lesen zu lernen, damit ich endlich unabhängig würde von meinen Vorlesern, den Eltern und der Großmutter. Anfangs hielt mein Vater dem Drängen noch stand und erbat sich Geduld, denn es hieß nicht ganz zu Unrecht, dass es riskant sei, den Kleinen vor der Einschulung zu viel beizubringen, denn sie könnten sich dann im Unterricht leicht langweilen. Schließlich gab er doch nach und zeichnete eine Tabelle. In der linken Spalte standen in seiner gestochen scharfen Technikerschrift die Druckbuchstaben in der großen und kleinen Version, in der rechten Spalte daneben ein Gegenstand, der mit dem betreffenden Buchstaben anfing: A für Apfel, B für Birne und so weiter bis Z wie Zigarette.

Zunächst kam ich nur quälend langsam voran, aber dann ging es immer besser. Und ehe ich mich’s versah, las ich einfache Texte wie die Bildunterschriften in den beiden dicken Wilhelm-Busch-Bänden nahezu so schnell wie ein Großer, wenngleich mir manches „schwere Wort“ doch noch ein Rätsel blieb.

Wohl zu meinem achten Geburtstag 1964 schenkte mir mein Vater dann meinen ersten richtigen Roman. Es war ein Jugendbuch von Wilhelm Matthießen (1891-1965) mit einem geheimnisvollen Bild auf dem Einband und dem nicht minder geheimnisvollen Titel Das Rote U. Er selbst habe dieses Buch als Junge gelesen und sehr spannend gefunden – und jetzt sei er gespannt, wie es mir wohl gefiele.

Inzwischen weiß ich, dass gerade im besagten Jahr eine überarbeitete Neuauflage dieses Jugendbuch-Klassikers erschienen war, mit neuen, zeitgemäßeren Textzeichnungen von Irene Schreiber. Das Rote U erschien zuerst 1932 im Hermann Schaffstein Verlag in Köln, damals und bis zum 117. Tausend mit dem Titelbild und den Textzeichnungen von Fritz Loehr. Insbesondere die Kleidung auf diesen Bildern, die Schiebermützen und die knielangen Jungenhosen, aber auch die Formen der Autokarosserien und ein Polizist mit Helm entsprachen nicht mehr der Wirklichkeit Anfang der 1960er-Jahre. Anlässlich der Neuausgabe wird der Verlag für das Buch geworben haben, mein Vater erinnerte sich an seine Jugendlektüre – und so fand Das Rote U den Weg in mein Kinderzimmer. Ich war ebenso hingerissen von der Geschichte wie die abertausend Kinder in den dreißig Jahren zuvor. Und die Pointe, dass ausgerechnet der von allen verachtete Klassenprimus Ühl sich hinter dem geheimnisvollen Roten U verbarg, war sozusagen das Ü-Tüpfelchen dieses Krimis.

Dass sich hinter dem Verfasser dieses wunderbaren Lesevergnügens allerdings ein übler Nazi verbarg, ein überzeugter Antisemit und Kirchenhasser, Verfasser solcher Hetzschriften wie Israels Ritualmord an den Völkern und Der zurückbeschnittene Moses (beide 1939), das habe ich erst viel später erfahren und mein Vater wusste es vermutlich auch nicht. Natürlich ist Das Rote U immer noch ein stiller Bestseller, längst auch als Taschenbuch bei DTV verfügbar. Dass auf der Website dieses seriösen Verlages in der ausführlichen Vita die politischen Abwege des Wilhelm Matthießen mit keiner Silbe erwähnt werden, ist schon einigermaßen erstaunlich. Noch kurioser finde ich es aber, dass auf der Website des Schaffstein Verlages Matthießen zwar als einer von sechs Jugendbuch-Autoren aufgelistet wird. Klickt man aber seinen Namen an, so erscheint die Auskunft: „Sie sind nicht berechtigt, diesen Bereich zu sehen. – Sie müssen sich anmelden.“ Wie das mit dem Anmelden funktionieren soll, bleibt aber ein Rätsel. So fordert der allererste Krimi meiner Kindertage mehr als vier Jahrzehnte später erneut meine Neugier und meinen Spürsinn heraus. Wie überaus spannend!

[Zur ersten Folge dieser Serie geht es hier.]

