Archive for December, 2008

Das Letzte

Wednesday, 31. December 2008

[The white flag. – Vgl. auch hier.]

Totenträume

Tuesday, 30. December 2008

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden ungezählte Deutsche, die sich leichtsinnigerweise Anfang August noch in Frankreich aufhielten, unter dem Vorwand der feindlichen Spionage verhaftet. Ich vermute, dass mit den Franzosen im Deutschen Reich nicht viel anders verfahren wurde. Krieg folgt ja im Großen und Ganzen, aber auch in allen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten der alttestamentarischen Regel: „Auge um Auge, Zahn um Zahn” (Ex 21, 24) – und bedeutet somit den sündhaften Verstoß gegen die radikale Forderung des Mannes aus Nazareth (Mt 5, 39), stattdessen die andere Wange hinzuhalten.

Einer dieser harmlosen Zivilisten, die es zu Kriegsbeginn eiskalt erwischt, ist der begnadete Feuilletonist Victor Auburtin (1870-1928), der als Auslandskorrespondent des Berliner Tageblatts von September 1911 bis Ende Juli 1914 in Paris weilt. Dem genussfreudigen Bonvivant wird zum Verhängnis, dass er sich bei der Flucht in die Schweiz auf der Zwischenstation in Dijon von einer herrlichen Aalpastete, einem prachtvollen Rehrücken und zwei Flaschen moussierenden Burgunderweines zum Bleiben verführen lässt – „denn so unvernünftig die Welt auch geworden sein mag, bleibe ich doch besonnen genug, um mich zu erinnern, daß man in Dijon gut ißt.” (Zit. nach Victor Auburtin: Was ich in Frankreich erlebte und die Literarischen Korrespondenzen aus Paris 1911-1914. Werkausgabe, Bd. 3. Berlin: Verlag Das Arsenal, 1995, S. 369.)

Zwei Tage später sitzt der allzu optimistische Gourmet als politischer Häftling in Zelle 11 des Gefängnisses von Besançon, das er erst am 21. Januar 1915 wieder verlassen wird – aber nur, um für die kommenden zwei Jahre, sieben Monate und 18 Tage mit hunderten deutscher Leidensgefährten in einem Internierungslager auf Korsika „verwahrt” zu werden. Über die nutzlos verschwendeten Jahre seiner Gefangenschaft hat Auburtin in seinem bereits Anfang 1918 in Genf erschienenen Carnet d’un boche en France berichtet, das noch im gleichen Jahr in der deutschsprachigen Originalfassung unter dem Titel Was ich in Frankreich erlebte im Verlag Mosse in Berlin erschien und in der erwähnten Werkausgabe (S. 355-441) erfreulicherweise wieder – oder soll man schon sagen und warnen: „noch”? – greifbar ist.

Über die Traumwelt des Gefangenen schreibt der Traumtänzer Auburtin: „Ich bedenke die Träume, die man als Gefangener hat. Sie sind bedeutend und eindringlich und ganz anders als die Träume der Menschen in der Freiheit. Oft träume ich – und meine Mitgefangenen ebenso – von den toten Freunden und Verwandten, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht habe; sie erscheinen mir freundlich, sehen mich gütig an, und ich wohne mit ihnen in engen, traulich erhellten Zimmern. Seitdem mein Vater während meiner Gefangenschaft gestorben ist, träume ich stets von ihm, und sein besorgter Geist kommt zu mir durch die öde Sturmnacht des entlegenen Meeres. Neben diesen düsteren Totenträumen sind Phantasmen von leuchtender Helligkeit: weiße Pferde, sattellose, galoppieren marmorgepflasterte Straßen entlang; ein unermeßlich breiter Strom fließt spiegelnd; ich sitze im strahlend hellen Theater in der Tiefe einer Loge und sehe ein Gewühl wunderbarer Frauen, die schwere Perlenketten um die Schultern tragen.” (S. 444 f.)

Wenn das wache Leben zum öden Albtraum wird, treibt die Traumwelt umso farbigere Blüten.

[Titelbild: Ausschnitt aus Le rêve von Henri Rousseau, 1910.]


