Archive for December, 2009

Kaffeesatz

Thursday, 31. December 2009

kaffeesatz

Ein Blick in die Zukunft zum Jahreswechsel. Dass ich das kommende Jahr überlebe, scheint mir heute wenig wahrscheinlich. Ich habe da so ein unbestimmtes Vernichtungsgefühl. Vielleicht geht das vielen anderen Menschen ähnlich? So wie sie aussehen, möchte man’s nicht rundweg in Abrede stellen. Mundwinkel, die aufwärts weisen, werden immer rarer.

Am letzten Tag der Nullerjahre verspricht uns die Bundesregierung, alles zu tun, um Wachstum zu schaffen, wie ich gerade in den Nachrichten höre. Sie bemüht sich also darum, den Motor der Klimaschädigung auf noch höhere Touren zu bringen. Der Gipfel in Kopenhagen war ein Desaster? Na, dann wenden wir uns wieder der Arbeitsmarktpolitik zu!

Wir kommen zum Sport. Schumi sitzt bald wieder hinterm Steuer, Deutschland atmet auf. Wenn er dann mal alt in seinem Liegestuhl rumschaukelt, dann wird die Welt eine andere sein. Oder wenn er in seinem Schaukelstuhl rumliegt? Aber egal.

Wir kommen zum Wetter. Der Jahreszeit entsprechend trüb, feucht, kalt, deprimierend. Es kann nur besser werden. Doch ist das überhaupt noch ein Thema? Alle reden vom Wetter, wir nicht. Wir reden ab sofort nur noch vom Klima. Man sagt dann künftig nicht mehr: Scheißwetter wieder heute! Sondern: Scheißklima wieder heuer!

Und zuletzt die Lottozahlen für Zweitausendzehn: zwölf, dreiundzwanzig, neunundzwanzig, fünfunddreißig, dreiundvierzig, siebenundvierzig. Zusatzzahl: zwei. Superzahl: sieben.

Hilde Stieler (II)

Tuesday, 29. December 2009

strandnixe

Zu Hans Siemsen haben mir die jüngst erschienenen Lebenserinnerungen von Hilde Stieler (1879-1965) kaum neue Einsichten gebracht. Immerhin habe ich das Buch mit einigem Interesse gelesen, weil es mit „Herzblut“ geschrieben ist – nämlich mit der Leidenschaftlichkeit einer teils glücklich, teils unglücklich liebenden Frau. Allerdings enttäuschte es meine Erwartungen auch noch in einer weiteren Hinsicht, hatte ich mir doch lebendige Charakterbilder der zahllosen deutschen Emigranten in Sanary-sur-Mer erhofft, im günstigsten Fall auch tiefere Einblicke in die sozialen Netzwerke unterm Druck der drohenden Zwangs-Repatriierung, KZ-Internierung, gar Vernichtung. Aber so lang die Namenliste der erwähnten Flüchtlinge im Register auch ist, nach den erhofften Porträts sucht man vergeblich.

Der Herausgeber Manfred Flügge reproduziert im Anhang des Buches die bekannte Gedenktafel in Sanary-sur-Mer, auf der die Namen von 36 prominenten deutschen und österreichischen Schriftstellern verewigt sind, die dort Zuflucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft suchten und für eine Weile auch fanden. Von diesen Exilanten kommen bei Hilde Stieler nur Lion Feuchtwanger, die Familie Mann, das Ehepaar Werfel, Annette Kolb und Julius Meier-Graefe vor, und selbst diese wenigen werden gleichsam nur en passant erwähnt.

Flügge, der unter anderem auch als Verfasser der ersten, viel beachteten Marta-Feuchtwanger-Biographie hervorgetreten ist, kommt in seinem Nachwort auf diesen beklagenswerten Mangel auch kurz zu sprechen: „Warum die Feuchtwangers praktisch nicht vorkommen, insbesondere Marta Feuchtwanger nicht, die mit Hilde Stieler im Mai 1940 in Hyères interniert war, ist rätselhaft und mag mit Animositäten erklärt werden, vielleicht aber auch damit, dass Stieler und Klossowski doch relativ isoliert lebten, was vor allem seinem Temperament entsprach.“ (Manfred Flügge: Nur eine Freundin bedeutender Leute? Anmerkungen zu Hilde Stieler; in: Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. A. d. Frz. u. hrsg. v. dems. Berlin: AvivA Verlag, 2009, S. 311.)

Übrigens weckt auch der deutsche Titel des Buches, das im Original Les confessions d’Annouchka überschrieben ist, insofern falsche Erwartungen, als nur der zweite Teil, Auf nach Frankreich!, die Zeit in der Emigration behandelt; und nimmt man die Zeit in Sanary in den Blick, dann bleiben gar bloß gut hundert Seiten übrig. Als „Edelkomparsin“, also als Filmstatistin in der Rolle einer Dame der besseren Gesellschaft, ist Hilde Stieler nach eigenem Bekenntnis nur wenige Male vor die Kamera getreten, und das war in ihrer Münchener Zeit, lange vor Sanary. (Vgl. ebd., S. 137 ff.) Zu diesen Irritationen kommt dann noch die fesche Dame auf dem Titelbild, bei deren Anblick man eher an Rimini 1952 als als Sanary 1932 denkt und die mit der Autorin so gar keine Ähnlichkeit hat. Da drängt sich schon die Frage auf, welche Leserschaft das Buch in solcher Verpackung eigentlich ansprechen will.

Der Berliner AvivA-Verlag, 1997 von der Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Britta Jürgs gegründet, hat sich nach eigenem Bekenntnis vorgenommen, Porträts und Biografien zu Frauen aus Kunst- und Kulturgeschichte verschiedener Epochen neu aufzulegen, die trotz herausragender und innovativer Arbeiten zu Unrecht in Vergessenheit gerieten: „AvivA-Bücher erweitern die Weltkarte im Kopf um herausragende Frauen in Kunst und Literatur.“ Ich muss gestehen, dass ich gar keine Weltkarte im Kopf habe, dafür allerdings ein durch dreißig Jahre kritischer Lektüre geschärftes Urteilsvermögen. Und das sagt mir in diesem speziellen Fall, dass die Edelkomparsin Hilde Stieler nicht ganz zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Auf der Gedenktafel in Sanary-sur-Mer, neben Namen wie Joseph Roth, Arthur Koestler und Franz Hessel, hat der ihre jedenfalls nichts zu suchen.

[Titelbild: Umschlagfoto des besprochenen Buches aus dem AvivA-Verlag Berlin © H. Armstrong Roberts / Classic Stock / Corbig. – Umschlaggestaltung Britta Jürgs.]

Hilde Stieler (I)

Tuesday, 29. December 2009

liegestuhl

Allzu oft kommt es nicht mehr vor, gut sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die komplette Autobiographie eines Zeitzeugen aus der kulturellen Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Manuskript entdeckt wird, aus einem entlegenen Archiv oder Nachlass plötzlich ans Licht kommt. Zudem wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob das dort Mitgeteilte verlässlich den sonst bekannten Tatsachen entspricht – und ob es dem gesicherten Wissen dieser Epoche neue, wesentliche Einsichten hinzuzufügen vermag. In der Welt meldete der Literaturwissenschaftler Manfred Flügge vor zweieinhalb Jahren einen solchen Fund: „Im Archiv der Stadt Sanary fand sich vor wenigen Wochen ein nachgelassenes Manuskript von Hilde Stieler. Dieser Lebensroman in französischer Sprache, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umspannt, nennt sich Les confessions d’Annouchka; auf den 320 Seiten sind die Namen nur leicht verschlüsselt. Es geht nicht nur um alle Mitglieder der Familie Klossowski [den Schriftsteller Pierre, dessen Bruder, den Maler Balthasar, gen. Balthus, und deren Vater Erich Klossowski, langjähriger Lebensgefährte der Autorin], auch viele Berühmtheiten kommen vor, Walter Rathenau, Stefan George, Einstein, die Brüder Mann, Renée Sintenis, Bertha Zuckerkandl, die junge Alma Mahler und der junge Franz Werfel […] und immer wieder Rilke. Wir erfahren auch einiges über das Leben der Künstlerszene in Sanary[-sur-Mer an der Côte d’Azur], zu der auch der englische Autor Aldous Huxley gehörte sowie eine junge Deutsche, die später als die englische Autorin Sibylle Bedford berühmt wurde.“ (Manfred Flügge: Balthus’ vergessener Vater; in: Welt online v. 22. August 2007.)

