Blickweiten (I)

Noch ein letztes Mal zu Silvia Bovenschen. Im erwähnten TV-Interview fragt Denis Scheck die Autorin nach dem literarischen Initiationserlebnis ihrer Jugendzeit, so wie etwa ihm selbst Arno Schmidt klargemacht habe, dass Sprache noch etwas anderes könne als nur Informationen transportieren. Bovenschen verweigert die Antwort mit der etwas kruden Erklärung, in ihrem Falle seien das in verschiedenen Lebensaltern ganz unterschiedliche Bücher gewesen. Es hätte sie doch wirklich nicht viel Mühe gekostet, ein paar Beispiele für diese verschiedenen Lebensalter und die zugehörigen Bücher preiszugeben und so die Neugier des Fragers und seines Publikums mindestens durch eine Geste guten Willens wenn nicht zu stillen, so doch zu beschwichtigen. So aber wirkt die etwas brüske Verweigerung wie eine Geheimniskrämerei. Zur Not könnte man sie sich noch damit erklären, dass vielleicht mit den Initiationserlebnissen von Silvia Bovenschen in einem solchen Interview kein Staat zu machen ist, weil sie beispielsweise zu wenig originell oder erklärungsbedürftig sind.

Gerade bei Interviewfragen, die unbeantwortet bleiben, kann ich der albernen Versuchung nicht widerstehen, mir auszumalen, welche Antwort ich an der Stelle des Befragten denn gegeben hätte. Ich müsste dann im Vorschulalter, bei Wilhelm Busch, Karl May und, horribile dictu, Wilhelm Matthießens Das rote U beginnen und nach einer langen Liste untereinander völlig unverträglicher Namen und Werke vorläufig bei Alfred Polgar, Victor Auburtin und Franz Hessel enden. Ob diese Begegnungen mit ganzen Heerscharen von Vorgängern aber jede für sich als „Initiationserlebnisse“ zu bezeichnen wären, halte ich für mehr als fragwürdig. Inspirationsquellen, das träfe es schon eher.

Denn initiiert wird man doch, bei Licht betrachtet, in seinem Leben nur wenige Male, wenn nicht gar nur einmal. Der klassische Fall ist der Übertritt von der Jugend ins Erwachsenenalter, wenn wir uns von vorwiegend Nehmenden zu Gebenden wandeln; oder eben von Lesenden zu Schreibenden. Dann hätte ich klar und deutlich Franz Kafka nennen müssen, speziell den Roman Amerika, der heute unter dem Titel Der Verschollene gehandelt wird.

Ich setze jetzt mal die Brille ab und wechsele die Brennweite. In der gestrigen ZEIT berichten Florian Illies und Stefan Koldehoff von dem hässlichen Streit, der zwischen dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und dem Staat Israel über die Besitzansprüche an Manuskripten Franz Kafkas entbrannt ist. Dieser Streit interessiert mich nicht sonderlich, denn von Kafka ist alles Erhaltene veröffentlicht, kein Autor des 20. Jahrhunderts ist so ausgeforscht wie Kafka. Insofern ist es relativ gleichgültig, wo diese Manuskripte aufbewahrt werden, wenn es nur kein Archiv auf schwankem Grunde ist wie in Köln.

Aber am Rande dieses Artikels wird eine Seite aus einem Dokument faksimiliert, die meine Aufmerksamkeit fesselt. Es handelt sich um eine Inventarliste des Archivs von Kafkas Freund Max Brod, das heute in einer Zürcher Bank verwahrt wird, in einem Schließfach mit der Nummer 6588. Dort sind auch „Fotokopien von Briefen Theodor Lessings an Max Brod (insgesamt 5 Briefe 1922-1933)“ aufgelistet, von deren Existenz ich bis heute nichts wusste (vgl. ZEIT Nr. 48 v. 19. November 2009, S. 48). Theodor Lessing ist im Unterschied zu Kafka ein noch immer verschollener und vergessener Autor, trotz der Bemühungen seines Biographen Rainer Marwedel und mehrerer Verlage, von Rütten & Loening über Matthes & Seitz bis hin zum Superbia-Verlag, die mit viel Fleiß und Idealismus trachteten, sein so außergewöhnliches wie vielseitiges Werk nach dem Krieg wieder bekannt zu machen. Lessings Korrespondenz ist teilweise im Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien e. V. in Potsdam aufbewahrt. Ich vermute, dass die fünf Briefe an Max Brod den Theodor-Lessing-Forschern bislang unbekannt waren. Bin ich vielleicht der Erste, der nun beiläufig auf sie aufmerksam wird? Und wem könnte dieses Wissen nützen? – Ich setze die Brille wieder auf und gehe mit D. P. in den Wald, wo ich diesen Zufallsfund augenblicklich vergesse. Auf einer Bank [s. Titelbild] geht mir stattdessen ein Satz aus einem Brief Kafkas an Max Brod durch den Kopf, den ich im gleichen Artikel gelesen habe: „Ich kenne andeutungsweise die Schrecken der Einsamkeit, nicht so sehr der einsamen Einsamkeit, als der Einsamkeit unter Menschen.“