TV mortal

Monday, 29. December 2008

“A four-year-old girl died on Christmas Day following an accident at her home, it has been disclosed. It is understood she was injured when a television fell on her at home in Coedpoeth, Wrexham, on Christmas Eve. North Wales Police were called at 1820 GMT, but doctors at Liverpool’s Alder Hey Children’s Hospital were unable to save her and she died the next day. Police said the family of the little girl, whose name has not been released, were ‘distraught’. A spokeswoman for North Wales Police said: ‘[…] The family are understandably very distraught by this tragic accident and police are making a plea for the privacy of the family to be respected at this incredibly difficult time.’ She added that the North East Wales coroner’s office has taken over the investigation.” (BBC News online v. 28. Dezember 2008.)

In der Tat ein tragisches Missgeschick, dazu noch an Heiligabend! Um dies vorsorglich vorauszuschicken: Mein aufrichtiges Mitgefühl gilt den unglücklichen Eltern des kleinen Mädchens, die sich nun für den Rest ihres Lebens den Vorwurf machen müssen, dass sie für keinen sicheren Stand des schwergewichtigen Flimmerkastens gesorgt haben. Vermutlich war’s ein 37-Zoll-Gerät. Dabei hatten doch noch vor wenigen Wochen offizielle Stellen in Großbritannien vor Unfällen dieser Art gewarnt, nachdem der gerade mal ein Jahr alte Riyaz Ghaazi Mohamed im walisischen Swansea von einem 33 Kilo schweren Fernseher erschlagen worden war: “I would urge parents of young children to check the stability of furniture in their home, especially when heavy objects are placed on lightweight furniture, because this is a tragedy which could easily happen again.” So der ermittelnde Coroner Philip Rogers.

Gleich anschließend muss ich allerdings zu bedenken geben, dass selbst diese merkwürdige Duplizität zweier tragischer Todesfälle durch TV-Absturz in keinem Verhältnis zu dem Schaden steht, den abermillionen standsicher platzierte Fernsehgeräte in den Seelen von Kindern aller Altersstufen tagtäglich anrichten, ohne dass vor diesem Zerstörungswerk auf den Panorama-Seiten unserer Tageszeitungen jemals gewarnt würde.

Die permanente „Verkleisterung der Gehirne” (Oswald Wiener) vollzieht sich eben ganz unblutig, wenig spektakulär, aber ungleich wirkungsvoller und folgenreicher als der Schädelbasisbruch durch die mechanische Einwirkung einer umstürzenden Glotze.

Wenn zwei kleine Kinder von wacklig aufgestellten Fernsehgeräten erschlagen werden, dann weckt dies unser Mitleid. Wenn aber Millionen Kinder in aller Welt tagtäglich von dem Höllenbrodem aus tausend Kanälen „erschlagen” werden, dann nehmen wir dies als eine Selbstverständlichkeit klag- und mitleidslos hin.

Narratorium

Sunday, 28. December 2008

Ulrich Holbein (* 1953), der Eremit im Knüllgebirge, hat in den vergangenen zwanzig Jahren gut zwei Dutzend Bücher geschrieben, die allesamt auf ebenso eigenwillige wie eindringliche Weise Zeugnis von seiner exzentrischen Belesenheit ablegen. Nun hat er uns zu Weihnachten mit einem fast zwei Kilo wiegenden Personenlexikon besch(w)ert: Narratorium. Abenteurer · Blödelbarden · Clowns · Diven · Einsiedler · Fischprediger · Gottessöhne · Huren · Ikonen · Joker · Kratzbürsten · Lustmolche · Menschenfischer · Nobody · Oberbonzen · Psychonauten · Querulanten · Rattenfänger · Scharlatane · Theosophinnen · Urmütter · Verlierer · Wortführer · Yogis · Zuchthäusler. (Zürich: Ammann Verlag, 2008.)

