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Dingwelt (VII)

Tuesday, 23. December 2008

Seit frühester Kindheit litt ich unter zwei körperlichen Beeinträchtigungen: unter Migräneanfällen und deformierten Füßen. Ich war sozusagen von Kopf bis Fuß auf Leiden eingestellt. Seit meinem virilen Klimakterium haben sich die Kopfschmerzattacken verabschiedet, die Füße hingegen belästigen mich nach wie vor auf Schritt und Tritt. Weil die Orthopädie in den 1960er-Jahren gegen Hohlfüße kein anderes Mittel als das Messer des Chirurgen kannte, wurde ich im Essener Klinikum zwei wenig erfolgreichen Operationen unterzogen. Seither trage ich orthopädische Maßschuhe, in denen ich mich leidlich schmerzfrei durch die hart gepflasterte Stadtlandschaft meiner Heimat bewegen kann.

Am 20. Februar des nun zu Ende gehenden Jahres erkühnte ich mich, das Foto eines meiner nackten Füße als stummes Merkmal über einen Beitrag zu stellen, den ich damals noch im Kulturblog der WAZ-Mediengruppe, bei Westropolis, veröffentlichte. Shocking! Die empörten Kommentare zu diesem Tabubruch in einer geleckten und geschniegelten Öffentlichkeit, in der die traurige Wahrheit kranker Füße keine Chance hat gegen den falschen Schein adretter Hutmoden – diese Kommentare lassen noch heute mein Herz hüpfen und machen mich stolz, hier offenbar eine Grenze überschritten zu haben.

„Schuster, bleib bei deinen Leisten!” – Im Internet gibt es einen Streit darüber, ob es nun „deinen” oder „deinem” heißen muss. So kann nur fragen, wer nicht weiß, was ein Leisten eigentlich ist. Schusterleisten sind Formstücke aus Holz, Kunststoff oder Metall, die zum Bau eines Schuhpaars verwendet werden, mithin möglichst originalgetreue Nachbildungen der beiden Füße, für die und um die die zwei Schuhe gebaut werden sollen. Da aber gewöhnliche Menschen üblicherweise zwei Füße haben und somit zwei Schuhe benötigen, kann nur der Plural richtig sein. Ich habe meinem orthopädischen Schuhmacher seit nun mehr als fünfunddreißig Jahren die Treue gehalten, weil er „meine” Leisten, die Abbilder meiner verkrüppelten Füße, in seinem Leistenlager aufbewahrt.

Was es für einen Fußkranken wie mich jeweils bedeutet, aus den ausgelatschten Schuhen der vergangenen Jahre, links im Bild, in die neu gebauten zu wechseln, rechts im Bild – diesen überaus schmerzvollen Vorgang kann vermutlich nur ein Leidensgefährte nachvollziehen, so es denn einen solchen hier überhaupt gibt. Und was diese körperliche Beeinträchtigung im Laufe einer jugendlichen Biographie bedeutet, wenn man beim Hundertmeterlauf regelmäßig als Letzter auf der Strecke bleibt, das steht ohnehin in den Sternen. Aber ich will mich ja nicht beklagen.

Meine vermeintlichen Defizite sind schon immer meine tatsächlichen Vorzüge gewesen.