Schon im Rahmen meiner Hans-Siemsen-Recherchen mussten mich diese Memoiren in romanhafter Form interessieren, zumal es sehr wahrscheinlich zu einem Zusammentreffen Siemsens mit Hilde Stieler gekommen sein dürfte, denn „[Erich] Klossowski und [Hilde] Stieler lebten, malten und schrieben im „L’Enclos“, dem Privathaus der Familie Jean Cavet, einem verwunschenen Ort mit Büschen und Bäumen und einem ummauerten Park, damals am östlichen Stadtrand gelegen und mit Ausblick ins Hinterland, heute wie eine Insel im kleinen Häusermeer.“ (Flügge, l. c.) In eben dieser Wohnanlage hatten auch Hans Siemsen und sein Geliebter Walter Dickhaut vorübergehend Unterkunft gefunden, wie ich von Prof. Gernot Lucas (Konstanz), einem regelmäßigen Besucher von Sanary-sur-Mer, erfahren hatte. Mittlerweile ist das Buch in deutscher Übersetzung erschienen – und ein Blick in den Namensindex bringt die Enttäuschung: Siemsen kommt nicht drin vor. (Hilde Stieler: Die Edelkomparsin von Sanary. Übers. [a. d. Frz.] u. hrsg. v. Manfred Flügge. Berlin: AvivA Verlag, 2009.)

Immerhin schildert Stieler, wie sie die Herberge bei der Familie Cavet Anfang der 1930er-Jahre für sich und Klossowski anmietete: „Sehr schnell fand ich etwas Passendes: drei Zimmer in der hübschen kleinen Villa de l’Enclos, mitten im Ort und nicht weit vom Meer gelegen. Klossowski hatte dort eine Art Atelier, das heißt ein recht großes Zimmer im ersten Stock, während sich mein ,Reich‘, Schlafzimmer mit Küche, im Erdgeschoss befand. Meist kam Klossowski nur zum Essen herunter und nachts stieg ich manchmal zu ihm hinauf. Dieses Leben war ganz nach unserem Geschmack, denn trotz unserer Liebesfreundschaft brauchten wir beide eine gewisse Unabhängigkeit, vor allem für unsere Arbeit.“ (Ebd., S. 197.) – Und in ihrem Tagebuch vom Sommer 1944 schreibt Stieler unterm Datum vom 24. August: „Der sympathische Besitzer der Villa de l’Enclos [Jean Cavet] wird zum Bürgermeister von Sanary gewählt. Robert [Henri de Witt, Stielers zweiter Ehemann] will ihm unsere Heirat melden und man wird das Aufgebot veröffentlichen. Das Bürgermeisteramt nimmt mich unter seinen Schutz.“ (Ebd., S. 283.)

Etwas interessanter ist, was Manfred Flügge in seinem Nachwort über die Villa de l’Enclos berichtet. Da Erich Klossowski im Gegensatz zu seinen berühmten Söhnen heute nahezu vergessen ist, befragte er die noch lebenden Zeitzeugen vor Ort: „Marcelle und Louis Cavet erinnerten sich daran, dass er ein sehr diskreter Mensch war, meist schwarz gekleidet, mit einem Seidentuch um den Hals. Er lebte in der Villa de l’Enclos wie in einem Märchenhaus, begierig auf Zeitungen, oder er saß in der Küchenecke vor dem Radio und hörte Nachrichten. Das Anwesen ist ein wahrhaft magischer Ort, ein dreieckiger Park hinter Mauern, mit vielen Büschen und Bäumen, die das zweistöckige Landhaus fast verdecken, aber schattige Plätze schaffen, damals am Rande des Ortes, mit Ausblick aufs Hinterland, in dem sofort die Felder begannen. […] Nur wenige hundert Meter entfernt warfen die Alliierten 1944 Bomben ab. Ein ganzes Viertel des Nachbarortes Six-Fours wurde dabei zerstört. Die Bucht war von den Deutschen stark befestigt worden und wurde hart umkämpft. Ein Wunder, dass sich die Zerstörungen in Sanary selbst in Grenzen hielten.“ (Ebd., S. 311.) Da weilte Hans Siemsen längst nicht mehr in Sanary. Er verließ den Ort gemeinsam mit Walter Dickhaut Anfang 1941 und entkam über Marseille und Lissabon nach New York. Es würde sich wohl lohnen, selbst einmal an die Côte d’Azur zu fahren und die auskunftfreudigen Geschwister Cavet zu Siemsen zu befragen. Aber erstens spreche ich kein Französisch, zweitens fehlen mir für eine solche Auslandsreise die Mittel und drittens lehne ich Fahrten in solche Ferne, gleich ob per Auto, Flugzeug oder Bahn, prinzipiell ab, wenn sie nicht absolut unvermeidbar sind.

Da ich Die Edelkomparsin von Sanary nun schon einmal gelesen habe, werde ich eine ausführliche Würdigung des Buches einem zweiten Beitrag unter diesem Titel vorbehalten.

[Das Titelbild ist dem besprochenen Band (S. 196) entnommen. Es zeigt Erich Klossowski vor der Villa de’Enclos. Foto: Hilde Stieler. Privatarchiv Manfred Flügge.]

Pausenlos

Friday, 25. December 2009

hundemann

Das Los der Pause in unserer Zeit ist ihre Entwertung zur Störung. Wo das Ideal die optimale Verwertung der Zeit im Produktionsvorgang ist, muss die Pause als Zeitverlust erscheinen. Die Räder sollen sich ununterbrochen drehen, die starken Arme müssen für die unentwegte Zirkulation des Räderwerks sorgen, einem diesem ewigen Kreislauf entgegenstehender Wille muss von vornherein böswillige Absicht gegen den heiligen Zweck der ganzen Maschinerie unterstellt werden. Dennoch sind Pausen unvermeidlich, wenn etwa die Maschine geschmiert werden muss, wenn der Mensch Kraft schöpfen soll für ein mit neuem Schwung wiederaufgenommenes Schaffen. Diese Pausen sind aber sozusagen nicht ganz echt, sie sind in ihrem auf die Produktion bezogenen Regenerationszweck Teil derselben, auch sie müssen deshalb optimal genutzt werden.

Die echte Pause hingegen beginnt da, wo jede Zweckmäßigkeit ihren Sinn verliert. Sie ist vollkommen nutzlos. Zugleich hat die echte Pause kein inneres Maß und kein vorbestimmtes Ziel. Die abgesteckten, zu festgesetzter Stunde beginnenden, verordneten Pausen, wie die Schulpause zwischen den Stundenblöcken und die Brotzeit in der Fabrik, sind so gesehen bloß Attrappen der wahren Pause. (Die Schule trainiert somit, noch vor allem fachlichen Geschick und stofflichen Wissen, zuallererst den Rhythmus von Schaffen und Erschlaffen ein, der dem Produktionsfaktor Mensch dann lebenslang in Fleisch und Blut verwurzelt bleibt.)

[Pause.]

Eine echte Pause beginnt erst, wenn ihr Ende völlig offen ist. In einer solchen Pause lebe ich seit etlichen Monaten, was die zeitliche Bindung an eine gewerbsmäßige Produktion betrifft. Naiv ist, oder korrumpiert von den üblichen Bildern der Beschäftigung, wer diesen Zustand mit Untätigkeit verwechselt. Im Gegenteil bin ich, unterm Gesichtspunkt der Qualität meines Tuns, noch nie so folgenreich werktätig gewesen wie in jüngster Vergangenheit. Allerdings bemisst sich dieser Reichtum nicht in Euro verdienten Geldes, wie auch der hierfür eingesetzte Aufwand nicht in Stunden abzumessen ist.

„Und? Was machst Du jetzt so?“ Das fragten mich entfernte Bekannte, die von meiner neuen Lebenssituation vom Hörensagen wussten. „Ich habe jetzt erst mal eine Denkpause eingelegt.“ Das war für eine Zeit meine Lieblingsantwort. Mir gefiel daran, dass sie zwei Interpretationen zuließ: eine Pause zum Nachdenken – und eine Pause vom Denken. An die zweite Möglichkeit dachte zwar niemand außer mir. Und doch war es gerade diese Variante, die ich immer mitdenken wollte. Mein Nichtstun sollte tatsächlich ein absolutes sein. Wenn ich früher, in Zeiten meiner „Vollbeschäftigung“, in meinen wenigen Pausen doch immerhin noch gedacht, vor- und nachgedacht hatte, so suchte ich nun den Zustand absoluter Gedankenlosigkeit wie ein verlorenes Paradies.

[Der Pausenfüller ist ein Podcast von Claudia Wehrle und Oliver Glaap mit dem Titel Vom Verschwinden der Pause, zuerst gesendet im Hessischen Rundfunk am 18. Dezember 2009.]

Unschreibbare Romane (III)

Wednesday, 23. December 2009

flammen

Einer der vielen Romane, die ich immer schon mal schreiben wollte, ist jener von dem spröden Mann, der mit seiner Hündin in einem maroden Häuschen am Waldrand lebt und seinen Unterhalt mit der Reparatur defekter Elektrogeräte bestreitet. Seine Kunden wissen nichts über seine Herkunft und seine Vergangenheit, wer immer versucht hat, ihn danach auszufragen, stieß auf hartnäckiges Schweigen. Allenfalls murmelte er sich etwas in den Bart von der Art, das sei doch wenig interessant und er müsse nun auch sogleich wieder an seine Arbeit.

