Archive for December 29th, 2009

Hilde Stieler (II)

Tuesday, 29. December 2009

strandnixe

Zu Hans Siemsen haben mir die jüngst erschienenen Lebenserinnerungen von Hilde Stieler (1879-1965) kaum neue Einsichten gebracht. Immerhin habe ich das Buch mit einigem Interesse gelesen, weil es mit „Herzblut“ geschrieben ist – nämlich mit der Leidenschaftlichkeit einer teils glücklich, teils unglücklich liebenden Frau. Allerdings enttäuschte es meine Erwartungen auch noch in einer weiteren Hinsicht, hatte ich mir doch lebendige Charakterbilder der zahllosen deutschen Emigranten in Sanary-sur-Mer erhofft, im günstigsten Fall auch tiefere Einblicke in die sozialen Netzwerke unterm Druck der drohenden Zwangs-Repatriierung, KZ-Internierung, gar Vernichtung. Aber so lang die Namenliste der erwähnten Flüchtlinge im Register auch ist, nach den erhofften Porträts sucht man vergeblich.

Der Herausgeber Manfred Flügge reproduziert im Anhang des Buches die bekannte Gedenktafel in Sanary-sur-Mer, auf der die Namen von 36 prominenten deutschen und österreichischen Schriftstellern verewigt sind, die dort Zuflucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft suchten und für eine Weile auch fanden. Von diesen Exilanten kommen bei Hilde Stieler nur Lion Feuchtwanger, die Familie Mann, das Ehepaar Werfel, Annette Kolb und Julius Meier-Graefe vor, und selbst diese wenigen werden gleichsam nur en passant erwähnt.

Flügge, der unter anderem auch als Verfasser der ersten, viel beachteten Marta-Feuchtwanger-Biographie hervorgetreten ist, kommt in seinem Nachwort auf diesen beklagenswerten Mangel auch kurz zu sprechen: „Warum die Feuchtwangers praktisch nicht vorkommen, insbesondere Marta Feuchtwanger nicht, die mit Hilde Stieler im Mai 1940 in Hyères interniert war, ist rätselhaft und mag mit Animositäten erklärt werden, vielleicht aber auch damit, dass Stieler und Klossowski doch relativ isoliert lebten, was vor allem seinem Temperament entsprach.“ (Manfred Flügge: Nur eine Freundin bedeutender Leute? Anmerkungen zu Hilde Stieler; in: Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. A. d. Frz. u. hrsg. v. dems. Berlin: AvivA Verlag, 2009, S. 311.)

Übrigens weckt auch der deutsche Titel des Buches, das im Original Les confessions d’Annouchka überschrieben ist, insofern falsche Erwartungen, als nur der zweite Teil, Auf nach Frankreich!, die Zeit in der Emigration behandelt; und nimmt man die Zeit in Sanary in den Blick, dann bleiben gar bloß gut hundert Seiten übrig. Als „Edelkomparsin“, also als Filmstatistin in der Rolle einer Dame der besseren Gesellschaft, ist Hilde Stieler nach eigenem Bekenntnis nur wenige Male vor die Kamera getreten, und das war in ihrer Münchener Zeit, lange vor Sanary. (Vgl. ebd., S. 137 ff.) Zu diesen Irritationen kommt dann noch die fesche Dame auf dem Titelbild, bei deren Anblick man eher an Rimini 1952 als als Sanary 1932 denkt und die mit der Autorin so gar keine Ähnlichkeit hat. Da drängt sich schon die Frage auf, welche Leserschaft das Buch in solcher Verpackung eigentlich ansprechen will.