Fast jedes dieser „255 Lebensbilder” folgt einem strengen lexikalischen Muster. Auf den Namen des Narren (z. B. Jiddu Krishnamurti) folgen: eine Aufzählung seiner Spezifikationen resp. Qualifikationen resp. Professionen (hier: „Quasimessias, Weisheitsdozent, Weltlehrer, Vortragsdenker, Seelenretter, Guruismuskritiker, Edelguru”), die Lebensdaten (in diesem Falle 1895-1986); eine sehr ausführliche und sehr subjektive Nacherzählung von allem, was im Lebenslauf, in den Taten und Lehren des Porträtierten vom Mittelmaß und gesunden Menschenverstand abweicht; Worte des jeweiligen Narren (hier beispielsweise: „Meiner Ansicht nach haben Glaubensinhalte, Religionen, Dogmen und Überzeugungen nichts mit Leben zu tun und somit auch nichts mit Wahrheit”); Worte des Narren über sich selbst („Ich bin wie die Blume, die ihren Duft der Morgenluft weiht”); und schließlich Worte anderer über ihn: „Die Unbeteiligten spotteten darüber, daß der neue Weltheiland in einem Hotel ersten Ranges wohne, moderne Anzüge trage und Tennis spiele.” Das soll ein Rudolf Olten 1932 gesagt haben, auf genauere Quellenangaben und Zitatnachweise verzichtet das bequemerweise (aus Sicht des Autors und seines Verlages), unbequemerweise (aus Sicht des Lesers) bei allem Fleiß reichlich hemdsärmelig daherkommende Nachschlagewerk leider ganz. So muss man dann schon zufällig wissen und kombinieren können, dass hier wohl Rudolf Olden (1885-1940) gemeint und das Zitat offenbar aus dessen Sammlung Propheten in deutscher Krise (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1932) entnommen ist.

Als ich vor ein paar Wochen auf diese Schwarte aufmerksam gemacht wurde, schwankte ich für kurze Zeit zwischen Hoffen und Bangen, ob sie mein gerade erst gestartetes Projekt „Eccentrics” durch zahlreiche Übereinstimmungen bestätigen oder ihm gar den Rang abgelaufen haben könnte. Mitnichten! Weder Siemsen noch Baggesen, weder der liquidierte Dodo noch der selbsttrepanierte Bart Huges, weder der Essener Pferde- noch der ebendort zwitschernde Leierkastenmann, von Franz Gsellmann, Oskar Panizza, Alexandre „Marius” Jacob oder Helmut Salzinger ganz zu schweigen, kommen bei Holbein vor. Einzig den „Auswanderer, Sonnenanbeter, Gemüseverneiner, Extrem-Vegetarier, Kokosnußprediger, Kokovorist, Welterlöser” August Engelhardt (S. 284 f.) haben wir bislang gemeinsam auf unserer Liste. (Zugegeben: Ich las diesen Artikel mit höchstem Vergnügen!)

Der Grund liegt auf der Hand. Ulrich Holbein erntet hauptsächlich die verzückten Gottgläubigen ab, während ich deren sehr spezielles Spinnertum, Godzillas abstruse Geisteskindschaften, keiner eingehenderen Betrachtung für würdig erachte. Irritiert hat mich allerdings, dass er auch Günther Anders (S. 38 ff.) in seinem chaotischen Heiligenlexikon kanonisiert. Aber da dort auch (S. 151 f.) ein mir bisher gänzlich unbekannter Dieter Bohlen auftaucht, schreibe ich diesen Ausreißer gnädig einer willkürlich waltenden Beliebigkeit zu.

Abschließend sei immerhin, als eine Art Versöhnungsangebot, noch angemerkt, dass das dicke Buch von Ulrich Holbein mit allerlei beeindruckenden Bildcollagen des Autors verziert ist, von denen mir die im Titelbild gezeigte, Theodor Lessing hinter Truthahn und Silbermops, besonders gut gefallen hat.

[Mit Dank an Bernd Berke für den Hinweis auf Holbeins Buch.]

Superkali… usw.

Saturday, 27. December 2008

Kann man ein Unsinnswort („Quirkel“) von einer Sprache in eine andere übersetzen? Man kann es immerhin versuchen. Das Quirkel „Supercalifragilisticexpialidocious” aus dem Musicalfilm Mary Poppins (1964), nach dem dreißig Jahre zuvor erschienenen, gleichnamigen Roman der Australierin P. L Travers (1899-1996), wurde in der deutschen Synchronisation zu dem nicht minder quirkeligen Wort „Superkalifragilistischexpialigetisch”.

