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Noface

Sunday, 01. November 2009

Dreizehn Jahre und drei Monate hatten wir auf Rufweite zu diesem Edeka-Laden gewohnt und regelmäßig dort eingekauft.

Doch nein, das ist nicht ganz richtig! Als wir in den Stadtwald zogen, war das Grundstück in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, auf dem der Laden dann bald stand, für ein Weilchen noch ein ungepflegtes Brachland, „Kleppes Feld“ genannt, wo ein Altwarenhändler sein Geschäft betrieb. Für Lebensmitteleinkäufe mussten wir die Hauptstraße bergauf zum Stadtwaldplatz, wo ebenfalls ein Edeka-Laden residierte, oder bergab zum Stiftplatz, wo die Konkurrenz mit niedrigeren Preisen lockte, unter oft wechselnden Firmennamen wie co-op, Depot und vielleicht noch weiteren, die ich längst vergessen habe. (Heute gibt es dort einen Getränkemarkt.)

Dann ergriffen wir die Flucht vor dem Dauerlärm der Hauptstraße, den wir zwar bewusst kaum mehr wahrnahmen, der uns aber dennoch an die nervliche Substanz ging. Nahezu fünf lange Jahre betraten wir „unseren“ Edeka-Laden nicht mehr, weil wir in einem anderen Stadtteil wohnten, wo wir stattdessen Stammkunden bei einem Kaiser’s wurden. Wir gewöhnten uns an ein geringfügig anderes Angebot, an unbedeutend abweichende Preise: hierfür ein paar Cent mehr, dafür ein paar Cent weniger. Und wir vergaßen die Gesichter der Kassiererinnen, die uns so viele Jahre lang nahezu Tag für Tag unser Haushaltsgeld abgenommen hatten, um uns an andere Kassiererinnen zu gewöhnen, die dies mit der gleichen freundlichen Selbstverständlichkeit taten.

Nun sind wir wieder zurückgezogen in die Nähe des Edeka-Ladens der Jahre 1991 bis 2004. Und es ist eine merkwürdige Erfahrung, wie die Zeit hier scheinbar stehengeblieben ist. Die Einrichtung wurde modernisiert, das schon. Manche Produkte wurden aus dem Programm genommen, andere kamen hinzu. Beim dritten, spätestens vierten Besuch hat man sich wieder orientiert. Hinter den Kassen nehme ich die altbekannten Gesichter wahr, wenige neue, was vermuten lässt, dass auch Kassiererinnen ausgeschieden sind, aber an die erinnere ich mich nicht mehr.

Und nun das Erstaunliche: Ich selbst werde nicht wiedererkannt, von keiner einzigen der Kassiererinnen. Habe ich mich etwa äußerlich so sehr verändert? Oder ist diese Asymmetrie der Wahrnehmung ganz natürlich, aus den verschiedenen Rollen von Personal und Kundschaft erklärlich? Vielleicht habe ich ja auch ein ausgesprochenes Inkognito-Gesicht, das im Gedächtnis meiner Mitmenschen kaum Spuren hinterlässt, ein Gesicht wie Noface in dem gleichnamigen, meisterlichen Roman von W. E. Richartz. Diese Erfahrung verunsichert mich. Aber warum? (Und es verunsichert mich zusätzlich, dass ich auch auf diese letzte Frage keine Antwort weiß.)