Turm

Heute, am Monatsletzten, beende ich die Bettlektüre eines Buches, die ich am Neujahrstag begonnen habe: Uwe Tellkamps Der Turm (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008). Der Roman bringt es auf knapp tausend Seiten und ist insofern eigentlich als literarisches Betthupferl aufgrund rein orthopädischer Bedenken eher ungeeignet. Dass ich dennoch vorm Einschlafen im Tagesdurchschnitt rund dreißig Seiten „geschafft” habe, obwohl mir gelegentlich ein bleiernes Gefühl in die Arme schlich, spricht immerhin für den Unterhaltungswert dieses, um die Verlagswerbung zu zitieren, „monumentalen Panoramas der untergehenden DDR”.

Die Kritik war sich einig, dass der Bachmann-Preisträger des Jahres 2004 damit wenn nicht sein Meisterwerk, so doch sein respektables Gesellenstück abgeliefert hat. Sie hat aber nach meinem Urteil nicht deutlich genug gemacht, dass Tellkamp mit diesem opulenten Buch den Versuch gewagt hat, die ehrwürdige Tradition des bürgerlichen Familienromans à la Buddenbrooks und die seit James Joyce florierende Erzähltechnik der Montage gänzlich disparater Stilmittel zum stimmigen Bild eines untergegangenen realsozialistischen Deutschen Reichs zu legieren. (Sabine Franke zählt in ihrer Rezension für die Frankfurter Rundschau „Briefe, Träume, Rückblenden, Fakten und konventionelle Erzählpassagen” auf; dabei sind es doch noch weitaus mehr.) Und diese vom vergleichsweise hohen Rang des Romans faszinierte Kritik vergisst leider zu erwähnen, dass der ebenso fleißige wie belesene Autor sich bei diesem Spagat letztlich die Beine ausreißt.

Dass Der Turm zudem noch als ein Schlüsselroman daherkommt, nimmt mich eher gegen ihn ein – denn neben meiner täglichen Pynchon-Lektüre möchte ich zu nachtschlafender Zeit eigentlich nicht mehr den Rechner anschmeißen, um dahinterzukommen, dass sich hinter Baron Arbogast kein Geringerer als Manfred von Ardenne verbirgt, Jochen und Philipp Londoner Vater und Sohn Kuczynski zum Vorbild haben und mit dem RA Sperber des Romans nur der mittlerweile verstorbene Manfred Vogel gemeint sein kann, der im Agentenschacher des Kalten Krieges eine unvergesslich-zwielichtige Rolle spielte.

Tellkamps mit langem Atem geschriebenes magnum opus ist, bei allen Einwänden gegen seine möglicherweise anbiedernde, effekthascherische Schreibe, nur selten langatmig. Ich bin immerhin gespannt, ob dieses bemerkenswerte Talent sich noch zu einem opus summum aufschwingen wird; hoffentlich ganz anders als Thomas Mann mit seiner Joseph-Tetralogie, die im bitteren Geschehen der fernen Völkerschlacht – meine Heimatstadt Essen wurde dem Erdboden gleichgemacht – keine andere Heimstatt finden konnte als in den Geborgenheiten schimmelnder Traditionen. Während dies geschah, löffelte der geistheilige Thomas Mann zitronensaftgewürzte Austern in seiner Villa in Pacific Palisades.

Auch wir intellektuellen Überflieger – wie Goebbels sagte: die „Intelligenzbestien” – müssen uns doch nicht bis zum Jüngsten Gericht gedulden, an dem wir das Scherbengericht zusammentragen. Da warten wir stattdessen lieber auf eine Erleuchtung, die sich von Traditionen gleich welcher Art freigemacht hat – noch im Diesseits.

7 Responses to “Turm”

  1. Günter Landsberger Says:

    Auf Thomas Mann – noch dazu nicht ohne Häme – einzudreschen, mag ja chic sein, aber warum nur immer wieder gerade bei Dir, einem doch zweifellos intelligenten Menschen, diese unintelligente Wut gegen ihn?