Der englische Schlagersänger Chris Howland, der es hierzulande als „Mr. Pumpernickel” in den 1950er-Jahren zu beträchtlicher Popularität gebracht hatte, erfreute seine Fans im gleichen Jahr 1964 mit einer Single unter dem Titel Superkalifragilistisch Expiallegorisch, was bis heute unter den radebrechenden Nachplapperern dieses bandwurmlangen Zauberspruchs zu Verwirrung und heftigen Diskussionen führt. Wie heißt es denn nun richtig: „-getisch” oder „-gorisch”?

So marschierte Hugo Balls Karawane aus dem Jahr 1917 munter weiter – und der Dadaismus der Zürcher Avantgarde feierte in den gagaphonen Refrains biederster Singspiele ein wunderliches Comeback.

Je länger die Phantasiewörter, desto vielfältiger ihre Anagramme. So kann man aus dem Quirkel „Superkalifragilistischexpialigetisch” per Mausklick wunderbarerweise bequem 151.300 mehr oder weniger sinnvolle Sätze formen lassen, wie z. B. „Fix lag Pipi: Gitarre – Ausschliesslichkeit!”

Die grandiose Asketin Unica Zürn, die ihr großes Talent über solchen Buchstabenumstellungsspielen verschliss, wird schon gewusst haben, warum sie sich am 19. Oktober 1970, lange vor der Mechanisierung der anagrammatischen Poeterei, aus dem Fenster schmiss. Die damals wohl schon vorhersehbare Niederlage des charmant aus Menschengrips gefertigten Changierens der 26 Lettern, zwischen Sinn und Unsinn, angesichts der unmittelbar bevorstehenden, gnadenlos-unausweichlichen Perfektion der Computer, wollte sie sich wohl ersparen.

Protected: Steckertier

Friday, 26. December 2008

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Einschwörer (I)

Thursday, 25. December 2008

In den Wochen vor dem Übergang zum Jahr 2009 grassiert in der Berichterstattung über die Statements von hochrangigen Politikern und Topleuten der Wirtschaft zur globalen Finanzkrise eine neue Redewendung, die aufhorchen lässt: Die Krisenmanager beschwören unseren Durchhaltewillen, appellieren an unsere Leidensfähigkeit, bereiten uns rhetorisch auf ein hartes Jahr vor; kurz: sie „schwören uns ein”. Und offenbar haben sich alle Kommentatoren dieses erpressten Treuegelübdes verschworen, gerade diese – wie ich zeigen werde – vollkommen unsinnige Phrase zu gebrauchen.

Den Anfang machte am 18. Dezember 2008 Volkswagen-Chef Martin Winterkorn, der seinen Konzern, will sagen: dessen Topmanagement, auf harte Zeiten für die Autobranche einschwor. Noch am selben Tag schwor dann die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Ministerpräsidenten der Bundesländer auf das zweite Konjunkturpaket ein, um zwei Tage später dann gleich das ganze deutsche Volk auf ein schwieriges neues Jahr einzuschwören. Bereits zu Heiligabend wird die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Horst Köhler bekannt, der die Deutschen auf einen Kraftakt einschwört. Und selbst der designierte US-Präsident Barack Obama schwört zum Fest der Liebe seine Landsleute auf einen harten Kampf gegen die Wirtschaftskrise ein.

Leider bleibt bei dieser inflationären Einschwörerei völlig unklar, welchen Eid die Leidtragenden des vorhersehbaren Zusammenbruchs unseres Weltfinanzluftschlosses denn nun eigentlich leisten sollen. Etwa diesen? „Ich schwöre, dass ich mich nicht beschweren werde, wenn ich im kommenden Jahr 2009 meinen Arbeitsplatz verliere. Ich schwöre, dass ich Einbußen in meinem Lebensstandard klaglos hinnehme. Ich schwöre, dass ich die Schuld an diesem Desaster bei niemandem suchen werde, und am allerwenigsten bei den Spekulanten, den Börsenzockern, Konzernchefs und Bankern, denn diese armen Irren haben ja längst schon den Überblick verloren und können auch nichts dafür. Ich schwöre, dass ich mich angesichts dieser trüben Zukunftsaussichten bescheiden in mein kaltes Kämmerlein zurückziehen werde und dem Herrgott danke, dass ich überhaupt noch ein Kämmerlein habe. Ich schwöre, auch weiterhin keinen Anstoß daran zu nehmen, dass eine immer kleiner werdende Zahl von Supermilliardären ihren Reichtum auf Kosten des immer größer werdenden Rests der Menschheit schamlos weiter vermehrt. Ich schwöre, dass ich nicht aufmucke, wenn die entfesselte Raffgier dieser anscheinend unersättlichen Oligarchie ihre Allmacht mit Krediten und Zukunftshypotheken festigt, unter denen noch die Kindeskinder meiner Kindeskinder zu leiden haben werden.”