Nur die ältesten Bewohner der Kleinstadt, in der sich dies zuträgt, können sich noch daran erinnern, dass das Haus in grauer Vorzeit leer gestanden hat, dass schon darüber nachgedacht worden war, ob man es nicht einfach abreißen könne. Doch dann sei plötzlich der jetzige Bewohner auf der Bildfläche erschienen und habe anhand einiger alter Urkunden bewiesen, dass er und niemand sonst rechtmäßiger Besitzer des Hauses sei. Er gedenke, es so weit wieder herzurichten, dass er darin wohnen könne und bis auf Weiteres an Ort und Stelle sein Auskommen zu suchen.

Nachdem sich die Aufregung über diesen plötzlichen Neubürger und sein befremdlich scheues Gebaren gelegt hatte, wandte sich der Klatsch wieder anderen Gegenständen zu. Nur einmal flammte das Interesse wieder auf, als man plötzlich gewahr wurde, dass der Elektriker neuerdings einen Hund sein Eigen nannte. Es handelte sich um einen Mischling unbestimmbarer Provenienz, dem Vernehmen nach ein weibliches Tier, das nie bellte, seinem Herrchen aufs Wort folgte und aus überaus treu dreinblickenden dunkelbraunen Augen in die Welt schaute.

Nach dieser kurzen Vorgeschichte fokussieren sich Auge und Ohr des Erzählers ganz auf den Mann und seine Hündin. Wir erfahren, wie sich ihr Alltag im Haus am Waldrand gestaltet, wie sie ihre Mahlzeiten miteinander einnehmen, ihren üblichen Geschäften nachgehen und welche seltenen Ereignisse diese Routine unterbrechen: der Besuch eines Kunden etwa oder ein Einkaufsgang auf den Marktplatz des Städtchens. Vor allem aber werden wir Zeugen der angeregten Unterhaltungen, die die Hündin mit ihrem Halter pflegt. Jawohl, in dieser Reihenfolge muss man es wohl sagen, denn es wird bald deutlich, wer der eigentliche Herr, nein: die Herrin im Hause des Elektrikers ist.

Bevor wir noch recht Gelegenheit haben, uns mit der phantastischen Unwahrscheinlichkeit dieser Konstellation abzufinden oder gar anzufreunden, ereignet sich eine Katastrophe. Bei einem nächtlichen Gewitter schlägt ein Blitz in das Haus ein, es gerät in Brand und … (Bis hierher und nicht weiter.)

Odradek

Sunday, 20. December 2009

drake

Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen. Fast schmerzlich nannte er die Vorstellung, dass auch er von Odradek überlebt werden könnte. So kam es dann auch, und was für ein Nachleben das Gebilde hatte.

Ulrich Holbein, der ein Lebensbild des ,Versicherungsangestellten, Unfallschützers, Büromenschen, Albtraumfabeldichters, Hungerkünstlers, Himmelsstürmers und Longsellers‘ achtzehn Jahre später in sein Narratorium aufnahm, hat 1990 die markantesten Zitate aus den zahlreichen Deutungen dieses laut Walter Benjamin „sonderbarsten Bastard[s], den die Vorwelt bei Kafka mit der Schuld gezeugt hat“ dankenswerterweise seiner Studie Samthase, Odradek und Hydra vorangestellt.

Dankenswerterweise deshalb, weil neben den Zitaten der bekannten Kafka-Philologen wie Malcolm Pasley, Heinz Politzer und Wilhelm Emrich auch eins aus Günther Anders’ Kafka Pro und Contra aufscheint, von einem meiner persönlichen Hausväter also. Der sagt (laut Holbein): „Da beschreibt er z. B. ein Objekt ,Od<d>radek‘, dessen Funktion gerade darin zu bestehen scheint, daß es keine Funktion hat.“ – Ich habe mich nun gefragt, warum in diesem Zitat der Name des Numinosen mit einem zweiten – oder, wie der besserwisserische Karl Valentin korrigieren würde: dritten – „d“ geschrieben wird, und zwar mit einem in spitze Klammern gesetzten.

Ich habe den Satz, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, bei Anders selbst nachgelesen, in der Sammlung seiner Schriften zur Kunst und Literatur unter dem Titel Mensch ohne Welt von 1984. Aber dort steht das Wort mit seinen sieben Buchstaben ganz so wie in Franz Kafkas schmaler Prosasammlung Ein Landarzt 1919. Anders’ Kafka-Essay erschien im Original 1951 bei C. H. Beck, vielleicht hat Stern da ja falsch „Oddradek“ geschrieben? Und Holbein hat den Fehler nicht stillschweigend korrigieren wollen, sondern das überzählige „d“ eingeklammert, damit man sieht, dass Anders dieser Fehler unterlaufen ist? Aber das wäre dann kein ganz korrektes Verfahren. Vielmehr hätte Holbein das Wort falsch belassen und ein „[sic]“ oder „[!]“ dahintersetzten müssen. Und übrigens möchte ich darauf aufmerksam machen, dass er nicht die Erstausgabe von Kafka Pro und Contra aus dem Jahr 1951, sondern die vierte Auflage von 1972 zitiert. Aber das heißt nicht viel, denn schon damals leisteten sich selbst so angesehene und seriöse Verlage wie C. H. Beck in München nur noch selten den Luxus, bei Neuauflagen wiederum einen Korrektor dranzusetzen, um solche Fehler nachträglich noch zu korrigieren.

Es mag manchem als krankhafte Pedanterie erscheinen, dass ich die nur vermeintliche oder tatsächliche Falschschreibung eines Namens aus zweiter bzw. dritter Hand zum alleinigen Gegenstand eines Artikels in meinem Weblog mache. Wer sich aber ins Bewusstsein ruft, dass es kein ganz gewöhnliches Wort ist, dem diese Falschschreibung zustößt, und dass der Mann, dem diese unterlief (oder auch nicht), lange im englischsprachigen Raum gelebt hat und ihm insofern das Wort „odd“ und seine Bedeutung vertraut gewesen sein dürfte, der wird vielleicht weniger hart über meine Penetranz in dieser Angelegenheit urteilen.

Buchwesen (III)

Saturday, 19. December 2009

guy

Zurück zum Thema. Der Clou beim Pas de deux von Alice Schwarzer und Esther Vilar zum Thema Benachteilung oder Privilegierung der Frau? war, dass als Kontrahent der Frauenrechtlerin nicht, wie zu erwarten, ein Mann antrat, sondern eine Geschlechtsgenossin, die damit demonstrativ aus der weiblichen Solidargemeinschaft ausscherte und gegen das Bild der unterdrückten Frau ihren „dressierten Mann“ stellte.

Solche irritierenden Mauersprünge waren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen 1975 noch möglich. Heute ist die Abbildung von kontroversen Meinungsbildern in den Massenmedien völlig statisch geworden. Allenfalls die Entlarvung engelsgleicher Stars als schmutzstarrende Übeltäterinnen vermag noch zu irritieren. Mittlerweile gehören aber längst auch solche privaten Entgleisungen zum Image-Portfolio eines Weltstars und tragen zu dessen wünschenswertem Facettenreichtum bei. Die koksende Anorektikerin Kate Moss und der unter seniler Satyriasis leidende Silvio Berlusconi haben allemal mehr Chancen, sich in den Schlagzeilen und an der Macht zu halten als eine fade Sharon Stone, die ein Skandälchen höchstens unfreiwillig hinbekommt, oder ein farbloser Rudolf Scharping, dem sein Swimmingpool-Geplansche mit Kristina Gräfin Pilati-Borggreve wohl letzten Endes deshalb zum Verhängnis wurde, weil es so schrecklich stutzerhaft inszeniert war.

Das Spektakel als Präservativ über der katastrophalen Wirklichkeit ist also heute für keine Überraschung mehr gut. Es platzt nicht, es reißt nicht, es hält dicht. Es verhindert mit hundertprozentiger Zuverlässigkeit jeden Durchblick auf die Hintergründe und Zusammenhänge, nicht etwa wie in früheren Zeiten durch Lüge, Verstellung und Ablenkung, sondern allein durch overflow. Diesen Betäubungseffekt durch Übersättigung gab es zwar in der älteren Buchzeit auch schon. Es heißt ja, dass vielleicht die gelehrten Zeitgenossen Goethes die letzten Menschen waren, die mit viel Fleiß bei optimalen Studienvoraussetzungen noch einen universalen Überblick über das Wissen ihrer Zeit erwerben konnten. Danach musste die aufgeklärte Wissbegier vor der schieren Masse des Materials kapitulieren. Immerhin erlaubte die Ordnung der Wissenschaften seither aber noch eine systematische Spezialisierung und der Fortschritt konnte durch die akademische Vernetzung der Spezialisten weiterhin seinen (wie wir uns jetzt langsam mal eingestehen könnten: verhängnisvollen) Lauf nehmen. In der Turbozentrifuge der modernen Medien hingegen wird alles zu einem einzigen indifferenten Brei vermischt, facts & fiction, reason & emotion, past & future, dream & reality.

