Überschwemmung

Die tägliche Nachrichtenflut aus den Massenmedien ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits gibt es kaum noch „weiße Flecken” auf der aktuellen Landkarte des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Tagesgeschehens. Durch die globale Vernetzung der Informationskanäle bleibt kein noch so unbedeutendes „Ereignis” dem, der es zur Kenntnis nehmen will, verborgen. Wenn mich beispielsweise interessiert, wie ein spezielles Cricket-Match in Neuseeland ausgegangen ist, dann bin ich darüber via Internet binnen kürzester Zeit auf dem Laufenden. So weit, so gut.

Andererseits führt diese permanente Überflutung unserer Sinne mit Informationen in Bild, Ton und Text aber dazu, dass sich die Nachrichten in unserem Bewusstsein gegenseitig neutralisieren. Was wirklich wichtig ist für mich als freies Individuum und wesentlich für die Spezies, der ich angehöre, geht im reißenden Strom der Banalitäten unter. Hinzu kommt, dass in den Medien – und insbesondere im TV, das trotz Internet immer noch das weltweit meistgenutzte Informationsmittel ist – die Grenzen zwischen Fiktion und Realität ebenso verwischt sind wie die zwischen Nachricht und Werbung. Wenn man Augen und Ohren ohne Zwischenschaltung eines sehr feinen Filters aufsperrt, dann bleibt von der Message der Medien nicht mehr als ein Weißes Rauschen. Aber wer schafft es schon, die wenigen Weizenkörner aus den Bergen von Spreu auszusieben?

Und noch eine dritte Wahrnehmungstrübung verhindert, dass wir trotz der Unbegrenztheit, Zeitnähe und Totalität der uns zur Verfügung stehenden Informationen zu keinem zutreffenden Bild von der gegenwärtigen Welt gelangen: Wir wollen nicht wahrhaben, wie schlecht es uns tatsächlich geht. Der Atheist Günther Anders (1902-1992) hat diese Verweigerung schmerzvoller Erkenntnis „Apokalypse-Blindheit” genannt – und dabei ist ihm noch erspart geblieben, die jüngsten Verblendungen religiöser Eiferer zur Kenntnis nehmen und kommentieren zu müssen, die offenbar ihren Ergeiz darein gesetzt haben, den mittelfristig drohenden Zusammenbrüchen der globalen Ökosphäre und der Weltwirtschaft mit einer bellizistischen Apokalypse zuvorzukommen.

Gestern brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ein Interview mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer (*1958), der am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) eine Forschungsgruppe „Erinnerung und Gedächtnis” leitet und sich zuletzt mit der Klimakatastrophe und den daraus notwendig folgenden kriegerischen Konflikten in einem zu wenig beachteten Buch auseinandergesetzt hat. Anlass des Gesprächs, das Nils Minkmar mit dem klarsichtigen Professor führte, war die aktuelle weltweite Finanzkrise. Welzer bringt die aussichtslose Lage, in der wir uns befinden, unverblümt auf den Punkt. Sowohl das vom Menschen blindlings aus der Balance gebrachte Klimageschehen auf unserem Planeten als auch die nach der Globalisierung vollkommen unberechenbar gewordene, nicht mehr zu steuernde Weltwirtschaft überfordern die besten Fachleute in Ökologie und Ökonomie so offenkundig, dass jede „Heilung” dieser beiden tödlichen Wunden durch rationale Entscheidungen, selbst auf „höchster Ebene”, ausgeschlossen ist. Hier haben sich zwei hyperkomplexe Prozesse so weit verselbstständigt, dass sie durch kein noch so hochgelahrtes Spezialistentum mehr umzukehren, aufzuhalten oder auch nur zu bremsen sind. Die Aufgabe, unsere Zukunft und die unserer Kinder und Kindeskinder zu sichern, ist uns endgültig über den Kopf gewachsen.

