Stubenbrand

Neulich traf ich eine alte Bekannte, die mir von einem schweren Schicksalsschlag berichtete. Sie hatte bei einem Brand ihrer Wohnung buchstäblich alles verloren. Oder, wie sie es ausdrückte: „Alles bis auf mein Leben, die paar Sachen, die ich auf dem Leib trug – und mein Auto, mit dem ich gerade unterwegs war, als sich der Kurzschluss ereignete.” Ich wollte gerade weit ausholen und sie in phantasievoller Detailfreude bedauern, denn ich erinnerte mich sofort an eine Vielzahl beneidenswert schöner Dinge in ihrem Haushalt, an eine Standuhr etwa, ein Erbstück vom Urgroßvater mütterlicherseits, oder an eine Erstausgabe von Koeppens Tauben im Gras, mit einer sehr ungewöhnlichen Widmung des Autors. „Du wirst lachen”, fiel sie mir ins Wort, „aber ich bin schon längst darüber hinweg. Und ich habe mich lange nicht mehr so frei und unbeschwert, so voller Tatendrang und Lebenslust gefühlt wie in den letzten Wochen. Es ist wie ein radikaler Neubeginn, die ganz große Chance, meinen Alltag von Grund auf neu zu ordnen.”

Ein paar Tage später besuchte ich sie in ihrem neuen Heim, einer kleinen Wohnung unterm Dach eines Altbaus, sehr hell, sehr still – und sehr leer. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, ein schmaler Spind; in der winzigen Küche ein Gasherd, ein Waschbecken, eine Art Anrichte und der unentbehrliche Kühlschrank, der allerdings etwas aus dem Rahmen fiel. „Den hatte ich kurz vor der Katastrophe neu bestellt und er war glücklicherweise noch nicht geliefert worden. Der Rest ist, wie du siehst, gebrauchter Kram, von Freunden, vom Flohmarkt und vom Sperrmüll.” Erstaunlicherweise schien mir das Dachstübchen geräumiger als die frühere, vergleichsweise geradezu weitläufige Wohnung meiner Bekannten, in der man ständig auf der Hut sein musste, nicht über eins ihrer ausgesucht dekorativen und gewiss wertvollen Möbelstücke zu stolpern.

Ich wurde zwar im weiteren Verlauf unserer Unterhaltung den Verdacht nicht ganz los, dass sie sich mit ihrem Bekenntnis zu diesem geradezu mönchischen neuen Dasein über den Schmerz des Verlustes hinwegtrösten wollte. Andererseits war nicht zu leugnen, dass ich sie lange nicht mehr so aufgeräumt und ausgeglichen erlebt hatte wie an diesem Abend. Und unser Gespräch war erstaunlich „konzis”, wenn das das richtige Wort ist; man könnte vielleicht auch sagen: „unabgelenkt”. Ich trank dazu ein Glas Wasser aus dem Kran, was mir als sehr passend erschien.

Ein paar Tage nach diesem eindrucksvollen Antrittsbesuch in der neuen Wohnung meiner Bekannten stürzte mein Rechner ab. Auch dies war in gewisser Weise ein „Stubenbrand”, bei dem allerlei überflüssige „Einrichtungsgegenstände” unwiederbringlich verloren gingen: Textdateien, E-Mails, Adressen und manches mehr. Nach dem ersten Schreck nahm auch ich diese unfreiwillige Entrümpelung meines virtuellen Arbeitszimmers als eine willkommene Gelegenheit an, mein Tagwerk völlig neu einzurichten. Das hat mich knapp zwei Wochen gekostet, in denen ich nahezu mit nichts anderem beschäftigt war.

Die neue Übersichtlichkeit auf Festplatte und Monitor bewirkt durchaus eine erfreuliche Klarheit der Gedanken. Mit dem alten Archiv sind auch seine Ordnungssysteme auf Nimmerwiedersehen versunken und ich kann mir jetzt ganz neue ausdenken, die die zu spät erkannten Schwächen der alten vermeiden. Heute, um nur ein Beispiel zu nennen, lege ich mir gerade neue „Lesezeichen” in meinem Internet-Browser an. Im Ordner „Medien” etwa hatte ich vor dem Absturz die Links zu mindestens 50 Online-Auftritten nationaler und internationaler Zeitungen abgelegt, von der WAZ bis zur New York Post. Völlig überflüssig! Jetzt habe ich mich auf ein knappes Dutzend beschränkt. Ich ahne allerdings, dass in ein paar Jahren der schleichende Wildwuchs diese wohltuende Übersichtlichkeit wieder zunichte gemacht haben wird. Aber dann wird vermutlich, hoffentlich wieder ein Kurzschluss im System für Tabula rasa sorgen.