Archive for March 23rd, 2010

Selbstbeschreibung (II)

Tuesday, 23. March 2010

manuel

Ich bin nun zehn Jahre älter als mein Vater je geworden ist. Das ist eine einigermaßen befremdliche Vorstellung, denn streng genommen folgt ja aus ihr, dass ich nicht mehr zu einem so viel älteren, erfahreneren, weiseren Mann aufblicken müsste, als der er mir erinnerlich ist, wenn ihn eine Zauberhand etwa für einen Tag aus dem Paradies, in dem er unzweifelhaft jetzt wohnt und den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, in unser irdisches Jammertal zurückversetzen würde, sondern im Gegenteil ich diesem vergleichsweise jungen Spund die Welt erklären müsste, die sich in den seit seinem Tod vergangenen gut vierzig Jahren doch nicht wenig verändert hat.

In Sonderheit – welch schönes Wort! – seine Heimatstadt Essen würde ihn durch ihr vielfach gewandeltes Gesicht verblüffen und vielleicht auch erschrecken. Ich höre seine so liebe, so warme Stimme sagen: „Ach, das Hotel Essener Hof gibt es nicht mehr? Und was ist das da für eine Autounterführung vorm Ruhrkohlehaus? Hier stand doch früher die Stern-Brauerei, da roch es immer so unangenehm … und was ist das jetzt für ein Wolkenkratzer? Na, typisch, die Strommafia musste sich ja behaupten. Und diesen Gebäudekomplex nennt ihr also ,Rostlaube‘? Sehr passend. Das soll eine Universität sein? Da kann ich ja nur lachen. Ich jedenfalls würde da nicht studiert haben wollen. Und wo um alles in der Welt ist denn das schöne Althoff-Haus geblieben? Ach nee, Karstadt hieß das ja schon sechs Jahre lang, als ich so plötzlich abtauchen musste, oder besser: weggerissen wurde. Der Limbecker Platz ist jetzt also kein Platz mehr? Sondern ein untertunneltes Kaufzentrum? Sind die Essener den völlig verrückt geworden? Aber immerhin gibt es die Lichtburg ja noch. Gegenüber war Baedeker, wie heißt der Laden jetzt? Und sogar das Filmstudio neben dem Glückaufhaus ist noch da. In diesem Kino haben deine Mutter und ich, neun Monate vor deiner Geburt, den Film mit Spencer Tracy gesehen, von dem du deinen Vornamen hast: Manuel. Ach, lass uns doch mal zur Gruga fahren, wo deine Schwester auf der Rollschuhbahn ihre Kreise zog. Weißt du noch?“

Ja, ich weiß noch. Das war so laaangweilig! Ich bekomme schon Kopfschmerzen, wenn ich bloß daran denke. Und dieses Wehwehchen kann man ruhig Kotzschmerzen nennen, denn es drehte mir zuverlässig den Magen von zuunterst zuoberst. (Doch davon vielleicht später einmal.)

Nun mag man mich fraglos fragen können, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht in Essen, sondern beispielsweise in Hannover groß geworden wäre. Und wenn ich nicht 1956, sondern 1856 oder 1556 erstmals das Licht der Welt erblickt hätte. Und wenn ich nicht als Bub, sondern als Mädchen und nicht bei armen Leuten, sondern in einem wohlhabenden Hausstand und nicht mit kaputten Füßen, sondern kerngesund und nicht als Leuchte, sondern als trübe Funzel unter die Menschen gekommen wäre. Statt als unangepasster Bürger der BRD als angepasster Bürger der DDR? Aber was änderte das schon groß?

Hier stehe ich also, gehe ich also – bin wie ich bin und kann nicht anders.