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Inspiration

Thursday, 03. September 2009

Das zehnte Kapitel von Knut Hamsuns zweitem Roman, Mysterien, erzählt von einem Besuch des von aller Welt verspotteten und geschundenen Minute auf Nagels Zimmer, in dessen Verlauf sich der undurchschaubare Held dieses verwirrenden Buches, wie man so sagt: hoffnungslos betrinkt. (Knut Hamsun: Mysterien. A. d. Norw. v. J[ulius] Sandmeier. Nachw. v. Edzard Schaper. Zürich: Manesse Verlag, 1958, S. 200-230.)

Da der in jeder Hinsicht bescheidene Minute kaum einmal etwas sagt, besteht dieses starke Kapitel des Romans im Wesentlichen aus einem Monolog des Johan Nilsen Nagel, von dem der Leser an dieser Stelle immer noch nicht weiß, in welcher Angelegenheit er die kleine norwegische Küstenstadt besucht, ob er wirklich nur nach Entspannung sucht oder etwas Böses im Schilde führt, was er mit seinen vermeintlich „guten Taten“ bezweckt und so fort.

Anfangs sind die Ausführungen Nagels gegenüber seinem Schützling Minute noch halbwegs verständlich. Doch je mehr er dem Alkohol zugesprochen hat, desto fahriger wird seine Rede. Dieser schrittweise Zerfall der Stringenz seiner Rede, diese Zersetzung von Logik und Syntax, dieser allmähliche Übergang zu scheinbar völlig unzusammenhängenden Gedankenfragmenten gelingt Hamsun so gut, dass ich stellenweise den Verdacht hegte, er habe sich vorm Schreiben dieses Kapitels volllaufen lassen.

Es gibt ja durchaus dergleichen literarische Selbstversuche mit Rauschzuständen. So soll der Autor der Schatzinsel sich zu seiner vielleicht besten Novelle, der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, durch exzessiven Koksgenuss anregen lassen haben: „Äußerst interessant ist eine Studie über Robert Louis Stevenson (1850-1894). Nach einer Analyse des amerikanischen Arztes Myron G. Schultz (1971) soll der weltberühmte englische Autor im Herbst 1885 Kokain als Medikament gegen seinen chronischen Katarrh erhalten haben. Die Droge wurde damals in der medizinischen Welt als Wundermittel gegen alle möglichen Krankheiten gefeiert und just zu jener Zeit erschien auch in der britischen Ärzteschrift The Lancet ein sehr positiver Artikel über die Wirkungen des Alkaloids. Schultz vermutet nun, daß Stevenson unter dem Einfluß dieser Droge sein bekanntestes Werk Dr. Jekyll and Mr. Hyde schrieb. Und zwar verfaßte er zwei Versionen des Buches innerhalb von sechs Tagen, eine unglaubliche Leistung, vor allem, nachdem er vorher lange Zeit äußerst unproduktiv gewesen war. Sowohl dieser physische und psychische Gewaltakt (der sehr für die Wirkung von Kokain spricht) als auch die Handlung des Romans sprechen für die aufgestellte Hypothese: Der Held der Erzählung verwandelt sich unter dem Einfluß eines Pulvers (!) über Nacht aus einem angenehmen, gütigen Zeitgenossen in einen bösartigen Unhold, der Menschen tötet. In dieser Verwandlung ist sehr plastisch der charakterzerstörende Effekt des Kokains bei anhaltendem Mißbrauch wiedergegeben.“ (Wolfgang Schmidbauer / Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004, S. 193 f.; vgl. Myron G. Schultz: The Strange Case of Robert Louis Stevenson; in: Journal of the American Medical Association 216, 1971, S. 90-94.)

Dass Knut Hamsun im Laufe seines langen Lebens häufig dem Alkohol zusprach und für einen langen Lebensabschnitt vermutlich gar als Alkoholiker bezeichnet werden darf, ist bekannt. Dass er den Alkoholrausch also nicht nur aus der unbeteiligten Betrachtung seiner besoffenen Zeitgenossen, sondern schon früh auch aus eigenem Erleben kannte, ist somit kaum bestreitbar. Und sein Biograph Ferguson teilt sogar mit, dass er sich bei der Niederschrift von Mysterien „Inspiration aus Sprit“ holte, wenn seine Arbeit ins Stocken geriet und sein Kopf sich anfühlte „wie ein abgehackter Fischkopf mit klaffendem Maul“, der einfach alle Denktätigkeit eingestellt hatte: „Wenn das eintrat, ließ er für gewöhnlich die Arbeit liegen und ging in die Stadt, setzte sich in ein Theater oder ging in eine obskure Bar etwas trinken.“ (Robert Ferguson:  Knut Hamsun – Leben gegen den Strom. Biographie. A. d. Engl. v. Götz Burghardt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1992, S. 194.) – Vielleicht ist das zehnte Kapitel von Mysterien ja unmittelbar nach einem solchen Besuch in dieser obskuren Bar zustande gekommen, wer weiß?