Als der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels [siehe Titelbild] am 18. Februar 1943, nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad, das deutsche Volk, repräsentiert durch eine handverlesene Schar fanatisierter Parteigenossen, auf den weiter zu beschreitenden Weg in den Abgrund einschwor, stellte er immerhin noch eine Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?” Und aus dem Berliner Sportpalast scholl ihm ein begeistertes „Ja!” der verblendeten Meute entgegen.

Die leidenschaftslosen Einschwörer von heute stellen aber erst gar keine Fragen mehr, weil sie es offenbar nicht mehr nötig haben. Die normative Kraft des Faktischen macht ihnen ihr trauriges Geschäft sehr leicht. Wir Deutschen sind die Eingeschworenen von Mikronesien und müssen uns mit unserer Marginaliserung wohl oder übel abfinden. – Frohe Weihnachten!

[Fortsetzung hier.]

Heiliger Zylinder!

Wednesday, 24. December 2008

[Ohne Worte.]

Dingwelt (VII)

Tuesday, 23. December 2008

Seit frühester Kindheit litt ich unter zwei körperlichen Beeinträchtigungen: unter Migräneanfällen und deformierten Füßen. Ich war sozusagen von Kopf bis Fuß auf Leiden eingestellt. Seit meinem virilen Klimakterium haben sich die Kopfschmerzattacken verabschiedet, die Füße hingegen belästigen mich nach wie vor auf Schritt und Tritt. Weil die Orthopädie in den 1960er-Jahren gegen Hohlfüße kein anderes Mittel als das Messer des Chirurgen kannte, wurde ich im Essener Klinikum zwei wenig erfolgreichen Operationen unterzogen. Seither trage ich orthopädische Maßschuhe, in denen ich mich leidlich schmerzfrei durch die hart gepflasterte Stadtlandschaft meiner Heimat bewegen kann.

Am 20. Februar des nun zu Ende gehenden Jahres erkühnte ich mich, das Foto eines meiner nackten Füße als stummes Merkmal über einen Beitrag zu stellen, den ich damals noch im Kulturblog der WAZ-Mediengruppe, bei Westropolis, veröffentlichte. Shocking! Die empörten Kommentare zu diesem Tabubruch in einer geleckten und geschniegelten Öffentlichkeit, in der die traurige Wahrheit kranker Füße keine Chance hat gegen den falschen Schein adretter Hutmoden – diese Kommentare lassen noch heute mein Herz hüpfen und machen mich stolz, hier offenbar eine Grenze überschritten zu haben.

„Schuster, bleib bei deinen Leisten!” – Im Internet gibt es einen Streit darüber, ob es nun „deinen” oder „deinem” heißen muss. So kann nur fragen, wer nicht weiß, was ein Leisten eigentlich ist. Schusterleisten sind Formstücke aus Holz, Kunststoff oder Metall, die zum Bau eines Schuhpaars verwendet werden, mithin möglichst originalgetreue Nachbildungen der beiden Füße, für die und um die die zwei Schuhe gebaut werden sollen. Da aber gewöhnliche Menschen üblicherweise zwei Füße haben und somit zwei Schuhe benötigen, kann nur der Plural richtig sein. Ich habe meinem orthopädischen Schuhmacher seit nun mehr als fünfunddreißig Jahren die Treue gehalten, weil er „meine” Leisten, die Abbilder meiner verkrüppelten Füße, in seinem Leistenlager aufbewahrt.

Was es für einen Fußkranken wie mich jeweils bedeutet, aus den ausgelatschten Schuhen der vergangenen Jahre, links im Bild, in die neu gebauten zu wechseln, rechts im Bild – diesen überaus schmerzvollen Vorgang kann vermutlich nur ein Leidensgefährte nachvollziehen, so es denn einen solchen hier überhaupt gibt. Und was diese körperliche Beeinträchtigung im Laufe einer jugendlichen Biographie bedeutet, wenn man beim Hundertmeterlauf regelmäßig als Letzter auf der Strecke bleibt, das steht ohnehin in den Sternen. Aber ich will mich ja nicht beklagen.

