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Voynich

Thursday, 11. December 2008

Kennedy und Churchill haben gemeinsam ein Buch darüber geschrieben; ein Dutzend ehrgeiziger Kryptoanalytiker ist in den vergangenen hundert Jahren an dem Versuch gescheitert, es zu entschlüsseln; seine Provenienz ist nur lückenhaft rekonstruierbar; und bis heute streiten sich die Gelehrten, ob es sich um das Werk eines Wahnsinnigen, eines Fälschers oder eines genialen Geistes handelt – das Voynich-Manuskript, eines der rätselhaftesten Schriftstücke der Literaturgeschichte, das heute unter der Katalognummer MS 408 in der „Beinecke Rare Book and Manuscript Library” der Yale University in New Haven (CT) aufbewahrt wird.

Als der Londoner Antiquar Wilfrid Michael Voynich (1865-1930) dieses äußerlich unscheinbare Buch 1912 in einer Sammlung kostbar illuminierter Handschriften in der Villa Mondragone bei Rom entdeckte, hatte er nach eigenem Bekenntnis spontan den Eindruck, auf etwas ganz Außergewöhnliches gestoßen zu sein: „Es war ein so hässliches Entlein, verglichen mit den anderen, mit Gold und Farben reich verzierten Manuskripten, dass meine Neugier sogleich erregt war.” (A Preliminary Sketch of the History of the Roger Bacon Cipher Manuscript; in: Transactions of the College of Physicians of Philadelphia. Serie 3. Baltimore 43.1916, S. 415; dt. Übers. nach Wikipedia.)

Das in Pergament eingebundene Werk trägt weder einen Titel noch einen Autorenvermerk. Auf über hundert Seiten sind kolorierte Federzeichnungen von Pflanzen, Tieren, Menschen und astronomischen Konstellationen zu sehen, kommentiert in einer völlig unbekannten und bis heute nicht entzifferten, nirgends sonst woher vertrauten Schrift [siehe Titelbild].

Selbst die Entstehungszeit des Manuskripts ist nach wie vor umstritten. Während ein Expertenteam das Konvolut jüngst aufgrund von Material und Schreibstil auf etwa 1500 n. Chr. datierte, trauen andere Forscher dem namengebenden „Entdecker” Voynich zu, das nur vorgeblich uralte Dokument höchstpersönlich gefälscht zu haben. Unwillkürlich musste ich bei solchen weitgespannten Spekulationen an Arno Schmidts Radio-Essay über Das Buch Mormon (1961) denken.

Spätestens seit der lange unmöglich scheinenden – und schließlich doch dem Franzosen Jean-François Champollion (1790-1828) dank dem „Stein von Rosetta” 1822 geglückten – Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen üben unverständliche Schriftzeichen eine magische Wirkung auf uns aus. Je länger die geheimnisvollen Symbole unserer forschenden Neugier widerstehen, desto mehr ziehen sie uns in ihren Bann. – Leider ist das umfassendste Buch zum Voynich-Manuskript in deutscher Sprache zurzeit weder regulär noch antiquarisch lieferbar. (Gerry Kennedy und Rob Churchill: Der Voynich-Code. Das Buch, das niemand lesen kann. A. d. Engl. v. Hainer Kober. Berlin: Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 2005.)