Der kleine Stowasser

Manche Autoren und Herausgeber waren mit ihren Nachschlagewerken so erfolgreich, dass ihr Familienname mit den Jahren zum Markenzeichen geworden ist und in seltenen Fällen gar für eine ganze Gattung steht. So steht Baedeker geradezu als Synonym für Reiseführer, Brockhaus für Lexika, Duden für deutsche Wörterbücher, Diercke für den Schulatlas – oder eben der Stowasser fürs Schulwörterbuch im Fach Latein. Erstmals im Jahre 1894 von dem Wiener Gymnasiallehrer Joseph Maria Stowasser in den Verlagen von Georg Freytag (Leipzig) und Friedrich Tempsky (Prag und Wien) herausgegeben, erschien es seither in regelmäßigen Neubearbeitungen als das Standardwerk seiner Art. So ist der Kleine Stowasser bis heute jedem „alten Lateiner” und jedem jungen Pennäler ein Begriff und nach wie vor auf dem Weg zum Großen Latinum ein stets zuverlässiger Begleiter.

Habe ich da nicht einen schönen Werbetext zusammenfabuliert? Dabei bedürfen Bücher wie die zuletzt genannten ja gar keiner Reklame. Ihre Anschaffung wird den Schülern traditionell zwangsweise auferlegt, und Bücher, die man erwerben muss, sind in aller Regel selbst dann unbeliebt, wenn die Kosten dank Lernmittelfreiheit der Staat übernimmt. Zudem war das Erlernen einer „toten” Sprache wie Latein noch nie sonderlich populär. Und wenn ich mir mein Exemplar des Kleinen Stowasser aus dem Jahr 1968 ansehe, so war dieses Buch schon rein äußerlich kaum dazu angetan, die Abneigung gegen dieses schrecklich verstaubte Schulfach zu mildern. Die deutschen Wörter waren damals noch in Fraktur gesetzt, um sie von den lateinischen deutlich abzuheben. Was für die Schüler vor dem Zweiten Weltkrieg eine Erleichterung bei der Handhabung des Wörterverzeichnisses gewesen sein mag, war für uns eine zusätzliche Schikane, denn diese sonderbare Druckschrift, bei der man zum Beispiel z und g leicht verwechseln konnte und es zwei verschiedene s gab, von denen das eine wie f aussah, las man sonst nirgendwo mehr.

Seit Ende der 1970er-Jahre setzte sich dann sogar in diesem altehrwürdigen Schulbuchverlag allmählich ein fortschrittlicher Geist durch. Unter der Gesamtredaktion von Hubert Reitterer und Wilfried Winkler erschien 1979 ein völlig neu bearbeiteter Kleiner Stowasser, erstmals ohne Frakturschrift. (Seither sind lateinische Wörter im Stowasser in Antiqua und deutsche in Grotesk gesetzt.) Und weitere 15 Jahre später hatte sogar ein kreativer Kopf in der Werbeabteilung des Verlags den originellen Einfall, den österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser (1928-2000), einen entfernten Verwandten des Altphilologen Stowasser, mit der Gestaltung des Einbandes [s. Titelbild] zu beauftragen, nachdem das kauzige Multitalent schon 1989 durch eine Sonderausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie als Buchkünstler hervorgetreten war. (Seinen Künstlernamen leitete Hundertwasser vom russischen Wort sto ab, das „hundert” bedeutet.)

Ich beneide die heutigen Schüler um dieses wunderschöne Wörterbuch, in dem ich stundenlang blättern und schmökern könnte, allein schon, weil es mir Spaß macht, versteckte Wurzeln nur scheinbar ursprünglich deutscher Wörter im Lateinischen zu entdecken. Ich bin mit einem mittelprächtigen Kleinen Latinum vom Gymnasium abgegangen und daher heute leider nicht in der Lage, die Oden des Horaz im Original zu lesen. Aber obwohl ich das deutsche Sprichwort vom Hans kenne, der nimmermehr lernt, was er als Hänschen nicht gelernt hat, will ich mich mit meinen zahlreichen Bildungsbeschränkungen nicht abfinden. Mein jüngster Sohn hat Nachhilfe in Latein nötig. Mal sehen, wie weit ich ihm helfen kann.

Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch von J. M. Stowasser, M. Petschenig u. F. Skutsch. Gesamtredaktion: Fritz Lošek. München: Oldenbourg Schulbuchverlag, 2006. – XXXIV & 574 S., 17,0 x 24,0 cm, Leinwand, Fadenheftung. – Originalpreis: 24,95 €.

One Response to “Der kleine Stowasser”

  1. Matta Schimanski Says:

    Unserer ist rot. Ich erstand ihn einst mit Preisnachlass auf der didacta. Da war ich sehr stolz auf meinen Coup.

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