Das Tagwerk des unverdrossenen Beschreibers, der im Nichtstun kein Auskommen findet und zum Sinn keinen Einlass, beschränkt sich also aufs Arrangieren flüchtiger Impressionen, aus dem Augenblick und für den Augenblick. Eben wird in Kopenhagen wieder einmal eine „letzte Hoffnung“ zu Grabe getragen. Für den Klimagipfel mussten am Tagungsort, dem Bella-Center, 1.200 Kilometer Stromkabel verlegt werden, die nach dem erfolglosen Ende der Veranstaltung wieder aus den Wänden gerissen werden müssen. Dieses Bild genügt mir zum Thema.

Pessimismus ist noch die froheste Geisteshaltung, die ohne Heuchelei oder Selbstverleugnung möglich ist. Daraus ein Buch schneidern? Vielleicht. Aber warum? Das Weblog passt doch viel besser zu dieser Kurzweil.

Buchwesen (II)

Tuesday, 15. December 2009

indif

Ich werde im Folgenden umstrittene Themen, die die Zeitgenossen vorübergehend oder dauerhaft anziehen wie die Mücken das Licht und sie scharenweise zu ambitionierten Kommentaren in den Weblogs hinreißen, buchverdächtig nennen. Denn wenn Menschen, die meist durch jahrzehntelangen passiven Medienkonsum nahezu sprach- und völlig schriftlos geworden sind, nun in großer Zahl ihren Frust in die Tastatur hämmern, dann wäre man ein schlechter Menschenkenner und noch schlechterer Kaufmann, wenn man hier nicht einen potenziellen Bestseller witterte.

Üblicherweise werden heiße Kontroversen in den Verlagshäusern nach dem Pro-und-kontra-Schema polarisiert. Das hat den Vorteil, beide einander feindlich gegenüberstehenden Zielgruppen „abschöpfen“ zu können, wenngleich der Zynismus selten so weit geht, dass beide Bücher im gleichen Verlag erscheinen. Sehr schön gelang dies beispielsweise Mitte der 1970er-Jahre mit dem Tandem Alice Schwarzer und Esther Vilar. Die Feministin und die Anti-Feministin trafen in den gerade erst im BRD-Fernsehen populär werdenden Talkshows aufeinander und führten vor, wie telegen Unversöhnlichkeit sich präsentieren kann. Damals konnte man nur vermuten, dass solche öffentlich ausgetragenen Lagerkämpfe bloß die Fronten verhärteten und so gut wie nie zu einem Erkenntnisfortschritt hüben wie drüben führten, geschweige denn zu einem Kompromiss. Heute ist man, was das betrifft, nicht mehr auf Spekulationen angewiesen. Unter jedem kontrovers kommentierten Blogartikel kann man bis zum Überdruss nachlesen, dass sowohl die Kontras als auch ihre Gegner, die Pros sich im Besitz der alleingültigen Wahrheit wähnen und davon desto fester überzeugt sind, je länger das Hickhack dauert.

Ganz nebenbei wird bei dieser Betrachtung auch der alte aufklärerische Optimismus endgültig zu Schanden, dass das öffentliche Streitgespräch zu einem friedlichen Ausgleich der Gegensätze führen könne, auf dem Wege über ein wechselseitiges Verständnis der Kontrahenten füreinander. Dies mag in den gepflegten Kreisen gut versorgter Intellektueller vorstellbar sein. Dass Otto Normalzerstörer aber, was die Streitkultur betrifft, ganz anders gebaut ist und jeden seiner Standpunkte mit Zähnen und Klauen verteidigt, als ginge es um die nackte Existenz, das hatten Zivilisationsskeptiker zwar schon immer geahnt, jetzt aber ist es dank Internet unumstößlich bewiesen.

Alberto Manguel hat einmal in seiner Geschichte des Lesens bemerkt, und Jacque Bonnet hat es soeben in seinen Bekenntnissen eines Bibliomanen in Erinnerung gerufen, dass es wohl so gut wie kein Buch gebe, in dem nicht wenigstens ein interessanter Satz stehe. Dem kann ich nur beipflichten, wobei ich, damit kein Missverständnis aufkommt, sicherheitshalber hinzufügen möchte: Gerade die dümmsten Sätze können in einem klugen Kopf zu den interessantesten Einsichten führen.

Und genau so verhält es sich mit den borniertesten und stursten Hahnenkämpfen in den Weblogs unserer Tage. So stieß ich beim unten erwähnten taz-Artikel von Heiko Werning auf folgenden Kommentar eines Klimaskeptikers (leicht gekürzt und stellenweise stillschweigend korrigiert): „Jetzt möchte ich mal hören, ob ich das richtig verstehe. Die Katastrophenbefürworter sagen, weil sich um die Erde ein Mantel von Treibhausgasen legt, heizt sich die Erde von innen heraus auf. Hab ich das soweit richtig verstanden? Wieso ziehe ich mir eigentlich Textilien an? Müsste ich mich nach dieser Theorie nicht auch von innen her aufheizen? Meine Körperwärme kann nicht nach außen abfließen. Demzufolge müsste ich doch immer heißer werden? Und kommen wir mal abseits jeglicher Beweise zu folgendem. Ich bin 43 Jahre und kann mich noch gut an meine Kindheit erinnern. Und an die schönen Sommer die es damals gab, wenn wir als Kinder den ganzen Sommer draußen barfuß durch die Natur getobt sind, draußen im Garten übernachtet haben. Und wie sang Rudi Carrell damals ,Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer wie er früher einmal war?‘ Und jetzt schauen wir uns unsere Sommer heute an. Ich bin leidenschaftlicher Motorradfahrer. Ich achte also sehr genau auf das Wetter. In den letzten Jahren war meine wichtigste Bekleidung beim Fahren meine Regencombi. Als junge Bengels sind wir im Sommer, weil es warm war, noch mit kurzen Hosen gefahren. Sogar nachts. In den letzten Jahren bin ich die ganzen Motorradsaisons nur mit langen Unterhosen drunter gefahren und [habe] vor allem immer die Regenkombi wenigstens mitgenommen. Bis auf ein paar wenige sehr warme Tage, nur kaltes Scheißwetter im Sommer! Und dann höre ich die ganze Zeit: globale Erwärmung. Jetzt könnte ich als Motorradfahrer ja sagen, wo ist denn die globale Erwärmung wenn man sie braucht? Jetzt aber mal im Ernst. Ich brauche keine Tabellen oder Diagramme, um zu erkennen, dass anscheinend die Erwärmung ausfällt. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Und wenn einer weiter oben fragt, wo denn der ganze Schnee bleibt? 50 Grad [minus] in Sibirien, Schneestürme mit 20 Toten in den USA – also für mich klingt das nicht gerade nach globaler Erwärmung. Und komm mir jetzt keiner von diesen Untergangsfetischisten damit, ich bildete mir das alles bloß ein. Abseits aller Doktoren und Professoren und IPCC und dem ganzen Geschisse: Leiden die alle unter Alzheimer? So, musste ich mal loswerden! Schönen Tag noch.“

[Wird fortgesetzt.]

Buchwesen (I)

Sunday, 13. December 2009

sinngebung

Bücher können auf zweierlei Weise entstanden sein. Im ersten Fall hatte der Verfasser das ganz persönliche Bedürfnis, etwas von sich und seiner Sicht der Welt auszudrücken, und sei’s nur für sich selbst. Im zweiten Fall hat er das Pferd genau von der andren Seite her aufgezäumt und darüber nachgedacht, was die Welt noch für ein Buch brauchen könnte, um dann zu probieren, ob er genau dieses Buch hinbekommt. Der Einfachheit halber wollen wir Bücher vom Typ I hier Elfenbeinbreviere nennen, Bücher vom Typ II hingegen Reparaturanleitungen. Damit mich der Leser nun nicht vorderhand ins gerade heute immer größer werdende Heer der terrible simplificateurs einreiht, füge ich ausdrücklich hinzu, dass beide Formen kaum je absolut rein vorkommen, vielmehr in jedem Buch der einen gewöhnlich auch etwas von der anderen Form enthalten ist.