    In literarischen Kreisen wird er ohnehin schon lange nicht mehr als der “Großschriftsteller” verehrt, eher schon als solcher gebrandmarkt. Und seine gegenwärtige Vermarktung ist doch vielleicht nur die Kehrseite dieser Medaille.

    Wie viele Leute haben denn die Joseph-Tetralogie wirklich gelesen?
    Du denn?

    (Und: Wann wurde denn die Arbeit an ihr von Thomas Mann begonnen? Du verwechselst vom Abfassungszeitraum her doch nicht den “Doktor Faustus” damit? –

    Abgesehen davon, dass er da in den “Joseph”-Romanen wohl ganz bewusst ein ehrgeiziges Projekt schon des jungen Goethe auf seine eigene Weise ausgeführt hat. Und ist denn das Projekt einer “Humanisierung des Mythos” zu Beginn der doch wohl immer wieder verhängnisvoll im Mythischen wabernden Barbarei des Nationalsozialismus nicht legitim? Und nicht auch seine entschiedene Fortführung des Projekts unter dem realgeschichtlichen Eindruck des Rooseveltschen “New Deal”?)

  2. Revierflaneur Says:

    “Eindreschen” ist, wenn man sich den dazu passenden Flegel vor Augen hält, doch eigentlich schon ein so kraftvoller und gewalttätiger Vorgang, dass das bisschen Häme dem auch nicht mehr viel hinzufügt – weshalb ich Dein “noch dazu” nicht recht verstehe. Thomas Mann bringt mich nicht in Wut, ob intelligente oder unintelligente, er lässt mich mittlerweile völlig gleichgültig. Früher empfand ich zeitweise eine kalte Verachtung für diesen bornierten Grandseigneur und vorsintflutlichen Patriarchen. Schon recht, es sind hauptsächlich biographische Ekligkeiten, die sein Werk für mich ungenießbar machen. (Aus ähnlichen Gründen sind mir etwa auch Ernst Jünger und Gottfried Benn ungenießbar.) Allein schon, was Thomas Mann zum Tode Theodor Lessings anmerkte, wäre hinreichend, diesen Namen aus meiner Leseliste zu streichen. Am 1. August 1992 habe ich alle meine damaligen Vorbehalte in meiner XXXVIII. Literarischen Soire, Ein schiefes Bild von Thomas Mann, zusammengefasst. (Mittlerweile sind noch weitere ernste Bedenken hinzugekommen. Vielleicht veranstalte ich demnächst mal eine Neuauflage.)

    Abgeschlossen wurde der Joseph-Roman 1943 im kalifornischen Exil. Ich habe drei Versuche überlebt, mich diesem “Großwerk” anzunähern, einen vierten werde ich mir mit Rücksicht auf mein schwaches Herz ersparen. Das ist in meinen Augen Schnee von gestern! Wie Du schon sagst: Wäre Mann ein jüngerer Zeitgenosse Goethes, könnte man seinem Dickbuch vielleicht Beifall zollen. Er ist aber ein Zeitgenosse von James Joyce, Robert Musil, Hermann Broch, Marcel Proust und Franz Kafka – und im Vergleich zu diesen Großepikern der Moderne fällt er doch deutlich ab, wie ich meine. Seine berühmte “feine Ironie”, die doch bei näherer Betrachtung nur ein Ausweichen vor klaren Antworten ist; seine distinguierte Großbürgerattitüde; seine familiären Privilegien (“Pssst! Der Herr Mann schreibt!”); und schließlich sein erbärmlich langes Zögern bis zum endgültigen Bruch mit den Nazis – all das trägt nicht gerade dazu bei, mein Herz für dieses verwöhnte Lübecker Bürgersöhnchen zu erwärmen.

    Zudem ist die Zeit ja knapp. Die Lese- wie die Lebenszeit. Jeder muss wissen, wie er sie sich einteilt und womit er sie sich vertreibt. Ich kenne freilich den Effekt, dass mancher Leser, der sich durch ein paar hundert oder gar tausend Seiten gequält hat, anschließend seine Lektüre lieber mit Zähnen und Klauen verteidigt, und sei’s mit dem Verweis auf eine “Fortführung des Projekts unter dem realgeschichtlichen Eindruck des Rooseveltschen ‘New Deal'”, als sich selbst einzugestehen, dass diese Lektüre, angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen einer ganz anderen Zeit, doch reinste Verschwendung war.