Meine vermeintlichen Defizite sind schon immer meine tatsächlichen Vorzüge gewesen.

Walkability

Monday, 22. December 2008

Wohin die Autolosigkeit im Land der unbegrenzten Automobilität schlimmstenfalls bisher führen konnte, das hat uns wohl zuerst Günther Anders (1902-1992) in einer Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1941 nahezubringen versucht, die er in den ersten Band seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen aufnahm (München: C. H. Beck, 1956). Anders erzählt dort (S. 172 ff.), was ihm widerfuhr, als er weit außerhalb von Los Angeles einen Highway entlangwanderte und als verdächtiges Subjekt von einem motorisierten Cop gestoppt wurde. Dieser pflichtbewusste Polizist findet in seinem Weltbild nur zwei plausible Erklärungen für die befremdliche Tatsache, dass ein menschliches Wesen sich am Rande der Schnellstraße statt auf ihr und auf andere als die übliche Weise fortbewegt, nämlich vorsintflutlich per pedes. Entweder muss dieser „Sunnyboy”, wie der Polizist den Philosophen gönnerhaft nennt, sein Auto verkauft und noch kein neues erworben haben; oder das Auto dieses spät geborenen Peripatetikers muss sich in Reparatur befinden. Als Anders bekennt, er habe nie ein Auto besessen, fällt dem misstrauischen Gesetzeshüter die Kinnlade runter: „Sie haben nie?”

Gerade einmal 67 Jahre später haben wir nun den globalen Schlamassel namens „Finanzkrise” – und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die ewiggestrigen „Sunnyboys” sich zu Pionieren einer lange verschmähten Fortbewegungsart mausern werden. Zwar ist, verstehe es wer kann, das Benzin vorübergehend noch mal billig wie nie geworden, aber den Autobauern in Detroit, Stuttgart, Wolfsburg, Chūō (Tokio), Toyota und anderswo steht das Wasser bis zum Hals wie sonst nur noch den Banken.

Heute berichtet meine Tageszeitung, dass die Amerikaner neuerdings gern wieder zu Fuß gehen und sich aus den Suburbs zurück in die Zentren ihrer Städte sehnen. (Viola Schenz: Das Gute liegt so nah; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 297 v. 22. Dezember 2008, S. 9.) Dort kann man nachlesen, was man immer schon befürchtete: dass 41 Prozent aller Autofahrten in den USA unter zwei Meilen liegen und dass sich gerade einmal fünf bis zehn Prozent der amerikanischen Wohngebäude in einer städtischen Umgebung befinden, die sich „walkable” nennen kann: für ihre Bewohner in Nähe zu ihren Arbeitsplätzen, Einkaufszentren, Kulturstätten und Erholungsgebieten, die sie auf sicheren Verkehrswegen fußläufig erreichen können.

Der unvermeidlich bevorstehende Mangel, nicht die bessere Einsicht vor der Zeit, bringt schließlich den Fortschritt in Gang. So war es vermutlich schon immer. Es musste erst ganz schlimm mit uns kommen, damit es wieder besser werden konnte mit uns. Dabei war doch nur zu offenkundig, dass dieser Weg, so komfortabel er immer gewesen sein mochte, notwendig in eine Sackgasse münden musste. Oder?

Jetzt bleibt bloß noch zu hoffen, dass wir es nicht längst zu weit getrieben haben und der Autofriedhof des 20. Jahrhunderts uns im 21. nicht mit sich und unter sich begraben wird.

Der Tod!?