Damit deutlich wird, was ich meine, will ich ein paar Beispiele für den zweiten Buchtyp nennen. Nehmen wir zum Beispiel die zahllosen Ratgeber für Fragen des Alltags, von 1000 ganz legalen Steuertricks bis zum Nichtraucher durch Selbsthypnose. Sie helfen der jeweils angesprochenen Zielgruppe, ein Defizit auszugleichen, hier: mangelnde Kenntnisse des aktuellen Steuerrechts – oder einen Defekt zu reparieren, hier: die Nikotinabhängigkeit. Die Bedürfnisse der Adressaten liegen somit offen zu Tage und man kann aus der Höhe der jeweils verkauften Auflage ohne Umwege auf die Verbreitung und Bedeutung des behandelten gesellschaftlichen Problems schließen. Umgekehrt gibt es in den auf Reparaturanleitungen spezialisierten Verlagen längst Trendscouts, die nach neu auftretenden oder noch nicht ausreichend versorgten Defekten forschen, um die Betroffenen mit den passenden Handreichungen versorgen zu können. Und wenn die Flöhe mal gar nicht husten, wird rasch ein neuer Defekt erfunden und mit allen Mitteln als neue Seuche propagiert. So gibt es ja etwa den gut begründeten Verdacht, dass das weitverbreitete Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bloß ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Nicht ganz so offensichtlich ist für den ungeschulten Blick, dass auch der gesamte Bereich der populär-politischen Literatur zum Typ II gehört. Meist geht es den Lesern solcher Bücher darum, ihren politischen Standpunkt mit schlagkräftigen Argumenten wieder und wieder bestätigt zu finden. Die Leser von Kohl-Biographien sind in den seltensten Fällen Wähler Oskar Lafontaines, et vice versa. Weil in der rauen Wirklichkeit gesellschaftlicher Diskurse die eigene feste Überzeugung immer wieder durch Gegenargumente ramponiert wird, bedarf es des politischen Sachbuchs als Reparaturhilfe. Aus Sicht der Verlage besonders erfolgversprechend sind dabei Argumentationshilfen gegen vorherrschende Meinungen, zumal dann, wenn diese Meinungen die individuellen Denk- und Lebensgewohnheiten der avisierten Zielgruppe in Frage stellen.

Auch dazu ein konkretes Beispiel: Wer seinen Lebenszweck darauf abgerichtet hat, beruflich erfolgreich zu sein und sich zur Belohnung in seiner Freizeit etwas dafür leisten zu können, dem schmeckt es nicht, wenn ihm Mahner gegen ungebremstes Wirtschaftswachstum, gegen blindwütigen Konsumismus, gegen schonungslosen Verbrauch unersetzlicher Naturressourcen in die sonst so fein abgeschmeckte Suppe spucken. Zur Stärkung des Selbstbewusstseins solcher angefressenen Endzeityuppies gibt es seit einigen Jahren in der westlichen Welt ein buntes Häufchen neoliberaler Zukunftsoptimisten, die hierzulande um die Achse des Guten rotieren.

Gerade machte diese Clique wieder lautstark auf sich aufmerksam und erlaubte es dem abgeklärten Betrachter, die aktuellen Frontverläufe zwischen den vorurteilsbewehrten Meinungsfestungen eingehend zu studieren. Auslöser des Konflikts und der Polemiken, die er nach sich zog, war ein Datenklau von Hackern beim Climatic Research Unit (CRU) an der University of East Anglia in Großbritannien, bei dem über tausend private E-Mails der Klimaforscher sowie tausende weiterer Dokumente dieser Einrichtung aus dem Zeitraum 1996 bis heute erbeutet und frei einsehbar ins Netz gestellt wurden. Nun glauben die sogenannten „Klimaskeptiker“ (richtiger: die Skeptiker eines menschgemachten Klimawandels, speziell der globalen Erwärmung), in diesen E-Mails einen unumstößlichen Beweis für den großen Betrug der Klimaforscher gefunden zu haben. Als Heiko Werning gestern in der taz das voreilige Triumphgeheul der Klimaskeptiker mit einem sachlichen Artikel über den ganz unspektakulären Inhalt der vermeintlich entlarvenden E-Mails zu dämpfen versuchte, brach eine wahre Flut hämischer Kommentare über ihn herein. Werning hatte besonders das Gespann Maxeiner und Miersch aufs Korn genommen, das gemeinsam mit Henryk M. Broder für das „Politische Netzwerk“ Achse des Guten verantwortlich zeichnet. Diese beiden Herren sind einem größeren Publikum durch ihr Lexikon der Öko-Irrtümer bekannt geworden, in dem sie laut Untertitel „überraschende Fakten zu Energie, Gentechnik, Gesundheit, Klima, Ozon, Wald und vielen anderen Umweltthemen“ zusammengetragen haben. Dieses zuerst 1998 erschienene Elaborat aus der langen Reihe der Irrtümer-Bücher beim Eichborn-Verlag repräsentiert eine Sondersparte der Typ-II-Bücher. Mittels dieser partytauglichen Argumentationshilfen sollen solche Menschen mit Gesprächsstoff für mancherlei gesellige Zusammenkünfte versorgt werden, die aus eigenem Bestand schreckliche Langweiler wären und sich nach fleißigem Studium nun bei jeder Gelegenheit als neunmalkluge Besserwisser wichtigtun können, indem sie uns in tausendundeinem Fall darüber aufklären, dass sich alles ganz anders verhält, als wir vorurteilsbeladenen Banausen immer meinten.

[Wird fortgesetzt.]

Kein Kommentar

Thursday, 10. December 2009

teufelauch

Neuerdings werde ich häufiger darauf angesprochen, dass in meinem Weblog selten kommentiert wird. Wenn ich darauf erwidere, dass dies mich nicht weiter störe, dann ernte ich skeptische Blicke, oft garniert mit einem halb spöttischen, halb mitleidsvollen Schmunzeln, das wohl sagen will: ,Ach, lieber Fuchs, du musst die Trauben wohl sauer nennen, die dir zu hoch hängen.‘ Drum hier eine knappe Bemerkung, warum ich nach Kommentaren nicht giere und mir eine Kommentarflut sogar lästig wäre.

In meiner Zeit als Blogger bei Westropolis (April 2007 bis August 2008) konnte ich mich über einen Mangel an Kommentaren nicht beklagen. Zeitweise war ich dort sogar der meistkommentierte Stammautor, vor professionellen Journalisten wie Bernd Berke und prominenten TV-Starlets wie Else Buschheuer. Ich will nicht leugnen, dass dieser vorübergehende Kommentar-Hype zunächst meiner Eitelkeit schmeichelte. Es dauerte allerdings nicht allzu lange, bis mir drei große Gefahren dämmerten, die diese unerwartete Resonanz mit sich brachte.

Erstens ertappte ich mich dabei, dass ich meine Texte immer mehr darauf abstellte, möglichst viele Kommentare einzuheimsen. Ich hatte schnell raus, dass es eine Handvoll zuverlässig wirksamer Maschen gibt, dieses Ziel zu erreichen. Meine Lieblingsmasche war, provokative Meinungen zu aktuellen Ereignissen und Themen zu formulieren und dadurch die Leserschaft in mindestens zwei Lager zu spalten, die sich in den Kommentaren dann heftig befehden durften. Sobald das Kommentarfeuer zu erlöschen drohte, fachte ich es wieder an, indem ich selbst als Kommentator das Wort ergriff und gezielt „nachlegte“. Dies führte allerdings dazu, dass mir öfter mal die Pferde durchgingen und ich mich zu Äußerungen hinreißen ließ, die mir nachträglich leid taten, weil sie meinem Image schadeten. Ich wollte mich ja schließlich als ein durch nichts aus der Ruhe zu bringender Stoiker präsentieren. Stattdessen war ich bei manchen bald als cholerischer Haudrauf verschrien.

Zweitens stellte sich bei genauerer Analyse heraus, dass vielleicht zwei Dutzend Stammgäste neun Zehntel aller Kommentare bei Westropolis verfassten. Wenn man sich vor Augen führt, dass es sich hier immerhin um das Kulturblog der größten Regionalzeitung Deutschlands handelt (Wochenendauflage ca. 580.000 Exemplare), dann ist diese Resonanz geradezu lächerlich schwach. Nun mögen ja auf jeden lauten und regelmäßigen Kommentator viele hundert stille Leser kommen. Aber gerade dieses Zahlenverhältnis bewiese dann q. e. d.: dass Kommentarzahlen für die Wirkung und Reichweite eines Weblogs wenig Aussagekraft haben.