Ich werde immer daran denken

Wednesday, 31. March 2010

timmulrichs

Gestern noch, bei einem weiteren Besuch im Folkwang-Museum, fiel mein Blick vom neuen Eingangsportal über die Alfredstraße auf die zehn paarweise angeordneten Säulen in der kleinen Grünanlage neben dem Glückaufaus, deren Profile im schrägen Anschnitt gleich viele Buchstaben erkennen lassen: vier U, vier M, ein R, ein A. Diese unscheinbare Skulptur steht hier, fast versteckt oder immerhin doch gut getarnt, seit bald zwanzig Jahren. Hätte ich nicht aus verschiedenen Gründen ein besonderes Verhältnis zu ihr und ihrem Schöpfer, dann hätte ich sie auch gestern kaum wahrgenommen. Und selbst mir fiel bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auf, dass die Buchstabenflächen auf den sechs kleineren Säulen heller sind als die auf den hohen. Aus der Distanz von mehr als hundert Metern glaubte ich zunächst, dass dieser Eindruck bloß durch einen zufälligen Schattenfall hervorgerufen worden sei. Oder ist dieser farbliche Unterschied vielmehr auf Witterungseinflüsse zurückzuführen?

Gerade lese ich zufällig in der Zeitung, dass Timm Ulrichs, von dem diese Umraum betitelte Skulptur stammt, heute seinen 70. Geburtstag feiert. Meine erste persönliche Begegnung mit diesem Künstler hätte um ein Haar am Nikolaustag 1972 stattgefunden, denn da trat Ulrichs im großen Saal des Folkwang-Museums auf, im Rahmen der legendären Veranstaltungsreihe Selbstdarstellung, die der damalige Geschäftsführer des Kunstrings Folkwang ins Leben gerufen hatte. Mich hatte wohl wieder einmal ein Migräneanfall aus der Bahn geworfen – und so entging mir dieses Ereignis, von dem mir aber Freunde berichteten. Was ich verpasst hatte, wurde mir spätestens klar, als ich im Jahr darauf den Sammelband mit den Protokollen dieser Reihe in Händen hielt. (Selbstdarstellung. Künstler über sich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Düsseldorf, Droste, 1973; über Timm Ulrichs S. 199-222.)

An Timm Ulrichs bewunderte ich von Anfang an, bewundere ich bis heute dreierlei: erstens seinen Ideenreichtum; zweitens seine Sorgfalt und Konsequenz bei der Verwirklichung; und drittens seinen speziellen, in seinen besten Kunststücken geradezu ontologischen Humor.

Dass er zudem ein überaus kämpferischer, für seine Überzeugungen mit allen Kräften eintretender Haudegen sein kann, das erfuhr ich anlässlich einer Jurysitzung, die ich als Zaungast verfolgen durfte. Beinahe wäre es zu dieser persönlichen Begegnung, 27 Jahre nach der ersten verpassten Gelegenheit, auch wieder nicht gekommen, denn diesmal war Ulrichs krank, lief mit tropfender Nase die präsentierten Bewerbermappen ab und schnäuzte sich alle paar Minuten – nein, nicht in Taschentücher, sondern in Klopapier, das er von einer aus den Toiletten des Hauses stiebitzten Rolle abriss.

Bei der großen Veranstaltung aus Anlass von Werner Ruhnaus 85. Geburtstag im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier traf ich Timm Ulrichs dann am 14. April 2007 wieder, dort entstand auch das Titelfoto. Mit Ruhnau hat Ulrichs ja eins gemeinsam: Beide wollen in der Künstler-Nekropole Kassel beigesetzt werden. Für Timm Ulrichs war jede humane Lebensäußerung, vom Haarwuchs bis zur Sonnenbräune, Inspirationsquelle seiner künstlerischen Tätigkeit, warum sollte also sein Tod da eine Ausnahme machen? Ich frage mich allerdings, ob der Gedenkstein, den er bereits 1969 für seine Grabstelle angefertigt hat, durch die neueren Bestattungspläne seine „Gültigkeit“ verliert? Er trägt die Aufschrift: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Das Spiel mit Paradoxien war schon immer eins der Grundmotive der vergänglichen Kunst von Timm Ulrichs. Und ich werde darum gern immer daran denken, ihn zu vergessen. Aber noch lebt er ja, und hoffentlich lange, denn ich habe zurzeit verdammt viel anderes, das ich mit aller Gewalt vergessen muss.