    Aber da muss jeder selbst wissen, wohin er sein schwankendes Bötchen manövriert.

  3. Revierflaneur Says:

    Übrigens fällt mir da gerade noch die Gegenfrage ein: Hast Du, lieber Günter, denn den “Turm” von Tellkamp gelesen, um den es doch hier eigentlich vorrangig ging? Dein Urteil dazu würde mich jedenfalls wesentlich mehr interessieren als Dein Fahneneid auf den die “Moralkuh” melkenden Tomi (Theodor Lessing). Du bist doch ein intelligenter, humanistisch gebildeter Mensch und gewiss darüber erhaben, Deine vielbelesenen Literaturkenntnisse hier und anderswo aus eitlen Beweggründen zur Schau stellen zu müssen. Lass jucken, Kumpel! Wie fandest Du denn nun Tellkamps Gesellenstück?

  4. Günter Landsberger Says:

    Ich habe den “Turm” von Tellkamp vor einigen Wochen zu lesen begonnen, mit dem Ziel, sehr bald konzentriert von Anfang an wieder auf ihn zurückzukommen. Denn es scheint sich zu lohnen. Das Thema interessiert mich alle Male. – Im Moment liest diesen Roman meine Frau.

    Anders als die meisten anderen Werke von Thomas Mann – dessen unleugbare Macken (aber welcher Schriftsteller hat nicht irgendwelche?) ich nebenbei nicht für ausschlaggebend für eine gerechte Beurteilung halte, (auch dem sonst doch so hellsichtigen Bruder Heinrich Mann sehe ich ja seine zeitweilige Naivität gegenüber Stalin und der Sowjetunion bei einer Gesamtwürdigung nach) –
    habe ich die “Joseph”-Romane nie gelesen, sondern sie mir bewusst aufgespart – wie so einiges.

    Zwischendurch habe ich vor kurzem das schmale Werk von Leonid Dobytschin unter die Lupe genommen. Zuvor hatte ich mich mal wieder mit Schostakowitsch beschäftigt, insbesondere mit seiner 10. Symphonie. Beides (D. und S.) hatte sich sehr gut ergänzt.

  5. Günter Landsberger Says:

    Meine Achtung und Hochschätzung des S c h r i f t s t e l l e r s Thomas Mann ist gegen mein eigenes Vorurteil und gegen das kritische Wort meines Vaters, er schreibe ihm (spätestens nach der Veröffentlichung der “Buddenbrooks”) zu manieriert, entstanden. Meine Hauptbeschäftigung mit seinem Werk liegt schon 34 Jahre zurück. Aber ich habe ihn im Auge behalten.
    Gegen die von Dir genannten Schriftsteller würde ich ihn nicht ausspielen. Ich würde jedem sein Eigenrecht zubilligen, die eine kleinere oder größere Facette im Gesamtspektrum wäre.
    In meiner Aufzählung würden im Übrigen Alfred Döblin, Joseph Roth und Hanns Henny Jahnn nicht fehlen.

  6. Günter Landsberger Says:

    Korrektur:
    “34 Jahre” war falsch; “44 Jahre” wäre richtig. – Mein Gott (!), bin ich schon alt geworden.

  7. Günter Landsberger Says:

    Der längere Abschnitt über Thomas Manns Josephs-Tetralogie (= “Thomas Manns Roman “Joseph, der Ernährer” huldigt Roosevelt in biblischer Verkleidung”) im Aufsatz “Roosevelt, der Ernährer / Früchte des Depressionszorns: Wie der New Deal die Künste im Kampf gegen die Wirtschaftskrise mobilisierte” von Willi Winkler wird Dir, lieber Manuel, sicher nicht entgangen sein. Er steht in der Süddeutschen Zeitung von heute im Feuilleton auf S. 11.

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