Drittens hatten die Administratoren bei Westropolis, wie in wohl allen großen Blogs der etablierten Printmedien, zeitweise viel damit zu tun, die Kommentare inhaltlich zu überwachen, um Verstöße gegen die guten Sitten, Beleidigungen, rechtsradikale Propaganda usw. zu löschen. Diese Eingriffe standen zudem immer unter Zensurverdacht, denn da der Leser nicht überprüfen konnte, was da gelöscht wurde, wenn er zu spät kam, konnte er sich kein eigenes Urteil darüber bilden, ob die Löschung berechtigt gewesen war. Dieser große Aufwand stand übrigens in keinem rechten Verhältnis zum inhaltlichen Wert der meisten unverfänglichen Diskussionen und Stellungnahmen in den Kommentaren. Ich identifizierte als Lieblingsthemen der Kommentatoren: Wichtigtuerei und Selbstdarstellung sowie Komplimente und Beileidsbekundungen an die Adresse beliebter Autorinnen, die das Kulturblog als Plattform für ihre persönliche Imagepflege missbrauchten. – Fazit: Die Trauben sind in aller Regel tatsächlich sauer. Ich bin somit heilfroh, in meinem Revierflaneur-Blog frei schalten und walten zu können. Jeder erstmals kommentierende Leser muss erst von mir freigeschaltet werden. Kommentare, die ich nichtssagend finde, lösche ich kommentarlos. Und glücklicherweise ist das Aufkommen so schwach, dass ich damit kaum Zeit verschwenden muss.

Proust bei proust

Thursday, 10. December 2009

kamilluspirale

Heldenhaft der Kampf der kleinen aber feinen Buchhandlungen gegen die banausischen, in vielerlei Hinsicht immer tiefer sinkenden Großflächen à la Thalia, Mayersche, Hugendubel, sie sind nicht genug zu loben. Manchmal weiß ich aber keine Antwort mehr auf die Frage, wie bei aller unterstellten, nahezu grenzenlosen Bereitschaft zur Selbstausbeutung der Inhaber solcher Schmuckkästchen, bei aller Professionalität und Investitionsbereitschaft nicht nur von Geld und Zeit, sondern auch von Hirn und vor allem Herz per Saldo noch was übrig bleibt zur Bestreitung bescheidener Lebenshaltungskosten.

Gestern war ich zu Gast bei einer Lesung in der Essener Buchhandlung proust. Michael Maar las aus seiner viel gelobten Essaysammlung Proust Pharao (Berlin: Berenberg Verlag, 2009). Zwanzig interessierte Zuhörer waren bereit, hierfür acht Euro Eintritt zu bezahlen, einige kauften anschließend das vorgestellte Buch zum Preis von 19 Euro. Maar, der von Berlin aus eigens mit dem Auto angereist war, las eine knappe Stunde. Anschließend erfüllte er Signierwünsche. Fragen aus dem Publikum wurden nur wenige gestellt. Ich erinnere mich blass an die Frage eines bekennenden „Nicht-Proustianers“, die sich mit der Quantität der Recherche befasste und einen leichten Trend ins Banausische hatte, wovon sich der Autor aber nicht zu einer Hochnäsigkeit hinreißen ließ. Die Buchhändler reichten zu allem Überfluss gar noch einen großen Teller Madeleines herum.

Die Frage drängt sich auf: Wie geht das? Fahrtkosten des Autors hin und zurück, und wenn Maar nicht um zehn Uhr abends noch die Heimreise antreten wollte, kam eine Hotelübernachtung hinzu. An Personalkosten fallen mindestens anderthalb Überstunden für zwei Buchhändler und eine Auszubildende an, für die gleiche Zeit Heizkosten und Beleuchtung im Geschäft. Dazu noch Autorenhonorar? Und was, wenn nun statt zwanzig nur zwei Zuhörer erschienen wären? Wie man es dreht und wendet, solche schönen Abende können für sich betrachtet nur ein Verlustgeschäft sein, sie rentieren sich hoffentlich indirekt über den fabelhaft guten Ruf, den sich dadurch eine Buchhandlung wie proust erwirbt, und zwar insbesondere bei der wertvollsten Kundschaft, den Viellesern. Die werden damit zu treuen Stammkunden und kaufen vielleicht sogar das eine oder andere Buch zusätzlich, damit das Schmuckkästchen nicht in wirtschaftliche Bedrängnis gerät.

Eine ganz ähnliche Entwicklung gibt es ja übrigens bei den Kinos. Auch dort verdanken die Cineasten es wenigen Idealisten, wenn es heute überhaupt in den Großstädten neben den öden MegamaxX-Alptraumfabriken noch Lichtspielhäuser gibt, die ihrem Namen Ehre machen: durch ein anregendes Programm, ein gediegenes Interieur und einen bewussten Umgang mit der Tradition. Um am Standort Essen zu bleiben: Hier eröffnet in wenigen Tagen nach acht Jahren Zwangspause das Filmstudio am Glückaufhaus wieder seine Tore. Hauptsächlich dem unermüdlichen Einsatz der leidenschaftlichen Kinobetreiber Marianne Menze und Hanns-Peter Hüster und der Spendenbereitschaft geschichtsbewusster Essener Filmfreunde ist es zu verdanken, dass das älteste Kino des Ruhrgebiets seinen Spielbetrieb wieder aufnehmen kann. Herzlichen Glückwunsch!

Diesen wie jenen Einsatz sollte jeder belohnen, der dessen Ergebnis zu schätzen weiß: Buch- bzw. Filmgenuss vom Feinsten. Und das geschieht auf kürzestem und wirksamstem Weg durch Besuch und Kauf. Ich werbe hier sonst nie, für nichts und niemanden – diesmal mache ich die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt: Bücherfreunde, kauft bei proust! Filmfreunde, besucht die Essener Filmkunsttheater Galerie Cinema, Lichtburg, Eulenspiegel, Astra und Filmstudio!

[Titelfoto: Proust-Leser Kamillus Dreimüller bei proust in Essen; Foto: Heinrich Funke.]

Einige Steine

Monday, 07. December 2009

steinchen

Manche haben mir gelegentlich Steine in den Weg gelegt. Früher habe ich einmal Steine übers Wasser hüpfen lassen. Manche Steine erinnerten mich an etwas, an ein Gehirn, Herz, Nieren, oder an einen unbekannten Tierknochen. Steine zu sammeln schien mir immer zu schwer. Ich wollte mich nicht noch damit belasten, vermeintlich unansehnlichen Steinen Unrecht zu tun. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein, aber warum vier? Auch Steine haben dem Versmaß zu gehorchen, das ist das Mindeste, was von Steinen zu verlangen ist.

Die meisten Steine haben mehr Vorzüge als Nachteile. Sie sind viel dauerhafter als ein menschliches Gefühl, als Heimweh, Durst oder Langeweile. Wenn du einen Stein fortwirfst, hast du ihn bald vergessen. Nicht aber der, den er trifft. Ein Stein in der Faust gibt ein Empfinden von Sicherheit, zugleich kühlt er das erhitzte Gemüt, worauf es dann selten wirklich zum Totschlag kommt. So ist das steinige Wesen eigentlich ein friedvolles.

Einen Stein aus der Hand zu legen ist eine zu wenig gewürdigte Geste. Man müsste sie bildlich darstellen, nicht bloß aufschreiben. Vielleicht würde sich ein Mosaik anbieten. Jede einzelne Mauer war einmal ein Vielerlei abgelegter Steine, etwas Zerstreutes, und wird wieder dazu werden, mach dir nichts vor. Es ist ja auch keine Katastrophe, wie viele oft meinen, dieser Niedergang, diese Auflösung, dieser Zusammenbruch. Schon der Neubau trägt auch die Ruine in sich. So wird die ganze Welt zuletzt barrierefrei sein.

Hinkelsteine, Edelsteine, Nierensteine. So schwer dir ein Stein auf der Seele liegen kann, so wohl wird dir, wenn dir ein Stein vom Herzen fällt. Auch der Stein des Anstoßes ist nicht feindlich, genau betrachtet. Wie sollten wirklich neue Gedanken ins Rollen kommen ohne Anstößigkeiten?

Und schließlich kannst du dir auf Steine mancherlei Reime machen. Damit lasse ich dich aber jetzt alleine. Ich mache keine.

[Dieses 500ste Steinchen zu meinem Blogbau schenke ich Michaela Coerdt zum 50sten Geburtstag.]

Siemsens Blick

Sunday, 06. December 2009

banana

Nach langer Pause befasse ich mich wieder einmal mit Hans Siemsen (1891-1961), wenngleich zunächst zwangsweise. Ich hatte Dirk Ruder von der Zeitschrift Gigi versprochen, meinen Siemsen-Artikel vom Frühjahr (in No. 60, S. 36-39) noch in diesem Jahr mit einer zweiten Folge abzuschließen. Von Heft zu Heft musste ich ihn vertrösten, der Umzug hatte mich (und meine Bibliothek, ohne die ich den Text kaum seriös hätte abfassen können) völlig aus der Bahn geworfen. Zuletzt setzte mir Ruder die Pistole auf die Brust: „Langsam wird es schwierig, unseren Lesern (und auch unserem Herausgeber gegenüber) zu erklären, warum der zweite Teil des Siemsen-Textes seit vier Heften auf sich warten lässt, aber ich zähle nach wie vor auf Sie.“ Ich wäre ja ein rechter Schuft, wenn ich solch treue Engelsgeduld nicht mit Fleiß entlohnte.

