Archive for May, 2009

Ausnahme

Friday, 22. May 2009

Doch noch mal kurz da.

Es muss zwischendurch ein Überraschungsbesuch vermeldet werden. Seit vorgestern bin ich stolzer Besitzer der deutschen Übersetzung von Teil I des so sehnlich erwarteten Meisterwerkes als Vorab-Leseexemplar des Verlages und habe bereits die ersten 50 Seiten gelesen. Es muss! Das kann um keinen Preis vermieden werden.

Wenn Bolaño dieses Niveau bis zuletzt und ohne Längen und Wiederholungen hält und wenn schließlich das Ganze sich als etwas Gerundetes erweist, das mehr vorstellt als die Summe seiner fünf Teile, dann habe ich nach vielen Jahren erfolgloser Suche endlich einen Roman gefunden, der es verdient, neben meine fünf, sechs Lieblinge gestellt zu werden. (Es erübrigt sich wohl eigens darauf hinzuweisen, dass ich von meinen Lieblingsromanen die ersten fünf niemandem persönlich und schon erst recht nicht potenziell allen verraten will und den möglichen sechsten aus verständlichem Grund keinem verraten kann?)

Ich habe laut gelacht und stumm und still gestaunt!

Und was bei allem das Beste und Schönste ist: Ich liebäugele unterm Eindruck dieser Lektüre tatsächlich wieder mit dem Gedanken, mich auf meine alten Tage doch noch mal an ein Romänchen zu machen. War die Gelegenheit je so günstig? – Und schon wieder weg. Bis zum August.

[Dieser Beitrag geht an Beate Scherzer von der Buchhandlung proust in Essen.]

Niemand daheim

Sunday, 10. May 2009

„Diesesmal habe ich Ihnen durch meinen Bedienten sagen lassen, daß ich nicht zu Hause wäre, nach dem Billet aber, das Sie mir deswegen geschrieben haben, werde ich bei dem nächsten Besuch, womit Sie mich beehren werden, die Ehre haben es Ihnen auf der Treppe selbst zu sagen. Ich bin pp.”

(Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. Heft L, Nr. 164. Göttingen 1796.)

Karawanserei

Friday, 08. May 2009

Gelegentlich nimmt mein Streben nach intellektueller Redlichkeit krankhafte Formen an. Besonders beim Zitieren von Textstellen aus zweiter oder dritter Hand beschleicht mich ein schlechtes Gewissen, worauf ich weder Kosten noch Mühen scheue, näher an den Ursprung der durchgereichten Worte heranzukommen. Zuletzt geschah mir dies im Eröffnungsartikel zur Serie Wohnende, wo ich Samarqandi nach Idries Shah nach Lisa Alther zitierte, Letztere in einer deutschen Übersetzung von Gisela Stege.

Besonders störten mich in diesem Zitat eines Zitats die drei Auslassungspunkte, denn ich weiß nur zu gut, dass man durch die Unterschlagung von verbindenden Textstellen die Aussage eines Autors verfälschen, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehren kann. Wie peinlich wäre es doch, wenn mir ein kritischer Leser nachweisen könnte, dass jener Samarqandi aus dem 13. Jahrhundert mit seinem Satz keineswegs etwas über die prägende Bedeutung von Berufen habe sagen wollen, was für jeden deutlich erkennbar sei, der sich nur die Mühe mache, die von Lisa Alther unterschlagene Stelle bei Samarqandi oder mindestens doch bei Idries Shah (1924-1996) nachzulesen. – Um wieder ruhig schlafen zu können, besorgte ich mir also dessen Caravan of Dreams in einer deutschen Übersetzung. Dort fand ich die fragliche Passage unterm Titel „Rang und Nation” in voller Länge. (Die von Lisa Alther weggelassenen Stellen habe ich durch Kursivsetzung kenntlich gemacht.)

„Verschiedene Gruppen innerhalb der Gemeinschaft stellen in Wirklichkeit ,Nationen‘ dar. – Hüte dich vor Leuten, die dir Fragen stellen, zu denen sie sich bereits eine Meinung gebildet haben, die sie bloss bestätigt haben möchten oder mittels derer sie dir – unbewusst – Ablehnung entlocken wollen, um damit ihre eigene Überzeugung zu stützen. – Die Verbindung mit solchen Menschen ist nicht nur fruchtlos: sie ist das Merkmal des Unwissenden. – Der Klerus, die Ärzte, Literaten, Adligen und Bauern könnte man tatsächlich als ,Nationen‘ bezeichnen; denn jede dieser Gruppen ist ihren eigenen Sitten und Denkgewohnheiten verhaftet. Die Vorstellung, dass diese Leute, bloss weil sie in demselben Land wohnen und dieselbe Sprache sprechen, gleich sind wie du, ist eine Haltung, die es zu überprüfen gilt. Alle Erleuchteten lehnen letztendlich diese Annahme ab.” (Idries Shah: Karawane der Träume. Lehren und Legenden des Ostens. A. d. Engl. v. René u. Clivia Taschner. Basel: Sphinx Verlag, 1982, S. 193.)

