Sarrazin bei Lettre

Neulich hat irgendein Denkwanst in seinem Pfuijetöngchen gefaselt, das für Empörung sorgende Sarrazin-Interview sei ja „übrigens“ nicht in der seriösen Weltpresse, sondern in irgendeiner exotischen Literaturzeitschrift erschienen, die kaum ein Mensch liest. Ich kann aus dem Gedächtnis nicht mehr rekonstruieren, was der brave Mann damit eigentlich beweisen wollte. Dass ein Blatt von Rang solch hetzerische Ergüsse nie und nimmer verbreitet hätte? Dass ein Blatt mit Stil den Erzeuger dieser Entgleisungen vor sich selbst geschützt und den Abdruck vornehm lächelnd abgeleht hätte? Oder gar, dass an der wortwörtlichen Authentizität der Sarrazinschen Aussagen zu zweifeln sei, weil dieses entlegene Periodikum keine über jeden Zweifel erhabene Provenienz bedeute? (Na, letzteres wohl kaum, denn man hat meines Wissens nicht davon gehört, dass sich das immer noch amtierende Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank nur von einem Jota seiner Einlassungen distanziert hätte. Warum auch? Dieser Mann meint was er sagt. Darum lohnt es sich, ihn zu interviewen. Es werden ja viel zu viele Windbeutel ausgefragt, die kaum was zu sagen haben und dieses wenige noch nicht mal wirklich ernst meinen. Doch das bloß am Rande.)

Die Zeitschrift Lettre International, deren Name durch ein paar griffige und für viele Menschen in diesem unserem weichgespülten Lande provozierende Sätze Sarrazins kurzzeitig in jene Massenmedien geriet, zu denen sie nun selbst so gar nicht gehört, hat von diesem Strohfeuer leider wenig gehabt, weil das Blutblatt am anderen Ende der Erfolgsleiter, die Bildzeitung, dreist genug war, ungefragt nahezu das komplette Interview, das Lettre-Herausgeber Frank Berberich geführt hatte, bei Bild online kostenlos zugänglich zu machen. Daraufhin trafen sich Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und Berberichs Anwalt Johannes „Jony“ Eisenberg vorm Landgericht Berlin wieder. Ich könnte jetzt an diesem „Fall Sarrazin“ und seinen Folgen in den Medien und Gerichtssälen unserer Republik wieder einmal exemplifizieren, wie weit unsere „Offene Gesellschaft“ (Karl Popper) mittlerweile, zumindest in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung, zu einem Marionettentheater verkommen ist: Der Bild-Boss ist nebenbei taz-Gesellschafter und führt auf seinem Blog das Inventar seiner „Überzeugungen“ per Panoramakameraschwenk durch sein Chefbüro vor. Die taz schmeißt Geld für ein mehrstöckiges Wandbild zum Fenster raus, das sich mit Diekmanns bestem Stück befasst. Da ließe sich doch was draus machen. Aber warum sollte ich? Da für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Intelligenz hierzulande dieses Theater offenbar immer noch einen gewissen Unterhaltungswert hat, will ich nicht den Spielverderber spielen – zumal dieser nicht unbeträchtliche Teil ohnehin keinen Anteil nimmt an dem, was ich hier mache. Und das ist auch gut so!

Wie gut meine vornehme Zurückhaltung mir steht, das kann man zum Beispiel ex negativo dem reichlich unglücklichen Bild ablesen, das Berberich vom Lettre bot, als er nicht so recht wusste, ob er Bild verklagen oder dankbar sein sollte für die nie zuvor genossene Prominenz, die ihm das Boulevardblatt für ein paar Tage verschaffte. Noch schlimmer: Er verdankte es genau den ungebärdigsten und unkorrektesten Äußerungen von Sarrazin, wenn eine riesige Zahl von Lesern zum ersten Mal bewusst wahrnahm, dass es eine Zeitschrift namens Lettre gibt – und zwar bereits seit einem Vierteljahrhundert. Worüber aber beschwert sich Berberich in den Interviews, die er zwei Berliner Gazetten (V. i. S. d. P. und tip) gegeben hat? Erstens darüber, dass der „viel umfassendere Kontext“ nicht gewürdigt wurde, in dem das Sarrazin-Interview erschien: „Das Interview war nur ein Text von insgesamt mehr als vierzig.“ Zweitens darüber, dass sich selbst die Redakteure der Berliner Rundfunksender nur mit dem sattsam bekannten halben Dutzend inkriminierter „Stellen“ befassen wollten und sich weigerten, das Interview in Gänze zur Kenntnis zu nehmen. Drittens, dass ihn Bild online bestohlen hat, indem dort das Interview aus Lettre eingescannt und ohne Einwilligung komplett veröffentlicht wurde. Viertens die Doppelmoral und Heuchelei von Bild, wenn Sarrazins Äußerungen einerseits als übelster Rassismus bezeichnet und diese Äußerungen dann zitatweise über Bild online verbreitet werden, um den Traffic auf die Springer-Website zu erhöhen. Fünftens, dass sich an diesem Vorgang zeigt, wie die Alphabetisierung von Journalisten rapide abnimmt und stattdessen in den Redaktionen nicht nur der Revolverblätter reflexhaft drauf los skandalisiert wird, koste es was es wolle.

All diese fünf unbestreitbaren Tatsachen können mich nicht überraschen; bestätigen meine Sicht der Dinge, die dessen nicht bedarf; sind so aufregend wie die Nachricht, dass man im Regen nass wird.

Klar, manche konkreten Beispiele haben immer wieder einen gewissen Reiz. Ein Beispiel. Sarrazin hatte wörtlich gesagt: Eine große Zahl von Türken hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.“ Dazu fällt dem Magazin stern – das es tatsächlich immer noch gibt, wie ich bei dieser Gelegenheit erfahre – folgendes ein: „Was Sarrazin ausgerechnet gegen die Obst- und Gemüsehändler hat, ist schleierhaft.“ (Ich hoffe, dass mein Leser zu würdigen weiß, wie ich in einem solchen Nullsummenspiel doch noch auf meinen kleinen Profit komme.)