H. G.

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Immer wieder zieht es mich zu den negativen Kraftzentren meines Denkens zurück, deren es freilich noch einige mehr gibt als die klassische Zwillingsgestalt des Bösen im Zwanzigsten Jahrhundert: Auschwitz und Hirsohima. Wenn ich wie unlängst durch einen unangemessenen Beifall für eine Nichtigkeit aufgeschreckt bin, muss ich geradezu triebhaft in die entgegengesetzte Richtung laufen. So machte ich dieser Tage endlich mit meinem längst gehegten Vorsatz Ernst, mich dem großen Werk von H. G. Adler (1910-1988) anzunähern.

Dieser wahrhaft unentbehrliche Zeitzeuge der Shoah hat in seinem in der dritten Person verfassten Nachruf bei Lebzeiten (1970) zu seinem Vornamen erklärt: „H. G. steht für Hans Günther, dies die Namen zweier jung verstorbener Brüder der Mutter, die alle drei zu verleugnen er nie wünschte, ohne doch noch diese Namen voll zu führen, nachdem Adolf Eichmanns Vertreter für das ,Protektorat Böhmen und Mähren‘ in den Jahren 1939 bis 1945 eben so geheißen hatte.“ (H. G. Adler – Der Wahrheit verpflichtet. Interviews, Gedichte, Essays. Hrsg. v. Jeremy Adler. Gerlingen: Bleicher Verlag, 1998, S. 8.)

H. G. Adler war als Jude seit Anfang 1942 im Ghetto Theresienstadt interniert, wurde im Oktober 1944 für zwei Wochen nach Auschwitz verbracht und sodann bis Kriegsende als Zwangsarbeiter in Buchenwald interniert. Schon in seiner Zeit in Theresienstadt plante Adler, seine Beobachtungen im Lager für die Nachwelt festzuhalten und machte sich erste Notizen zu einer wissenschaftlichen Abhandlung. Die Objektivierung seiner Wahrnehmungen erleichterte ihm nach eigenem Bekenntnis entscheidend das seelische Überleben in der Hölle der Lager. Gleich nach seiner Befreiung machte er sich an die Arbeit und verfasste sein Hauptwerk Theresienstadt 1941-1945 (Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie. Tübingen: Mohr / Siebeck, 1955).

Dieses Buch ist viel mehr als nur ein Buch über das Wesen der Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager, und es leistet auch mehr als die Analyse dieser künftig immer bestehenden Option der Entmündigung, Entwürdigung und Entseelung des Menschen, deren Methoden und Techniken. Es erlaubt, zwar auf sehr schmerzvolle Weise, einen tiefen Blick in die Abgründe der conditio humana, eine sowohl präzise als auch differenzierte Gesamtschau menschlicher und unmenschlicher Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Man lese nur die Kurzbeschreibungen der 14 „Charaktere nach Typen“, die der hellsichtige Beobachter H. G. Adler, „bei allen Vorbehalten gegen schemtische Einteilungen“, in Theresienstadt unterscheiden konnte: „Gebrochene, Ängstliche, Betäubte, Gedankenlose, Pessimisten, Realisten, Optimisten, Illusionisten, Aktive, Brutale, Opportunisten, Willensstarke, Helfer, Gütige.“ (H. G. Adler: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. M. e. Nachw. v. Jeremy Adler. Göttingen: Wallstein Verlag, 2005, S. 669 ff.)

In seinem bereits erwähnten Nachruf bei Lebzeiten beklagte sich Adler unverhohlen darüber, dass ein beträchtlicher Teil seines Werkes, gerade viele erzählende Schriften und die meisten seiner zahllosen Gedichte, trotz seiner hartnäckigen Bemühungen um einen Verlag unveröffentlicht geblieben waren. Dies war auch unmittelbar vor seinem Tod nicht anders, als Jürgen Serke „die Mißachtung dieses universalen Geistes“ einen Skandal nannte, „für den die deutschen Verlage verantwortlich zeichnen. Ein Skandal, in dem die anerkannten Größen der Nachkriegsliteratur, die immer wieder auf Adlers künstlerische Einzigartigkeit hingewiesen haben, wie Dummköpfe dastehen […].“ (Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien / Hamburg: Paul Zsolnay Verlag, 1987, S. 327.) Immerhin erschien zwei Jahre später der Roman Die unsichtbare Wand aus dem Nachlass, der 35 Jahre auf diese Veröffentlichung gewartet hatte. – Ich werde in näherer Zukunft einige Lesezeit darauf verwenden, H. G. Adler genauer kennenzulernen. Und ich werde über diese Begegnung gelegentlich hier berichten.

[Titelbild: H. G. Adler 1969; aus: Serke, a. a. O., S. 343.]