Meine Befürchtung hat sich also als gegenstandslos erwiesen. Tatsächlich wirken sogar die beiden Sätze über Menschen, die nur immer wieder ihre vorgefassten Ansichten bestätigt sehen wollen, wenn nicht wie ein Fremdkörper, so doch wie ein Einschub, der mit dem eigentlichen Kerngedanken der Passage nur bedingt etwas zu tun hat.

So gesehen hätte ich mir die 8,90 €, die mich das Buch im Antiquariat gekostet hat, gut sparen können. Nun kommt aber ein zweiter, vielleicht ebenfalls krankhafter Prozess in Gang, der eine Kompensation der verschwendeten Mittel herbeizuführen sucht. Ich beginne, mich für ein Buch zu interessieren, das mich sonst allein schon wegen seiner Umschlagillustration auf Distanz gehalten hätte [s. Titelbild]. – Und nun entdecke ich dies und jenes, das mir Spaß macht, wie das Sprichwort: „Wenn du ein Schreiber sein willst, so schreib und schreib und schreib.” (Ebd., S. 200.)

Protected: Lothar Baier

Thursday, 07. May 2009

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Bummelant?

Tuesday, 05. May 2009

Manche Innovationen sind uns bereits so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir erstaunt sind, wenn wir von ihrem verhältnismäßig geringen Alter erfahren. So bin ich baff, dass es Kreuzworträtsel vor hundert Jahren noch nicht gab. Ich hätte geschworen, dass diese crossword puzzles zu Zeiten von Lewis Carroll (1832-1898) längst auf der Welt waren – oder, falls nicht, dass sie spätestens dieser große Rätselfreund und Wortakrobat, Schöpfer des Jabberwocky, ersonnen hätte.

Neuerdings vertreibe ich mir eine tägliche Wartezeit, zu der mich das Alter nötigt, mit dieser unschuldigen und anspruchslosen Zerstreuung. Ich gestehe gern, dass ich keineswegs den Ehrgeiz habe, solche strapaziösen Kopfzerbrecher wie Um die Ecke gedacht von Eckstein aus dem ZEITmagazin oder Das Kreuz mit den Worten von CUS aus dem SZ-Magazin zu lösen. Ich bevorzuge vielmehr die guten alten Schwedenrätsel, bei denen man die Fragen nicht erst auf dem Umweg über Zahlen herbeischaffen muss, weil sie in den sogenannten „Blindkästchen” bequemerweise gleich zur Stelle sind. Den bekannten Nachteil dieser Variante nehme ich gern in Kauf, dass sie nämlich mit einem verhältnismäßig geringen Repertoire gesuchter Begriffe auskommen müssen, weil die Fragen aus Platzgründen kaum mehr als zwei, drei Worte lang sein dürfen. Auch habe ich nicht den Ehrgeiz, jedes Rätsel lückenlos zu lösen. Meist fehlen mir zuletzt so entlegene Realien wie ein „Ort in Hordaland (Norw.)” oder ein „kanadischer Wapitihirsch“, was meinem Selbstbewusstsein wenig schadet. Ich kann Odda und den Elk zwar in den Auflösungen am Ende des Rätselheftes nachschlagen, doch das scheint mir wenig sinnvoll, denn solche verbalen Exotika haben weder in meinem aktiven noch in meinem passiven Wortschatz Platz und Nutzwert.

Was mir hingegen wirklich Spaß macht, ist das spielerische Training planvoller Suche nach Synonymen und der Entschlüsselung von Definitionen, das diese Rätselform für eine Weile bietet. Im günstigsten Fall bringt sie mich sogar zum Nachdenken über den engen Rahmen der Wortsuche hinaus. So wollte mir eben ein Synonym für „flanieren” mit sieben Buchstaben partout nicht einfallen. (Titelbild: Ausschnitt aus einem unvollständig gelösten Schwedenrätsel; aus: Schwedenrätsel Großband Nr. 49. Hrsg. v. Gerhard Melchert. Hamburg: Martin Kelter Verlag, o. J., S. 24.) Erst nachdem ich vier Buchstaben durch senkrecht kreuzende Begriffe beitragen konnte, wurde klar, dass der Rätselsteller nur „bummeln” gemeint haben konnte. (Hätte ich schon eher seine Bekanntschaft gemacht, wer weiß, vielleicht hätte ich mich dann Kohlenpottbummler genannt.)