Solch unfrohe Botschaft muss dem Interviewer natürlich als unzumutbar erscheinen, weshalb er auf geradezu rührende Weise seinen Gesprächspartner um hoffnungsvolle Zugeständnisse an den Geschmack der Leser seiner Sonntagszeitung anbettelt: „Herr Welzer, wo bleibt denn das Positive? […] Nicht noch mehr Pessimismus bitte.” (Nils Minkmar: Warum keiner mehr durchblickt; in: FAS Nr. 49 v. 7. Dezember 2008, S. 29.) Da beißt sich Kassandra auf die Zunge und quält sich ein Zugeständnis an eine immer noch mögliche Zukunft ab, die es schon längst nicht mehr gibt, auf dass dem – trotz aller Turbulenzen an den Börsen noch immer auf ein einigermaßen reguläres Geschäftsleben vertrauenden und dank dem unspektakulären Wetterbericht den Schlaf des Gerechten schlafenden – Sonntagszeitungsleser das Frühstücksei nicht im Hals stecken bleibe.

5 Responses to “Überschwemmung”

  1. Günter Landsberger Says:

    Aus Günter Kunerts parabolischem Kurzprosatext “Sintflut”:

    “… Hubschrauber fliegen über die aus den Wellen ragenden Reste und werfen Flugblätter ab, des Inhalts, daß alles getan werde, das Unglück abzuwenden. – Gläubig lesen die Ertrinkenden die druckfeuchten Blätter. Den Sterbenden hält man die Zettel vor Augen, die der Tod schon trübt. Von den Dächern der Wolkenkratzer spült die Flut die letzten Lebenden, die niemals erfahren, daß eine Sintflut über sie gekommen: Das zu verheimlichen, wird allen Beteiligten wichtiger sein, als in dem zunehmenden Regen, in den schwellenden Bächen, den andauernden Wolken die beginnende Katastrophe zu erkennen. …” (1975)

    Kunerts Parabel würde wohl missverstanden, wollte man sie vordergründig in einem religiösen Sinne interpretieren; – obwohl der Schlusssatz schon etwas hinterhältig ist: “Für eine weitere Sintflut würde man nun viel besser vorbereitet sein, wenn man nicht schon bei der ersten untergegangen wäre.”

  2. Revierflaneur Says:

    Schönes Zitat. – Allerdings verstehe ich die Konjunktion “obwohl” im letzten Absatz Deines Kommentars nicht, lieber Günter. Inwiefern spricht die Hinterhältigkeit des Schlusssatzes von Kunerts Parabel denn für eine Interpretation in religiösem Sinn? Das musst Du mir erklären.

  3. Günter Landsberger Says:

    Der Schlussatz ist deswegen hinterhältig, weil der Begriff und der Vorgang “Sintflut” in unserer Überlieferung ursprünglich in einem religiösen Kontext angesiedelt war. Es gibt in der Bibel das Versprechen, dass keine weitere Sintflut kommen würde. Wenn …

    Kunert spricht von Anfang an von “der” Sintflut, die er als die eine (zwangsläufig einzige) allerdings in die modernen Zeiten übersetzt hat. Mit Kunerts Sintflut, die, wie es schon im ersten Satz der Parabel heißt, “unmerklich” kommt”, geht alles unter. Es gibt keine Überlebenden, weder Menschen noch irgendwelche erwähnten Tiere. Es handelt sich um eine Katastrophe, aus der man gar nichts lernen kann (es sei denn mit äußerst schwacher, kaum vorhandener Hoffnung in der vorwegnehmenden Fiktion), da mit dieser Katastrophe (die hier stellvertretend Sintflut genannt wird) im Endeffekt alles aus und vorbei ist. Nun hat der Autor aber den Begriff “Sintflut” gewählt (auch um an Geläufiges anzuknüpfen und es verfremden zu können) und lässt so hinterhältig religiöse Assoziationen doch wieder zu, obwohl er selbst nicht daran glaubt. Seine Perspektive aber ist: Diese Menschheit kann sich trotz aller Anstrengungen nicht mehr selber retten, sie geht sehenden Auges blind zugrunde. Nur ein Gott könnte sie retten. Aber gibt es den? Der Zweifler zweifelt nur mit seiner Wortwahl noch an seinem eigenen Zweifel. So bleibt hinterhältig vorbeugend ein kleiner Spalt noch offen.

  4. Revierflaneur Says:

    Um Gottes willen, Günter! Wenn das unser aller Führer, der Allmächtige wüsste!

  5. Günter Landsberger Says:

    Ich versetze mich doch nur in Deinen und in Kunerts Kopf. Ich versuche es.

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