Sunday, 21. December 2008

Ich erinnere mich noch so gut, als wäre es gestern gewesen, an jenen Augenblick, da mir, im Alter von vielleicht drei oder vier Jahren, plötzlich bewusst wurde, dass auch ich nicht ewig leben würde. Ich lag in meinem Bett im Kinderzimmer und konnte nicht einschlafen, weil mich dieser Gedanke völlig aus der Fassung brachte. Als mein Vater den Kopf zur Tür hereinsteckte, um mir eine gute Nacht zu wünschen, fragte ich ihn rundheraus, ob ich denn tatsächlich unbedingt irgendwann einmal sterben müsse. Gab es da wirklich keine Ausnahme? Der liebe Mann war offenbar erschrocken über diese direkte Frage seines kleinen Sohnes, gab sich aber redlich Mühe, mich in meiner tiefen Verstörung zu besänftigen, indem er mich mit dem Versprechen zu trösten suchte, dass es bis dahin ja noch eine sehr, sehr lange Zeit sei. Ich erinnere mich auch daran, dass dieser Trost mein Entsetzen nicht mildern konnte und ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von meinem Vater enttäuscht wurde, den ich doch bis dahin als einen allmächtigen Beschützer erlebt hatte, stark genug, alles Übel von mir fernzuhalten. An diesem Abend versagte er und ließ mich mit meiner Angst allein.

Das Trostpflästerchen, das mein Vater auf die Wunde geklebt hatte, die mir diese frühe Einsicht in meine Vergänglichkeit schlug, erwies sich als wenig beständig. Die Folge einer Fernsehserie von Prof. Heinz Haber in den 1960er-Jahren war dem Thema „Zeit” gewidmet. Dort lernte ich, dass für das subjektive Zeitempfinden des Menschen seine innere Uhr mit 18 Jahren bereits zur Hälfte abgelaufen ist, selbst wenn er ein gesegnetes Lebensalter von 80 Jahren erreicht.

Trost spendete mir später schon eher das bekannte Wort von Bazon Brock, in der Tradition des schwarzen Humors der Surrealisten: „Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen lässt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlass des Todes […] ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, lässt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen. Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen. […] Der Tod ist ein Skandal, eine viehische Schweinerei! […] Lasst euch nicht darauf ein, versteht: Der Tod [ist] ein ungeheuerlicher Skandal, gegen den ich protestiere.” (Bazon Brock / Karla Fohrbeck: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont Verlag, 1977, S. 796 f.)

Und dann gab es da noch die plausible Einsicht, schon bei den Vorsokratikern, dass ich mich doch wohl nicht um ein posthumes Nichtsein bekümmern muss, da mich mein pränatales Nichtsein ebensowenig je beunruhigt hat.

Schließlich und letzten Endes, als Fußnote zur Kopffrage, lauert der populäre Einwand, dass die Angst vorm Tod bei genauerer Betrachtung vielleicht bloß eine Angst vorm Sterben sein könnte: die Qualen des Übergangs, die doch angesichts der Ewigkeit eine gertenschlanke Nichtigkeit ausmachen. Immerhin ist das Thema Tod wohl wert, in den täglichen Notaten eines Sterblichen seinen vergänglichen Platz zu bestreiten.

Das Leben

Friday, 19. December 2008

„Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann und konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenützt verstreichen zu lassen.

Wenn er in der Stadt war, so plante er, in welchen Badeort er reisen werde. War er im Badeort, so beschloß er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan her, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könnte.

Wenn er im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher nehmen könne. Und während er den langsamen Wein des Gottes Dionysos hastig hinuntergoß, dachte er, daß bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre.

So hat er niemals etwas getan, sondern immer nur ein nächstes vorbereitet. Er war nie einer ganzen und gesunden Minute Herr, und das war gewiß ein merkwürdiger Mann, wie du, lieber Leser, nie einen gesehen hast.

Und als er auf dem Sterbebette lag, wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich dieses Leben gewissermaßen gewesen sei.”

[Ausnahmsweise in hektischen Zeiten mal „nur” ein Zitat. Das Feuilleton Das Leben von Victor Auburtin (1870-1928) erschien 1911 in der Sammlung Die Onyxschale im Verlag von Albert Langen in München. – In neuerer Zeit hat sich der Berliner Verleger Peter Moses-Krause um die Wiederentdeckung dieses vergessenen Meisters der Kleinen Form verdient gemacht. In seinem Verlag Das Arsenal erscheint seit 1994 eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe Auburtins, mustergültig ediert und in herzerfrischend schöner Ausstattung. Deren zweitem Band, Die Onyxschale und Die goldene Kette sowie andere Kleine Prosa aus dem Simplicissimus bis 1911, entnehme ich (von Seite 149) frecherweise diesen wundersamen Text und auch das Titelbild, in der Hoffnung, den einen oder anderen kennerischen Leser so auf ein verkanntes Genie der Kurzprosa aufmerksam machen zu können.]