Das Wort „bummeln” kenne ich aus meiner Kindheit aus folgenden Verwendungen: „Wir machen heute einen Einkaufsbummel (resp. Schaufensterbummel).” – „Wir fahren mit dem Bummelzug.” – Einkaufsgänge an der Hand meiner Mutter, durch die Essener Innenstadt, waren jedenfalls alles andere als entspanntes Flanieren, sondern im Gegenteil schreckliche Hetzereien,  weil von Geschäft zu Geschäft Preise verglichen werden mussten, damit zuletzt doch das Hemd oder die Hose bei C & A gekauft werden konnte: „Bummel doch nicht so!” Die Bevorzugung einer lahmen Zugverbindung, mit Zwischenhalten in jedem Kleinkleckersdorf, wurde durch die Verwendung des Wortes Bummelzug, das wohl Gemütlichkeit vorgaukeln sollte, kaum verzeihlicher, wenn das Abteil gestopft voll war mit quengelnden Kindern, zeternden Müttern und Zigarre rauchenden Vätern. Und der Schaufensterbummel an Sonntagen auf Rüttenscheider und Huyssenallee verdiente zwar seinen Namen, weil er langsam, ziel- und zwecklos war, trug aber ebenfalls wenig dazu bei, mich mit dem Bummeln anzufreunden.

Wie schön also, dass es die unverbrauchten und nicht vorbelasteten Wörter aus anderen Sprachen gibt, die im Kern etwas sehr Ähnliches oder gar das Gleiche bedeuten, aber frei sind von den quälenden Erinnerungen aus widrigen Umständen. So flaniere ich denn und verbitte mir, ein Bummelant geschimpft zu werden.

Nichts ist älter (I)

Monday, 04. May 2009

… als die Zeitung von gestern? Ach was, eine gut abgehangene Zeitung vermag mir geradezu Aktualitätskicks zu verpassen, dass es eine wahre Freude ist. Messiemäßig horte ich darum auch stets einen pfundigen Vorrat vor sich hin gilbender in- und ausländischer Blätter, hauptsächlich Feuilletons, Wissenschafts- und Gesellschaftsteile, gelegentlich aber auch Fetzen aus anderen Ressorts, auf dass mir in faden Stunden der inspirierende Input nicht ausgehe. Dann grapsche ich blindlings ins Volle und lasse mich überraschen, welche Gedankenmelodie der Zufall meinem Hirnkasten abnötigt.

Heute also ein noch nahezu taufrisches Blatt, die Seite 34 aus Nr. 43 der diesjährigen FAZ vom 20. Februar. Dort widmet Anja Hirsch den soeben im Piper-Verlag erschienenen ersten beiden Bänden einer neuen Ausgabe von Sándor Márais Tagebüchern vier muntere Spalten. Nun wüsste ich gern, ob diese Edition meiner siebenbändigen Ausgabe aus dem Oberbaum-Verlag von 2001 etwas voraushat. Wie soll ich mir aber folgenden Satz der Rezensentin erklären? „Vereinzelt erschienen auch hierzulande bereits Auszüge, unter anderem zwei [?] Bände im Oberbaum Verlag.” Ein Blick in den Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek hätte doch ausgereicht, um diesen plumpen Fehler zu vermeiden!

Die Oberbaum-Ausgabe ist, wie ihre Leser wissen, ein editorisches Kuriosum ohnegleichen. Nach einem ersten Band, der „Auszüge, Fotos, Briefe, Dokumentationen” bringt, folgen in Band 2 die Tagebücher von 1984 bis zum Freitod des Autors 1989, dann geht es weiter mit Band 3 und den Jahren 1976 bis 1983 und so fort in umgekehrter Chronologie, bis wir schließlich im siebten und letzten Band bei den Einträgen aus den Kriegsjahren 1943 und 1944 angelangt sind.

