Henne oder Ei

Als eine westliche Literaturwissenschaftlerin den chinesischen Romancier Qian Zhongshu (1919-1998) besuchen wollte, riet dieser ihr am Telefon dringend davon ab, mit der Begründung, „wenn einem ein Ei geschmeckt habe, müsse man nicht unbedingt die Henne besuchen.” (Monika Motsch im Nachwort zu Qian Zhongshu: Die umzingelte Festung. A. d. Chin. v. Monika Motsch u. Jerome Shih. Insel: Frankfurt am Main, 1988; hier zit. nach Christoph Bartmann: Die Freude des begnadigten Verbrechers; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 47 v. 26. Februar 2009, S. 14.)

Dieses schlitzäugige Understatement! Diese asiatische Bescheidenheit! Bewundernswert. Und dabei sehr geschäftstüchtig, denn kein Werbetext für das Buch und keine Rezension kommt ohne die Anekdote mit dem Henne-Ei-Autor-Buch-Vergleich aus.

Aber was will uns Qian Zhongshu hier weismachen? Dass die „Geschmacksvielfalt” von Romanen ähnlich begrenzt ist wie die von Eiern, nämlich auf die zwei Geschmacksrichtungen „wohlschmeckend” und „nicht wohlschmeckend”? Nun gut, es gibt verschiedene Arten, Eier zuzubereiten. Aber wenn mir ein mit ungewöhnlichem Geschick besonders appetitlich zubereitetes Ei gut schmecken würde, dann käme ich nicht auf die Idee, die Henne kennenlernen zu wollen, sondern wenn schon dann den Koch.

Ein Ei gleicht dem anderen, die Ähnlichkeit von Eiern ist nicht umsonst sprichwörtlich. Aber niemandem fiele wohl ein, von zwei Romanen, egal welchen, zu sagen, dass sie sich glichen wie ein Ei dem anderen.

Der Autor wollte keine Auskunft über sich geben. Das kann viele Gründe gehabt haben und ist wahrlich kein Einzelfall. Autoren, die zu wenig von sich preisgeben, sind mir aber allemal lieber als solche, die es damit übertreiben. Auch wenn das Gleichnis vom Ei und der Henne etwas schief hängt, ist mir solche Zurückhaltung unbedingt sympathischer als der abgestandene Bericht vom Unterwegssein eines eitlen und selbstgerechten Deutschen von Deutschland nach Deutschland. Insofern wäre Qian Zhongshu der Literaturnobelpreis des Jahres 1999 zu gönnen gewesen. Den hat wohl nur deshalb ein anderer erhalten, weil der Chinese im Jahr zuvor verstarb.