Homo immobilis (I)

Das letzte Vierteljahr sollte diesmal das beste werden, wozu nicht viel gehört. Denn das erste war bestimmt von der Suche nach einer neuen Bleibe, das zweite von den Umzugsvorbereitungen und das dritte vom Umzug selbst. Nun müsste es mir doch eigentlich vergönnt sein, zur Abwechslung auch mal ganz schlicht und einfach zu wohnen.

Stattdessen fühle ich mich aber noch immer seelisch wie wundgescheuert von den Strapazen der vergangenen Monate. So kann ich beispielsweise den ständig lauernden Verdacht nicht mehr loswerden, irgendetwas ganz Entscheidendes vergessen zu haben, das unbedingt noch zu tun ist und nicht mehr nachgeholt werden kann, wenn ich es im richtigen Moment zu tun verabsäume. Manchmal, wenn ich neulich nachts wach lag und mich die langweiligste Lektüre nicht in den Schlaf schieben konnte, fürchtete ich, dass der Umzug einen bleibenden Schaden an oder in mir angerichtet haben könnte.

Vielleicht bin ich ja dispositionell ein extrem immobiler Mensch? Vielleicht wäre es mir am liebsten, an einem Ort geboren zu sein, mein liebes langes Leben am gleichen Platze hinzubringen und ebendort auch zu sterben? Vielleicht geht’s wider meine Natur, wenn die zufälligen äußeren Umstände mir alle paar Jahre einen Wohnungswechsel aufnötigen? Dafür spräche ja zum Beispiel auch, dass ich mich selbst zu kleinsten Reisen nur mit allergrößter Kraftanstrengung aufraffen kann und unterwegs die meiste Zeit übellaunig, kränklich und unglücklich bin.

Ich weiß schon: „Reisen bildet.“ So sagt man jedenfalls. Aber man sagt ja manches, das sich bei genauerer Betrachtung als vollkommener Blödsinn erweist: „Der erste Eindruck ist der beste.“ – „Wer rastet, der rostet.“ – „Was lange währt, wird endlich gut.“ Für diese und manch andere Redensarten habe ich im wirklichen Leben mindestens ebensoviele Gegenbeispiele wie Bestätigungen gefunden. So kenne ich manche Globetrotter, deren Verstand nach all der Weltenbummelei kaum über ihre eigene Nasenspitze hinausreicht, von Bildung ganz zu schweigen. Der Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit war der größte Schritt des streunenden Affen auf dem Weg zum Dr. phil. Und wenn am Eingang zum dritten nachchristlichen Jahrtausend die Zweibeiner regelmäßig ihre trauten vier Wände verlassen und als hochtourige Touristen durch die Weltgeschichte preschen, dann ist das keineswegs die Krönung des Fortschritts, sondern ein atavistischer Rückfall in unbehauste Zeiten, als es noch keinen „Lieferservice für alles“ gab.

Pascal war bekanntlich der Ansicht, „daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, allein in ihrem Zimmer bleiben zu können. Kein Mensch, der genug zum Leben hat, würde sich, wenn er es nur verstünde, zufrieden zu Haus zu bleiben, aufmachen, um die Meere zu befahren oder eine Festung zu belagern.“ (Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände – Pensées. A. d. Frz. v. Ewald Wasmuth. Heidelberg: Lambert Schneider, 1978, S. 77.) Bei mir war’s von Kind auf gerade umgekehrt. Meine Mutter drangsalierte mich, ich solle doch bei dem schönen Wetter hinausgehen auf die Straße, mit meinen Altersgenossen spielen, statt mich immer hinter Büchern zu verkriechen. Wenn ich so weitermachte, würde ich ja ein rechter Eigenbrötler, ein Stubenhocker gar, den niemand zum Freund haben wolle! – So nahm das Elend schließlich auch mit mir seinen Lauf.

[Wird gelegentlich vielleicht fortgesetzt.]