Die Frage, ob ich mir nun zu meiner vorhandenen noch eine weitere Ausgabe der Tagebücher jenes ungarischen Diaristen zulegen soll, muss ich mir also selbst beantworten. Die FAZ-Rezension ist da wenig hilfreich, ich bin auf meinen Spürsinn angewiesen. Die eben erschienenen Piper-Bände der Jahre 1943 bis 1945 haben zusammen über 900 Seiten, in meiner Oberbaum-Ausgabe kommen dieselben drei Jahre gerade einmal auf 274 Seiten. Wenn es dort im Impressum heißt: „Textkritische, leicht gekürzte Ausgabe”, dann kann dies wohl nur als Etikettenschwindel bezeichnet werden. (Immerhin erklärt diese Rechnung, dass die neue Ausgabe laut Anja Hirsch auf stolze 14 Bände angelegt sein soll. Sibylle Mulot im Spiegel spricht allerdings von einer laut Verlag „heute noch nicht endgültig feststehenden Zahl von Bänden”.) Fraglos muss die FAZ-Rezensentin ihr Handwerk erst noch lernen. Da sie nicht einmal sachlich korrekte Informationen liefert, erstaunt ein Satz wie dieser kaum mehr: „Diese Bände gehören neben Julien Green, Virginia Woolf und viele andere manische Jahrhundert-Überschreiber gestellt.” Ja, was denn nun? Erst hievt Anja Hirsch Márai auf ein Niveau mit zwei ganz großen Tagebuchschreibern des 20. Jahrhunderts – und dann relativiert sie dieses höchste Lob gleich wieder, indem sie von vielen anderen spricht, die offenbar auch auf einer Höhe mit den drei Vorgenannten liegen.

Zum Abschluss und zur Erholung von solcherlei schummriger Ungefährheit und windelweicher Ungefährlichkeit ein Zitat aus Sándor Márais Tagebuch. Man schreibt das Jahr 1944, Budapest liegt wie halb Europa in Trümmern. Der Romancier, dem das Romaneschreiben gründlich vergangen ist, blättert in alten Illustrierten: „Mir fällt ein sieben Jahre altes Esquire-Heft in die Hand. Ich studiere die Annoncen. All diese Whiskys, Automarken, Tennisschläger, Schlangenlederschuhe, Edelsteine, modisch geschnittenen Herrenhemden, die aus rätselhaften Materialien hergestellte Damenunterwäsche, diese Welt, die von den Raffinessen des Details nie genug bekommt -, gibt es sie tatsächlich noch irgendwo? Wieder muß ich daran denken, daß ich in Budapest drei Tage vergeblich auf der Suche nach einem Schuster war, der mir einen Flicken aufsetzt.” (Sándor Márai: Tagebücher 7. 1943-1944. Ausgew. u. a. d. Ung. übers. v. Christian Polzin. Hrsg. v. Siegfried Heinrichs. Berlin / St. Petersburg: Oberbaum Verlag, 2001, S. 194.)

[Fortsetzung: Nichts ist älter (II).]

Wohnende (II)

Sunday, 03. May 2009

Seit Erfindung der Treppe gibt es dreierlei Wohnweisen: unten, oben und dazwischen.

Der Mieter im Parterre gewinnt am schnellsten Land, wenn das Haus unsicher wird, eroberte also etwa in den Bombennächten des letzten Krieges regelmäßig die besten Plätze im Keller; aber auch im zivilen Brandfall hat er die besseren Karten, bleibt ihm doch der freie Fall ins Sprungtuch erspart; andererseits muss er aber vor Dieben besonders auf der Hut sein, die den Weg durchs Fenster notfalls per Räuberleiter bewältigen können. (Wohnsinn 8, 9, 10 und 11.)

Der Mieter unterm Dach thront über allen, genießt eine weite Aussicht und quält sich tagtäglich im Treppenhaus, in jungen Jahren nur auf-, in späteren dann auch abwärts. Er überlegt sich dreimal, ob er noch für ein Viertelstündchen vor die Tür gehen soll, zu einem kleinen Abendspaziergang durch die laue Frühlingsluft. Des Straßenlärms ist er leidlich enthoben, nicht aber der Flüche der Paketboten. (Wohnsinn 1, 3, 4, 5 und 6.)

Alles, was sich zwischen diesen beiden Hemisphären tummelt, also die überwiegende Mehrheit der Etagenhausbewohner, führt ein nicht so klar akzentuiertes Grauzonendasein, hat welche unter und welche über sich, fühlt sich vielleicht unbewusst eingequetscht, umso mehr, wenn sich außerdem ein Nachbar zur Rechten und ein Nachbar zur Linken bemerkbar machen und die Wände, wie üblich, noch dünner sind als die Decken und Böden. (Wohnsinn 2 und 7.)

Ich habe alle drei Wohnweisen intensiv erfahren und weiß, wovon ich rede, wenn ich sage: Allein schon diese Lokalisation ist die halbe Miete und entscheidet gegebenenfalls über Wohl und Wehe des Wohnenden.