Hans Siemsens zweite Lebenshälfte, die mit dem 30. Januar 1933 beginnt, ist ja das traurige Kapitel eines Entwurzelten, dessen Schicksal kaum dadurch leichter wird, dass er es mit unzähligen Leidensgefährten teilt. Seine späte Liebesgeschichte mit dem zwanzig Jahre jüngeren Walter Dickhaut erhält dadurch von vornherein einen bitteren Beigeschmack. Die Tragik, dass ihnen zwar im Frühjahr 1941 endlich die gemeinsame Flucht von Lissabon aus über den Atlantik gelingt, sie dann aber doch im Hafen von New York auseinandergerissen werden, ist schon filmreif. Ich stelle mir vor, dass sich Siemsen vor Eifersucht verzehrt hat in der Sommerhitze des Big Apple, während sein junger Freund in Havanne Bananen pflückte.

Bei der Niederschrift fällt mir sogar noch unerwartet eine kleine Pointe ein. Bei der legendären Zusammenkunft des Siemsen-Freundeskreises in seinem Berliner Atelier im März 1933, die Asta Nielsen 1945 in ihrer Autobiographie Den tiende Muse erwähnt und Hans Siemsen in einem seiner allerletzten Zeitungsartikel 1950 ausführlich schildert, war auch Joachim Ringelnatz zugegen. Nachdem der Stummfilmstar vom Besuch im Propagandaministerium berichtet hatte, wo Joseph Goebbels sie erfolglos für seine Filmprojekte zu gewinnen versuchte, meldete sich „Ringel“ zu Wort. Er habe dieser Tage ein Gedicht gemacht, ob er es mal aufsagen solle? Dann zitiert Siemsen dieses Gedicht, von dem er „nur den ersten und den letzten Vers behalten“ habe. (Hans Siemsen: „Ringel, du hast wieder recht“; in: Frankfurter Rundschau v. 28. Januar 1950; erneut in ders.: Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Verlag das Arsenal, 2008, S. 152-154.)

Zwischenzeitlich habe ich mir eine Gesamtausgabe von Ringelnatzens Gedichten zugelegt und heute erstmals die vollständige Fassung des Gedichtes nachgelesen. Es heißt So ist es uns ergangen und hat genau drei Verse. Der mittlere, von Siemsen vergessene lautet so: „Vergiß es nicht! Nur damit du lernst | Zu dem seltsamen Rätsel »Geschick«. – | Warum wird, je weiter du dich entfernst, | Desto größer der Blick?“ (Joachim Ringelnatz: Die Gedichte. Hrsg. v. Fritz & Katinka Eycken m. Jakob Winter. Frankfurt am Main: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, S. 710.) Dass Siemsen tatsächlich aus dem Gedächtnis zitiert, muss man glauben und glaubt es leicht, weil ihm beim Memorieren der anderen beiden Verse ein paar kleine Fehlerchen unterlaufen. – Daraus ließ sich was Hübsches machen …

Bei dieser Gelegenheit muss ich noch nachtragen, dass es einen weiteren Anlass gibt, Dirk Ruder dankbar zu sein. Ende April überraschte er mich mit einer Aufzeichnung von Siemsens Stimme. In der CD-Reihe „stimmen des 20. jahrhunderts“, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird, befindet sich auf der CD 1945 – Kapitulation und Wiederaufbau als Track 12 ein dreiminütiger Mitschnitt der BBC-Sendung „Stimme Amerikas“. Ein Pfarrer Silesius begrüßt darin die militärische Niederlage des Dritten Reiches und ermutigt seine deutschen Landsleute zum Wiederaufbau. In den „Daten zu Leben und Werk“, die Michael Föster im ersten Band seiner Siemsen-Werkausgabe zusammengestellt hat, heißt es unterm Jahr 1941: „Schreibt für die Voice of America – u. a. Propaganda-Predigten unter dem Pseudonym ,Pfarrer Silesius‘.“ (Hans Siemsen: Schriften I. Verbotene Liebe u. a. Geschichten. Hrsg. v. Michael Föster. Essen: Torso-Verlag, 1986, S. 257.)

Opfer

Saturday, 05. December 2009

schlomü

Heute war ich mit Heinrich und Christiane zu Gast an der Westfälischen Wilhelmsuniversität (WWU) in Münster, um mir zwei – im weitesten Sinne – theologische Vorlesungen anzuhören. William J. Hoye (* 1940) las im Schloss [s. Titelbild] über Kreationismus, Neuen Atheismus und die Frage nach der Existenz Gottes. Danach ging’s quer über das Universitätsgelände zu Arnold Angenendt (* 1934) ins Audimax in der Johannisstraße, der in seiner Vorlesungsreihe über Liturgie und Messe einen Vortrag hielt, den er unter dem Titel Opferfanatismus? Martyrium und Selbstmordattentat schon einmal vor einem Jahr in Köln zum Besten gegeben hatte.

Noch vor Jahresfrist wäre mir meine Zeit für ein solches „Wahrnehmungsexperiment“ zu schade gewesen. Einmal habe ich grundsätzliche Vorbehalte gegen akademische Gelehrsamkeit, noch grundsätzlicher: gegen Schule(n) ganz generell. Sodann sträubt sich mir das Fell, wenn ich Frömmigkeit gleich welcher Art nur von Weitem wittere. Und schließlich gilt die Wilhelmsuniversität am Bischofssitz Münster nicht eben als Hort der Aufklärung. Wenn ich diesmal all meine Vorbehalte überwand und mich auf das Abenteuer einließ, dann geschah das wohl hauptsächlich meinem Freund Heinrich zuliebe, der seit vielen Jahren das Angebot „Studium im Alter“ an der WWU nutzt und mir davon viel erzählt hat. Freundschaft bedeutet ja auch, sich jenen Interessen und Neigungen der Freunde gegenüber aufgeschlossen zu zeigen, die nicht von vornherein zu den Schnittflächen oder Berührungspunkten gehören.

Nach Hoyes Referat über den kosmologischen Gottesbeweis, speziell über den von Gottfried Wilhelm Leibniz, tat es mir fast leid, meine Vorurteile bestätigt zu sehen. Der Vortragende war mir schon vorab als „etwas trocken“ angekündigt worden. Wenn es nur das gewesen wäre! Dafür, dass sich Hoye doch mit einem kaum umstrittenen, in alle Richtungen ausgedachten theologischen Standardthema befasste, wirkte er in manchen, zu vielen Details unsicher. Auf die einzige Zwischenfrage aus dem Auditorium, warum man nicht Gott mit dem unendlichen Universum gleichsetzen könne, auf dass alle Eigenschaften Gottes erfüllt seien, kam zunächst eine ausweichende Antwort, dann der Hinweis, dies sei exakt der Gottesbegriff des Marxismus. (Wenn schon, dann doch wohl eher des dialektischen Materialismus, oder?) Sehr aufschlussreich für den Bildungshorizont von Hoye war für mich sein skizzenhaftes Porträt von Bertrand Russell, mit dessen Aufsatzsammlung Warum ich kein Christ bin er sich wohl nur befasst hat, weil sie von modernen Atheisten immer wieder mit Respekt zitiert wird. Russell habe mit Alfred North Whitehead das Grundlagenwerk zur modernen Logik verfasst, die Principia Mathematica, ein, wie Hoye weiß, „unlesbares Buch“. Dass er die Probe aufs Exempel gemacht hat, nähme ich ihm nicht ab, selbst wenn er es behauptete. Merkwürdigerweise fiel ihm noch ein, dass dieser Russell auch gegen den Vietnamkrieg angegangen sei, aber das dämmerte ihm nur noch sehr von ferne und ich konnte mich nicht bezähmen, ihm mit ein paar knappen Informationen zum berühmten Vietnam-Tribunal der Jahre 1966/67 beizuspringen. Ich war damals zehn Jahre alt und müsste nichts über das Tribunal wissen; der Amerikaner Hoye hingegen war in einem Alter, in dem aufgeschlossene Zeitgenossen am wohl umstrittensten Ereignis der Weltpolitik jener Zeit wachen Anteil nahmen. Nicht so offenbar Hoye, der da gerade sein Theologiestudium an der Universität Straßburg aufgenommen hatte, um Gottesbeweise auswendig zu lernen.

