Archive for August 4th, 2009

Jetzt erst recht!

Tuesday, 04. August 2009

Es gibt in allen Schichten und Professionen und gab zu allen Zeiten wie auch heute noch vereinzelte Menschen, die sich durch einen heroischen Starrsinn aus der gewöhnlichen Gemeinschaft hervortun, oft zu deren Belustigung, fast immer zu ihrem eigenen Schaden. Diese knorrigen Solitäre, einsamen Kämpfer für eine unbezweifelte „Wahrheit”, gehen eher aufrecht vor die Hunde, als dass sie nur einen Fingerbreit von ihren Überzeugungen abrückten. Solch ein armer Tropf war der norwegische Erzähler Knut Hamsun, dessen Geburtstag sich heute zum 150. Mal jährt.

Als ich vor achtunddreißig Jahren erstmals Hunger las, war dies – neben der gleichzeitigen Begegnung mit Kafkas Amerika und Büchners Lenz – einer der Glücksfälle, die mich auf kürzestem Weg zu einem anspruchsvollen Lesergeschmack führten. Hamsuns Debutroman von 1890 wurde dann hundert Jahre nach seinem Erscheinen noch einmal bedeutsam für mich, als ich eine anorektische Phase durchmachte und bis auf 59,2 Kilo herunterhungerte.

Wenige Wochen vor seinem frühen Tod Ende 1993 hatte ich eine kurze Korrespondenz mit dem aus Essen stammenden Helmut Salzinger. Ich wollte mich bei ihm beliebt machen und sandte Hamsuns Mysterien als rororo-Erstauflage nach Odisheim. Der Gärtner im Dschungel bedankte sich, dies sei ein merkwürdiger Zufall. Er habe das Buch einst als Kind im Bücherschrank einer Tante in Essen gesehen, bevor das Haus und damit auch die Mysterien ein Opfer des Bombenhagels wurden. Nun werde er es also endlich lesen. Ich weiß nicht, ob die Zeit dazu noch gereicht und ob ihm der Roman gefallen hat.

Die Welt ist klein! Heute ist es ausgerechnet Brigitte Kronauer, die Knut Hamsun in der Süddeutschen Zeitung zum 150sten gratuliert – auch sie eine gebürtige Essenerin. (Das ist schon erstaunlich, denn wesentlich mehr nennenswerte Schriftsteller hat meine Heimatstadt im vorigen Jahrhundert nicht hervorgebracht.) Kronauer empfiehlt, nachdem sie über Hamsuns politische Verirrungen berichtet hat: „Man halte sich an seine Werke. Zu eigenem Nutzen und Gewinn lese man wenigstens einmal im Leben Hunger, erst recht den darauf folgenden, genialen Roman Mysterien, in dem es der Held noch einfallsreicher, ja epiphanischer versteht, an einer (diesmal klein-)städtischen Gesellschaft zu verzweifeln.” (Brigitte Kronauer: „Die unendliche Beweglichkeit meines bißchens Seele”;in: SZ Nr. 177 v. 4. August 2009, S. 12.) – Ich zögerte einen kurzen Augenblick, bevor ich vor zwei Wochen meine fünfzehnbändige Hamsun-Werkausgabe (München: Albert Langen, 1921-30) dann doch in eine Kiste für die neue Wohnung packte und nicht in eine Kiste für das Außenlager. Nun bin ich froh über meine Entscheidung, auch eingedenk des wahnwitzigen Nachrufs, den der Norweger am 2. Mai 1945 auf Adolf Hitler veröffentlichte. (Vgl. Robert Ferguson: Knut Hamsum – Leben gegen den Strom. A. d. Engl. v. Götz Burghardt. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1992, S. 555.)

Eine Rezitation von Hunger gibt es von dem großartigen Mimen und Vorleser Oskar Werner, für Menschen, die das Selbstlesen bereits verlernt haben, ein nahezu gleichwertiger Ersatz. Ich selbst werde mir wohl bald einmal Hamsuns spätes Tagebuch Auf überwachsenen Pfaden gönnen.