Abwege (I)

skyfishing

In diesen unfreundlichen Wintertagen, da man keine schlafenden Hunde weckt, um sie vor die Tür zu jagen, möchte ich dennoch dem Flanieren nicht ganz entsagen und muss ja auch keineswegs auf meine geliebte Streunerei verzichten. Dank Internet kann ich schließlich, ohne mir Frostbeulen zuzuziehen oder über Nässe zu klagen, in der warmen Stube das weltumspannende Datennetz nach geheimen Zusammenhängen durchstöbern. An jedem Satzende bietet sich mir dabei die Möglichkeit, verschiedene Richtungen einzuschlagen. Hier zum Beispiel könnte ich nun über unfreiwillige Reime in Prosatexten nachdenken. Welche Beispiele gibt es dazu etwa bei Swift, Wieland oder Balzac? Bilde ich mir das nur ein, oder hat sich lange vor mir jemand mit genau diesem abwegigen philologischen Gegenstand befasst? Wie googelt man nach solch einer Abstrusität?

Das Abzweigen unterwegs ist ja ein leichtes Unterfangen, wenngleich es nicht selten in Irren führt, aber gerade Irrtümer bieten ja oft genug Gelegenheiten zu unverhofften Einsichten. Viel mühevoller gestaltet sich meist das Aufbrechen. Der erste Schritt ist ein erbarmungsloser Knochenjob, wovon nicht nur die Morgenmuffel unter den Schreibknechten ein Klageliedchen zu singen haben. Darum verwahre ich in der langschwänzigen Lesezeichenliste meines Browsers allerlei Appetizer, die mir den Schlaf aus den Augen treiben sollen.

Heute früh zum Beispiel stöberte ich zur Abwechslung wieder einmal in Letters of Note, dem traumhaften Briefe-Blog von Shaun Usher. Unterm 13. Oktober 2009 entdeckte ich dort das seltsame Briefkunst-Event eines Künstlers aus Albany (NY), der Anfang der 1970er-Jahre rund 500 prominente und weniger prominente Leute um ihre Beteiligung an dieser skymail genannten Aktion bat. G. C. Haymes schrieb: „guten morgen, hiermit werden sie eingeladen, sich an skymail zu beteiligen (erstes event). skymail ist ein künstlerisches event, bei welchem ausgewählte künstler aus verschiedenen bereichen eingeladen sind, den himmel zu beschreiben. ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn sie sich die zeit nähmen, die beigefügte karte auszufüllen & in einen briefkasten zu werfen (das porto wurde vorausbezahlt). – ich suche momentan einen schauplatz für das event. sie werden über den zeitpunkt & ort der ausstellung unterrichtet. – ich danke ihnen vielmals. – genießen sie den himmel – g c haymes – koordinator skymail (erstes event)“. [Übers. a. d. Am. v. M. H.] Auf der Website von Haymes ist dokumentiert, wer die annähernd 500 bedeutenden Leute waren, die zu dieser großangelegten Himmelsbeschreibung eingeladen wurden – und man kann dort alle 28 Antworten nachlesen, die über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren in Albany eingingen, unter ihnen immerhin auch welche von Sam Peckinpah, Gary Snyder und John Cage! Shaun Usher hat lediglich zwei Antwortkarten ausgewählt: eine sehr bemühte vom weltbekannten Science-Fiction-Schreiber Isaac Asimov und eine überaus unfreundliche von Jerzy Kosiński, ohne Unterschrift  und mit folgendem Wortlaut: „Imbezillogramm – Lieber Idiot: Hast Du nicht irgendwas Besseres zu tun? Der Himmel ist tatsächlich eine Grenze für anmaßende Idioten wie Dich.“ [Übers. a. d. Am. v. M. H.]

Wer war noch mal dieser Jerzy Kosiński (1933-1981)? Und wo ist er mir, vor vielen Jahren, erstmals über den Weg gelaufen? Ich las den englischsprachigen Wikipedia-Artikel über ihn und verfing mich in allerlei merkwürdigen Abwegigkeiten seiner Vita. So fällt auf sein dem Vernehmen nach bestes Werk, den autobiographischen Roman The Painted Bird, insofern ein Schatten, als Kosiński darin schildert, wie er als kleiner Judenjunge im besetzen Polen vor den Deutschen über die Dörfer floh und zahlreiche Abenteuer erlebte. Tatsächlich aber kam er während der ganzen Zeit der Nazi-Okkupation bei polnischen Katholiken unter und überlebte dank eines gefälschten Taufzeugnisses. Seine späteren Romane wiesen dermaßen auffällige Stilunterschiede auf, dass Kritiker nicht glauben wollten, diese Werke könnten aus ein und derselben Feder stammen. Die Plagiatsvorwürfe gegen ihn wollten bis zu seinem gewaltsamen Tod nicht verstummen. Am polnischen Nationalfeiertag, dem 3. Mai 1991 legte sich Jerzy Kosiński in seinem Appartement in der West 57th Street in Manhattan in die Badewanne, nahm eine tödliche Dosis Barbiturate und zog sich sicherheitshalber noch eine Plastiktüte über den Kopf. Seine zweite Ehefrau, Katherina „Kiki“ von Fraunhofer, fand am nächsten Tag neben der Leiche einen Zettel mit einer kurzen Nachricht ihres Gatten: “I am going to put myself to sleep now for a bit longer than usual. Call it Eternity.” Was hatte er da bloß getan? Etwas Besseres als den Himmel zu beschreiben?

Und jetzt weiß ich auch wieder, wo mir der polnisch-amerikanische Schriftsteller zum ersten Mal begegnete: in Ed Sanders‘ Buch über die Manson-Morde! Um ein Haar wäre Jerzy Kosiński nämlich bereits schon viel früher, in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 in Los Angeles (CA), eines gewaltsamen Todes gestorben, damals aber nicht von eigener Hand. „Der Romancier Jerzy Kosinski und seine Frau sollten am 7. August in der Polanski-Villa in Los Angeles eintreffen; sie wollten dort bis zu Romans Rückkehr [aus Polen] zu seinem Geburtstag [am 18. August] und bis zur Ankunft von Sharons Baby bleiben. Doch Kosinskis Gepäck war auf dem Weg von Europa nach New York verlorengegangen, und anstatt gleich nach Los Angeles zu fliegen, blieben sie in New York und warteten dort auf ihre Koffer. Das hat ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet […].“ (Ed Sanders: The Family. Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy-Streitmacht. A. d. Am. v. Edwin Ortmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1972, S. 230.)