Ein Viertelstündchen blieb uns zur Umsiedelung ins Audimax. Ich erwog schon, die Zeit des Vortrags besser zu einem Bummel durch die Antiquariate in Münster zu nutzen und meine Begleiter bei Liturgie und Messe (Folge 7) allein zu lassen. Aber warum sollte ich meine Erfahrung mit Hoye auf Angenendt übertragen? Das wäre nicht fair gewesen. Um es gleich vorwegzuschicken: Meine Geduld mit der Theologie in Münster wurde reich belohnt. Arnold Angenendt erwies sich als herzhafter Rhetoriker, dessen überraschenden, stellenweise auch provozierenden Thesen und Beweisführungen man mühelos folgen konnte; als ein Redner mit Herz und Hirn, Humor und Verve! Was er über die Bedeutung des Opfers in der Menschheitsgeschichte zu erzählen hatte, war mir zwar nicht ganz unbekannt, die konkreten Beispiele hingegen waren es teilweise schon. Ich blieb insofern kritisch auf der Hut, als ich die Drastik dieser blutrünstigen Exempel insgeheim der Effekthascherei verdächtigte. Aber man darf ja getrost einmal die Mittel entschuldigen, wenn sie vom Zweck geheiligt werden, der in diesem Falle zunächst mal nur darin bestand, Zweifel zu säen an vielleicht allzu leichtfertig gewonnenen Urteilen. Angenendt geht es um nicht weniger als um das Verhältnis der monotheistischen Religionen zur Gewalt. Wie ich jetzt weiß, hat er vor zwei Jahren ein Buch mit dem Titel Toleranz und Gewalt erscheinen lassen, das den Weg des Christentums zwischen den Polen Bibel und Schwert nachzeichnet (Münster: Aschendorff, 2007.) Selbst die linke taz kommt nicht umhin, dieser „beeindruckenden Studie“ Anerkennung zu zollen: „Wer über das Verhältnis von eifernder Kreuzzugsmentalität und christlicher Friedensbotschaft, von inquisitorischer Strenge und religiöser Toleranz substanziell mitreden will, kommt künftig um Angenendts Buch nicht herum.“ (Robert Misik: Taufe oder Tod; in: taz v. 5. Januar 2008.)

Ich habe eigentlich nicht mehr für nötig gehalten, Karlheinz Deschners monumentale Kriminalgeschichte des Christentums (1986 ff.) zu lesen. Zu erdrückend erschienen mir schon bei oberflächlicher Betrachtung die Indizien für die Hauptthese, dass das Christentum als größte der Weltreligionen als eine Krankheit zu bewerten ist, vielleicht als eine Kinderkrankheit der Menschheit auf dem Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit, viel wahrscheinlicher aber als eine Krankheit zum Tode, die so hartnäckige Schäden verursacht hat, dass eine Umkehr auf dem Weg in den Abgrund selbst bei besserer Einsicht nun unmöglich scheint. Nun aber halte ich es immerhin für nötig, die Faktenlage noch einmal einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Vielleicht kann es tatsächlich sinnvoll sein, Deschner und Angenendt parallel zu studieren.

Sarrazin bei Lettre

Thursday, 03. December 2009

Neulich hat irgendein Denkwanst in seinem Pfuijetöngchen gefaselt, das für Empörung sorgende Sarrazin-Interview sei ja „übrigens“ nicht in der seriösen Weltpresse, sondern in irgendeiner exotischen Literaturzeitschrift erschienen, die kaum ein Mensch liest. Ich kann aus dem Gedächtnis nicht mehr rekonstruieren, was der brave Mann damit eigentlich beweisen wollte. Dass ein Blatt von Rang solch hetzerische Ergüsse nie und nimmer verbreitet hätte? Dass ein Blatt mit Stil den Erzeuger dieser Entgleisungen vor sich selbst geschützt und den Abdruck vornehm lächelnd abgeleht hätte? Oder gar, dass an der wortwörtlichen Authentizität der Sarrazinschen Aussagen zu zweifeln sei, weil dieses entlegene Periodikum keine über jeden Zweifel erhabene Provenienz bedeute? (Na, letzteres wohl kaum, denn man hat meines Wissens nicht davon gehört, dass sich das immer noch amtierende Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank nur von einem Jota seiner Einlassungen distanziert hätte. Warum auch? Dieser Mann meint was er sagt. Darum lohnt es sich, ihn zu interviewen. Es werden ja viel zu viele Windbeutel ausgefragt, die kaum was zu sagen haben und dieses wenige noch nicht mal wirklich ernst meinen. Doch das bloß am Rande.)

Die Zeitschrift Lettre International, deren Name durch ein paar griffige und für viele Menschen in diesem unserem weichgespülten Lande provozierende Sätze Sarrazins kurzzeitig in jene Massenmedien geriet, zu denen sie nun selbst so gar nicht gehört, hat von diesem Strohfeuer leider wenig gehabt, weil das Blutblatt am anderen Ende der Erfolgsleiter, die Bildzeitung, dreist genug war, ungefragt nahezu das komplette Interview, das Lettre-Herausgeber Frank Berberich geführt hatte, bei Bild online kostenlos zugänglich zu machen. Daraufhin trafen sich Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und Berberichs Anwalt Johannes „Jony“ Eisenberg vorm Landgericht Berlin wieder. Ich könnte jetzt an diesem „Fall Sarrazin“ und seinen Folgen in den Medien und Gerichtssälen unserer Republik wieder einmal exemplifizieren, wie weit unsere „Offene Gesellschaft“ (Karl Popper) mittlerweile, zumindest in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung, zu einem Marionettentheater verkommen ist: Der Bild-Boss ist nebenbei taz-Gesellschafter und führt auf seinem Blog das Inventar seiner „Überzeugungen“ per Panoramakameraschwenk durch sein Chefbüro vor. Die taz schmeißt Geld für ein mehrstöckiges Wandbild zum Fenster raus, das sich mit Diekmanns bestem Stück befasst. Da ließe sich doch was draus machen. Aber warum sollte ich? Da für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Intelligenz hierzulande dieses Theater offenbar immer noch einen gewissen Unterhaltungswert hat, will ich nicht den Spielverderber spielen – zumal dieser nicht unbeträchtliche Teil ohnehin keinen Anteil nimmt an dem, was ich hier mache. Und das ist auch gut so!

Wie gut meine vornehme Zurückhaltung mir steht, das kann man zum Beispiel ex negativo dem reichlich unglücklichen Bild ablesen, das Berberich vom Lettre bot, als er nicht so recht wusste, ob er Bild verklagen oder dankbar sein sollte für die nie zuvor genossene Prominenz, die ihm das Boulevardblatt für ein paar Tage verschaffte. Noch schlimmer: Er verdankte es genau den ungebärdigsten und unkorrektesten Äußerungen von Sarrazin, wenn eine riesige Zahl von Lesern zum ersten Mal bewusst wahrnahm, dass es eine Zeitschrift namens Lettre gibt – und zwar bereits seit einem Vierteljahrhundert. Worüber aber beschwert sich Berberich in den Interviews, die er zwei Berliner Gazetten (V. i. S. d. P. und tip) gegeben hat? Erstens darüber, dass der „viel umfassendere Kontext“ nicht gewürdigt wurde, in dem das Sarrazin-Interview erschien: „Das Interview war nur ein Text von insgesamt mehr als vierzig.“ Zweitens darüber, dass sich selbst die Redakteure der Berliner Rundfunksender nur mit dem sattsam bekannten halben Dutzend inkriminierter „Stellen“ befassen wollten und sich weigerten, das Interview in Gänze zur Kenntnis zu nehmen. Drittens, dass ihn Bild online bestohlen hat, indem dort das Interview aus Lettre eingescannt und ohne Einwilligung komplett veröffentlicht wurde. Viertens die Doppelmoral und Heuchelei von Bild, wenn Sarrazins Äußerungen einerseits als übelster Rassismus bezeichnet und diese Äußerungen dann zitatweise über Bild online verbreitet werden, um den Traffic auf die Springer-Website zu erhöhen. Fünftens, dass sich an diesem Vorgang zeigt, wie die Alphabetisierung von Journalisten rapide abnimmt und stattdessen in den Redaktionen nicht nur der Revolverblätter reflexhaft drauf los skandalisiert wird, koste es was es wolle.

All diese fünf unbestreitbaren Tatsachen können mich nicht überraschen; bestätigen meine Sicht der Dinge, die dessen nicht bedarf; sind so aufregend wie die Nachricht, dass man im Regen nass wird.

Klar, manche konkreten Beispiele haben immer wieder einen gewissen Reiz. Ein Beispiel. Sarrazin hatte wörtlich gesagt: Eine große Zahl von Türken hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.“ Dazu fällt dem Magazin stern – das es tatsächlich immer noch gibt, wie ich bei dieser Gelegenheit erfahre – folgendes ein: „Was Sarrazin ausgerechnet gegen die Obst- und Gemüsehändler hat, ist schleierhaft.“ (Ich hoffe, dass mein Leser zu würdigen weiß, wie ich in einem solchen Nullsummenspiel doch noch auf meinen kleinen Profit komme.)