Wohnende (I)

Sunday, 03. May 2009

Nicht unwesentlich bestimmt sich der Flaneur als ein Umwegegeher. Er hat eingesehen, dass auf den geraden Strecken, den kürzesten Verbindungen zwischen zwei Punkten wenig zu finden ist und meist nur das Erwartbare, von Gewissheiten und Plänen Entwertete. Das Stöbern des Flanierenden hingegen geschieht planlos, wohl auf der Suche, aber ohne Wissen nach was. Müßig zu sagen, dass die Bewegung des Flanierens nicht auf Straßen und Wege beschränkt ist, sich vielmehr auch in ganz anderen Zielgebieten unternehmungslustiger Neugier bewähren kann.

Weit abseits von jenem weitläufigen Thema, das ich ab heute einzukreisen beginne, stieß ich auf folgende Einsicht des persischen Physikers und Heilkundigen Najib al-Din Abu Hamid Muhammad ibn Ali ibn Umar al-Samarqandi: „Die verschiedenen Gruppen der menschlichen Gesellschaft sind, angesichts der Realität, eigentlich ,Nationen‘ […]. Man könnte Kleriker, Ärzte, Literaten, Adelige und Bauern im Grunde als Nationen bezeichnen; denn jede Gruppe hat ihre eigenen Gebräuche und Denkschemata. Die Idee, sie seien genau wie man selbst, nur weil sie im selben Land leben oder dieselbe Sprache sprechen, ist eine Vorstellung, die des Überdenkens bedarf.”

Für alle, die es interessiert, hier der Routenplan für den Umweg. Ich fand diese Passage als Motto in Lisa Althers herzerfrischend unbefangenem Roman Hautkontakte (a. d. Am. v. Gisela Stege. Berlin – Frankfurt/M – Wien: Verlag Ullstein, 1977, S. 5), die sie wiederum der Sammlung alter sufistischer Geschichten von Idries Shah, Caravan Of Dreams, entnommen hat (London: The Octagon Press, 1968). Althers Buch habe ich mir erst neulich antiquarisch besorgt, weil ich eine kurze Episode daraus, Fesselnde Ehe, erneut mit Erfolg bei meiner Lesung in Oberhausen zum Besten gegeben hatte und gern einmal den Kontext kennenlernen wollte, in dem sie steht. Ich kannte diese groteske Geschichte um einen peinlich missglückten sexuellen Exzess, bei dem ein Paar Handschellen eine verhängnisvolle Rolle spielt, aus dem von Hermann Kinder herausgegebenen „Handbuch der literarischen Hocherotik”, Die klassische Sau (Zürich: Haffmans Verlag, 1986, S. 446-451), das ich 1986 von dem inzwischen verstorbenen Verlagsvertreter Jac Flessenkemper vor 23 Jahren zum Geburtstag geschenkt bekam. Jacs Widmung auf dem Vorsatz: „Trau keinem unter 30!”

Zurück zu al-Samarqandi. Der Gedanke, den er uns in aller Bescheidenheit ans Herz legt, ist ebenso schlicht wie berückend. Wenn man die Menschen nach ihrer Nationalität, nach ihrer Sprache oder ihrem Heimatland unterscheidet und hieraus Schlüsse auf ihre „Gebräuche und Denkschemata” ziehen zu können meint, dann ist es ebenso statthaft und sinnvoll, nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe zu fragen, denn diese ist mindestens ebenso prägend für ihr Verhalten und ihr Denken. Ich kann dieser Idee nur beipflichten, und dies sogar aus eigener Erfahrung, war ich doch unzweifelhaft in jenen 17 Jahren als Händler in einem offenen Ladengeschäft ein anderer Mensch als in den darauf folgenden zwölf Jahren, als ich einer Bürotätigkeit nachging.

Ich bin sogar davon überzeugt, dass es noch eine Reihe weiterer Gruppenzugehörigkeiten für jeden in der Zivilisation beheimateten Menschen gibt, von denen jede einzelne mehr Wirkung für seine „Gebräuche und Denkschemata” hat als seine Staatsangehörigkeit! Zum Beispiel sind Menschen ja nicht nur nebenbei Essende und Trinkende, weshalb Jean Anthèlme Brillat-Savarin im Aphorismus 4 zu seiner Physiologie des Geschmacks vielleicht etwas vollmundig erklärt hat: „Sage mir, was du ißt, und ich will dir sagen, was du bist!” (A. d. Frz. v. Emil Ludwig. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1979, S. 15.) Aber auch darum soll es hier nicht gehen, sondern um uns Menschen als Wohnende. Und was den Leser unter dieser Überschrift künftig erwartet, sind ein paar Beobachtungen und Gedankensplitter zu einer noch zu schreibenden „Psychophysiologie des Wohnens”.