Archive for April 3rd, 2009

Duftnote

Friday, 03. April 2009

Eine Zeit ohne Wörter heißt ein frühes Buch des Kölner Schriftstellers Jürgen Becker (*1932), eins der ersten Bücher überhaupt, die ich mir als fünfzehnjähriger Schüler von meinem Taschengeld gekauft habe. Wer will das wissen? Ich wüsste gern, wie ich damals dazu gekommen bin, mir von meinen paar Groschen ausgerechnet dieses Bilderbuch zu kaufen. (Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1971.)

Auf ungefähr 200 unpaginierten Seiten enthält Beckers Buch Schwarzweißfotos des Autors von Straßen und Häusern, Wiesen und Wäldern, Schienen und Mauern, Spiegelungen und Schatten. Menschen kommen vor, aber sozusagen nur am Rande. Ganz auf Wörter verzichtet das Buch nicht, auf einigen verstreuten durchnummerierten fotolosen Seiten erscheinen wenige Wörter, die wie Ankündigungen oder Titel der nachfolgenden Bilder gelesen werden können und vielleicht wollen: „Der letzte Satz in den Umgebungen.” „Dreißig Minuten in der alten Umgebung.” „Die näherkommende Katastrophe des Autobahnzubringerbaus” usw. bis „Gegenstand in der Dellbrücker Landschaft. Für meinen Vater und seine Familien.

Beckers Fotos sind nicht brillant, nicht professionell, keine Kunst. Vielleicht könnte man sie dokumentarisch nennen. Beim oberflächlichen Durchblättern baut sich vorübergehend diese oder jene Erwartung auf, wie das Ganze zu verstehen sein könnte, die aber an anderer Stelle und durch andere Fotos bald schon wieder enttäuscht wird. Das macht das Bilderbuch, ganz wie man es nimmt, zu einem frustrierenden oder gerade interessanten Coffee Table Book.

Die Tristesse, die von der überwiegenden Mehrzahl der Aufnahmen ausgeht, erschien mir seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, wie beißender Spott; eine Anklage gegen unsere bundesrepublikanische, eben beginnende Siebzigerjahrewelt, die ihre Zukunft schon damals hinter sich zu haben schien. Erst jetzt, in der vielbeschworenen „Krise”, wird diese vorzeitige Überlebtheit offenkundig, die feine Nasen frühzeitig erschnupperten. Insofern könnte man Beckers stilles Buch prophetisch nennen, wenn es denn eine Botschaft hätte.

Ich frage mich, ob man heute noch oder wieder solch ein Fotobuch machen könnte. Ob ich es könnte. Mit meinen Snapshots hatte ich ganz ursprünglich vielleicht so etwas vor. Ich bin vermutlich davon abgekommen, weil es mich zu sehr deprimierte, als meine Stimmung ohnehin nicht die beste war. Jetzt, da ich gelegentlich wieder lächle, kann ich in sparsamer Dosierung ein Trauerbild dieser Art einstellen. Wer’s nicht mag und nicht erträgt, möge die Augen niederschlagen.

Zufallsfund

Friday, 03. April 2009

Bei antiquarischen Buchbestellungen via Internet kauft man manchmal die Katze im Sack, falls nämlich die Beschreibung des ersehnten Buches lückenhaft ist. Dann gibt es lange Gesichter, wenn mehr oder weniger versteckte Mängel – vom Eselsohr bis zur Kugelschreiberwidmung auf der Titelseite: „Ewig bleipst Du unvergesslich Deine Elly aus Kirchhellen zum Weihnachts-Feste 1956″ – die Freude an einer Erstausgabe von Jürgen Thorwalds Das Jahrhundert der Chirurgen dämpfen.

Gelegentlich, leider nur sehr selten, werden solche Enttäuschungen aber kompensiert durch unerwartete Vorzüge eines alten Buches, die gewiss auch dem anbietenden Antiquar entgangen sind, denn sonst hätte er ein Vielfaches des Preises verlangen dürfen und zweifellos auch erhalten.

Soeben traf – ich kann aus verständlichen Gründen leider nicht präziser werden – die illustrierte Ausgabe eines weniger bekannten expressionistischen Lyrikers bei mir ein, die mich unmittelbar nach dem Auspacken nicht gerade zu Ausrufen der Begeisterung hinriss. Der dunkelblaue Pappeinband war im oberen Drittel durch Sonnenlicht ausgeblichen. Zudem haftete dem Bändchen ein intensiver Kellergeruch an. Beides hatte die Beschreibung des Anbieters im Katalog unterschlagen.

Lustlos blätterte ich das Büchlein durch, um zu prüfen, ob wenigstens die zwölf Stahlstiche vollständig und unversehrt enthalten seien, als plötzlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier herausfiel und vor mir auf dem Boden landete.

Um es kurz zu machen: Es handelt sich um einen handschriftlichen Brief des Philosophen und Zivilisationskritikers Günther Anders vom 10. Dezember 1982 (Ausschnitt s. Titelbild). Wenn man weiß, wie sehr ich diesen Autor schätze, wird man begreifen, dass mich dieser Zufall geradezu in einen Freudentaumel versetzte. Damit ist mancher Ramsch, den in den letzten Monaten weniger freundliche Stimmungen des Schicksals in meine Bibliothek gespült haben, gnädig verziehen. Und nun scheint sich endlich auch der Frühling durchzusetzen. Vielleicht wird 2009 ja doch ein ertragreiches Jahr?