Der Berliner AvivA-Verlag, 1997 von der Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Britta Jürgs gegründet, hat sich nach eigenem Bekenntnis vorgenommen, Porträts und Biografien zu Frauen aus Kunst- und Kulturgeschichte verschiedener Epochen neu aufzulegen, die trotz herausragender und innovativer Arbeiten zu Unrecht in Vergessenheit gerieten: „AvivA-Bücher erweitern die Weltkarte im Kopf um herausragende Frauen in Kunst und Literatur.“ Ich muss gestehen, dass ich gar keine Weltkarte im Kopf habe, dafür allerdings ein durch dreißig Jahre kritischer Lektüre geschärftes Urteilsvermögen. Und das sagt mir in diesem speziellen Fall, dass die Edelkomparsin Hilde Stieler nicht ganz zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Auf der Gedenktafel in Sanary-sur-Mer, neben Namen wie Joseph Roth, Arthur Koestler und Franz Hessel, hat der ihre jedenfalls nichts zu suchen.

[Titelbild: Umschlagfoto des besprochenen Buches aus dem AvivA-Verlag Berlin © H. Armstrong Roberts / Classic Stock / Corbig. – Umschlaggestaltung Britta Jürgs.]

Hilde Stieler (I)

Tuesday, 29. December 2009

liegestuhl

Allzu oft kommt es nicht mehr vor, gut sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die komplette Autobiographie eines Zeitzeugen aus der kulturellen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Manuskript entdeckt wird, aus einem entlegenen Archiv oder Nachlass plötzlich ans Licht kommt. Zudem wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob das dort Mitgeteilte verlässlich den sonst bekannten Tatsachen entspricht – und ob es dem gesicherten Wissen dieser Epoche neue, wesentliche Einsichten hinzuzufügen vermag. In der Welt meldete der Literaturwissenschaftler Manfred Flügge vor zweieinhalb Jahren einen solchen Fund: „Im Archiv der Stadt Sanary fand sich vor wenigen Wochen ein nachgelassenes Manuskript von Hilde Stieler. Dieser Lebensroman in französischer Sprache, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umspannt, nennt sich Les confessions d’Annouchka; auf den 320 Seiten sind die Namen nur leicht verschlüsselt. Es geht nicht nur um alle Mitglieder der Familie Klossowski [den Schriftsteller Pierre, dessen Bruder, den Maler Balthasar, gen. Balthus, und deren Vater Erich Klossowski, langjähriger Lebensgefährte der Autorin], auch viele Berühmtheiten kommen vor, Walter Rathenau, Stefan George, Einstein, die Brüder Mann, Renée Sintenis, Bertha Zuckerkandl, die junge Alma Mahler und der junge Franz Werfel […] und immer wieder Rilke. Wir erfahren auch einiges über das Leben der Künstlerszene in Sanary[-sur-Mer an der Côte d’Azur], zu der auch der englische Autor Aldous Huxley gehörte sowie eine junge Deutsche, die später als die englische Autorin Sibylle Bedford berühmt wurde.“ (Manfred Flügge: Balthus’ vergessener Vater; in: Welt online v. 22. August 2007.)

Schon im Rahmen meiner Hans-Siemsen-Recherchen mussten mich diese Memoiren in romanhafter Form interessieren, zumal es sehr wahrscheinlich zu einem Zusammentreffen Siemsens mit Hilde Stieler gekommen sein dürfte, denn „[Erich] Klossowski und [Hilde] Stieler lebten, malten und schrieben im „L’Enclos“, dem Privathaus der Familie Jean Cavet, einem verwunschenen Ort mit Büschen und Bäumen und einem ummauerten Park, damals am östlichen Stadtrand gelegen und mit Ausblick ins Hinterland, heute wie eine Insel im kleinen Häusermeer.“ (Flügge, l. c.) In eben dieser Wohnanlage hatten auch Hans Siemsen und sein Geliebter Walter Dickhaut vorübergehend Unterkunft gefunden, wie ich von Prof. Gernot Lucas (Konstanz), einem regelmäßigen Besucher von Sanary-sur-Mer, erfahren hatte. Mittlerweile ist das Buch in deutscher Übersetzung erschienen – und ein Blick in den Namensindex bringt die Enttäuschung: Siemsen kommt nicht drin vor. (Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. Übers. [a. d. Frz.] u. hrsg. v. Manfred Flügge. Berlin: AvivA Verlag, 2009.)

