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Narratorium

Sunday, 28. December 2008

Ulrich Holbein (* 1953), der Eremit im Knüllgebirge, hat in den vergangenen zwanzig Jahren gut zwei Dutzend Bücher geschrieben, die allesamt auf ebenso eigenwillige wie eindringliche Weise Zeugnis von seiner exzentrischen Belesenheit ablegen. Nun hat er uns zu Weihnachten mit einem fast zwei Kilo wiegenden Personenlexikon besch(w)ert: Narratorium. Abenteurer · Blödelbarden · Clowns · Diven · Einsiedler · Fischprediger · Gottessöhne · Huren · Ikonen · Joker · Kratzbürsten · Lustmolche · Menschenfischer · Nobody · Oberbonzen · Psychonauten · Querulanten · Rattenfänger · Scharlatane · Theosophinnen · Urmütter · Verlierer · Wortführer · Yogis · Zuchthäusler. (Zürich: Ammann Verlag, 2008.)

Fast jedes dieser „255 Lebensbilder” folgt einem strengen lexikalischen Muster. Auf den Namen des Narren (z. B. Jiddu Krishnamurti) folgen: eine Aufzählung seiner Spezifikationen resp. Qualifikationen resp. Professionen (hier: „Quasimessias, Weisheitsdozent, Weltlehrer, Vortragsdenker, Seelenretter, Guruismuskritiker, Edelguru”), die Lebensdaten (in diesem Falle 1895-1986); eine sehr ausführliche und sehr subjektive Nacherzählung von allem, was im Lebenslauf, in den Taten und Lehren des Porträtierten vom Mittelmaß und gesunden Menschenverstand abweicht; Worte des jeweiligen Narren (hier beispielsweise: „Meiner Ansicht nach haben Glaubensinhalte, Religionen, Dogmen und Überzeugungen nichts mit Leben zu tun und somit auch nichts mit Wahrheit”); Worte des Narren über sich selbst („Ich bin wie die Blume, die ihren Duft der Morgenluft weiht”); und schließlich Worte anderer über ihn: „Die Unbeteiligten spotteten darüber, daß der neue Weltheiland in einem Hotel ersten Ranges wohne, moderne Anzüge trage und Tennis spiele.” Das soll ein Rudolf Olten 1932 gesagt haben, auf genauere Quellenangaben und Zitatnachweise verzichtet das bequemerweise (aus Sicht des Autors und seines Verlages), unbequemerweise (aus Sicht des Lesers) bei allem Fleiß reichlich hemdsärmelig daherkommende Nachschlagewerk leider ganz. So muss man dann schon zufällig wissen und kombinieren können, dass hier wohl Rudolf Olden (1885-1940) gemeint und das Zitat offenbar aus dessen Sammlung Propheten in deutscher Krise (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1932) entnommen ist.

Als ich vor ein paar Wochen auf diese Schwarte aufmerksam gemacht wurde, schwankte ich für kurze Zeit zwischen Hoffen und Bangen, ob sie mein gerade erst gestartetes Projekt „Eccentrics” durch zahlreiche Übereinstimmungen bestätigen oder ihm gar den Rang abgelaufen haben könnte. Mitnichten! Weder Siemsen noch Baggesen, weder der liquidierte Dodo noch der selbsttrepanierte Bart Huges, weder der Essener Pferde- noch der ebendort zwitschernde Leierkastenmann, von Franz Gsellmann, Oskar Panizza, Alexandre „Marius” Jacob oder Helmut Salzinger ganz zu schweigen, kommen bei Holbein vor. Einzig den „Auswanderer, Sonnenanbeter, Gemüseverneiner, Extrem-Vegetarier, Kokosnußprediger, Kokovorist, Welterlöser” August Engelhardt (S. 284 f.) haben wir bislang gemeinsam auf unserer Liste. (Zugegeben: Ich las diesen Artikel mit höchstem Vergnügen!)

Der Grund liegt auf der Hand. Ulrich Holbein erntet hauptsächlich die verzückten Gottgläubigen ab, während ich deren sehr spezielles Spinnertum, Godzillas abstruse Geisteskindschaften, keiner eingehenderen Betrachtung für würdig erachte. Irritiert hat mich allerdings, dass er auch Günther Anders (S. 38 ff.) in seinem chaotischen Heiligenlexikon kanonisiert. Aber da dort auch (S. 151 f.) ein mir bisher gänzlich unbekannter Dieter Bohlen auftaucht, schreibe ich diesen Ausreißer gnädig einer willkürlich waltenden Beliebigkeit zu.

Abschließend sei immerhin, als eine Art Versöhnungsangebot, noch angemerkt, dass das dicke Buch von Ulrich Holbein mit allerlei beeindruckenden Bildcollagen des Autors verziert ist, von denen mir die im Titelbild gezeigte, Theodor Lessing hinter Truthahn und Silbermops, besonders gut gefallen hat.

[Mit Dank an Bernd Berke für den Hinweis auf Holbeins Buch.]