Immerhin schildert Stieler, wie sie die Herberge bei der Familie Cavet Anfang der 1930er-Jahre für sich und Klossowski anmietete: „Sehr schnell fand ich etwas Passendes: drei Zimmer in der hübschen kleinen Villa de l’Enclos, mitten im Ort und nicht weit vom Meer gelegen. Klossowski hatte dort eine Art Atelier, das heißt ein recht großes Zimmer im ersten Stock, während sich mein ,Reich‘, Schlafzimmer mit Küche, im Erdgeschoss befand. Meist kam Klossowski nur zum Essen herunter und nachts stieg ich manchmal zu ihm hinauf. Dieses Leben war ganz nach unserem Geschmack, denn trotz unserer Liebesfreundschaft brauchten wir beide eine gewisse Unabhängigkeit, vor allem für unsere Arbeit.“ (Ebd., S. 197.) – Und in ihrem Tagebuch vom Sommer 1944 schreibt Stieler unterm Datum vom 24. August: „Der sympathische Besitzer der Villa de l’Enclos [Jean Cavet] wird zum Bürgermeister von Sanary gewählt. Robert [Henri de Witt, Stielers zweiter Ehemann] will ihm unsere Heirat melden und man wird das Aufgebot veröffentlichen. Das Bürgermeisteramt nimmt mich unter seinen Schutz.“ (Ebd., S. 283.)

Etwas interessanter ist, was Manfred Flügge in seinem Nachwort über die Villa de l’Enclos berichtet. Da Erich Klossowski im Gegensatz zu seinen berühmten Söhnen heute nahezu vergessen ist, befragte er die noch lebenden Zeitzeugen vor Ort: „Marcelle und Louis Cavet erinnerten sich daran, dass er ein sehr diskreter Mensch war, meist schwarz gekleidet, mit einem Seidentuch um den Hals. Er lebte in der Villa de l’Enclos wie in einem Märchenhaus, begierig auf Zeitungen, oder er saß in der Küchenecke vor dem Radio und hörte Nachrichten. Das Anwesen ist ein wahrhaft magischer Ort, ein dreieckiger Park hinter Mauern, mit vielen Büschen und Bäumen, die das zweistöckige Landhaus fast verdecken, aber schattige Plätze schaffen, damals am Rande des Ortes, mit Ausblick aufs Hinterland, in dem sofort die Felder begannen. […] Nur wenige hundert Meter entfernt warfen die Alliierten 1944 Bomben ab. Ein ganzes Viertel des Nachbarortes Six-Fours wurde dabei zerstört. Die Bucht war von den Deutschen stark befestigt worden und wurde hart umkämpft. Ein Wunder, dass sich die Zerstörungen in Sanary selbst in Grenzen hielten.“ (Ebd., S. 311.) Da weilte Hans Siemsen längst nicht mehr in Sanary. Er verließ den Ort gemeinsam mit Walter Dickhaut Anfang 1941 und entkam über Marseille und Lissabon nach New York. Es würde sich wohl lohnen, selbst einmal an die Côte d’Azur zu fahren und die auskunftfreudigen Geschwister Cavet zu Siemsen zu befragen. Aber erstens spreche ich kein Französisch, zweitens fehlen mir für eine solche Auslandsreise die Mittel und drittens lehne ich Fahrten in solche Ferne, gleich ob per Auto, Flugzeug oder Bahn, prinzipiell ab, wenn sie nicht absolut unvermeidbar sind.

Da ich Die Edelkomparsin von Sanary nun schon einmal gelesen habe, werde ich eine ausführliche Würdigung des Buches einem zweiten Beitrag unter diesem Titel vorbehalten.

[Das Titelbild ist dem besprochenen Band (S. 196) entnommen. Es zeigt Erich Klossowski vor der Villa de’Enclos. Foto: Hilde Stieler. Privatarchiv Manfred Flügge.]