High & Down

Friday, 19. December 2008

Mein Rechner hat vor ein paar Tagen Psilocybin eingeworfen und ist seither völlig von der Rolle.

Ich selbst bin infolgedessen, obwohl absolut nüchtern, ebenfalls neben der Spur. Wenn durch das Versagen eines solchen unentbehrlich gewordenen Arbeitsmittels die tägliche Routine außer Tritt gerät, dann spürt man schmerzhaft, wie abhängig man von dieser komplizierten und hochsensiblen Technik geworden ist.

Hinzu kommt die Panik, dass totaler Datenverlust dräuen könnte. Gerade noch rechtzeitig habe ich alle wichtigen Dateien auf meiner externen Festplatte sichern können. Aber auch die Perspektive, den Rechner komplett neu „aufsetzen” zu müssen, ist wenig angenehm – dazu noch vor den Weihnachtstagen, an denen meine Helfer sicher andere Pläne für ihre Freizeitgestaltung haben.

Diese kurze Schadensmeldung kommt mit einem Tag Verspätung, denn gestern ließ sich der berauschte Rechner überhaupt nicht mehr hochfahren. Dank der Intervention meines jüngsten Sohnes, der einen kleinen Trick erfolgreich zur Anwendung brachte, kann ich jetzt immerhin das Versäumte noch im vertretbaren Zeitrahmen nachholen. Schließlich habe ich im Impressum versprochen: „Täglich erscheint ein Beitrag mit jeweils fünf Absätzen, in seltenen Fällen erfolgt die Publikation eines Beitrags mit einem Tag Verzögerung.” Bislang konnte ich zu meinem Wort stehen. Dass nun eine Sendepause von zwei oder mehr Tagen drohte, hat mich an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Nachdem nun immerhin eine provisorische Überbrückung das Schlimmste verhindert hat, kann ich dennoch der Frage nicht ausweichen: Was mache ich hier eigentlich? Vielleicht sollte ich doch besser zu Papier und Bleistift zurückkehren.

Wilhelms Brief

Wednesday, 17. December 2008

Meine Urgroßmutter Anna Maria Heßling, geb. Kappen (* 16. November 1858 in Niederzissen / Kreis Ahrweiler) soll dem Vernehmen nach eine sehr strenge Frau gewesen sein. Mit meinem Großvater, dem Dentisten Johannes Heinrich Heßling (* 23. März 1894 in Essen), einem ihrer sechs Kinder, zerstritt sie sich heillos. Ihr Sohn Wilhelm galt als verschollen, nachdem er in jungen Jahren bei Nacht und Nebel das elterliche Haus im Streit verlassen hatte und nie mehr gesehen ward. Aus dem Nachlass meiner Großmutter väterlicherseits ist Wilhelms Abschiedsbrief [siehe Titelbild] auf mich gekommen. Wilhelm schreibt:

„Ich muß Euch nur mitteilen dass ich | mich in Emmerich in den Rhein | gestürzt habe; den[n] ich war es | endlich müde[,] so braucht Ihr nicht | mehr für mich zu sorgen. | Mit den paar Zeilen Ende ich. | So lebt den[n] wohl auch[,] Wilhelm [?]. || Freut Euch des Lebens. | Grüße an Alle! | Wilhelm. || † + †. || Ärgert Euch nicht um meinet|wegen. Denn jetzt braucht Ihr mich | keinen Anzug zu kaufen. | Grüßt mich Auch Emma Sauer | denn die trägt die Schuld.”

Bilde ich’s mir nur ein, oder hat mir meine Großmutter Katharina Heßling, geb. Kamps (* 9. Juni 1895 in Essen) tatsächlich zu diesem Brief die Geschichte erzählt, dass ihr verschollener Schwager sich beim nächtlichen Einstieg ins Zimmer seiner Geliebten Emma die nagelneue Hose zerrissen und deshalb einen verhängnisvollen Familienstreit vom Zaun gebrochen habe?

Ganz sicher bin ich mir aber, dass die Pessimisten der Familie befürchteten, Wilhelm könnte eins der Opfer des Massenmörders Fritz Haarmann geworden sein, der zwischen 1918 und 1924 in Hannover sein Unwesen trieb.

Die Optimisten hingegen waren sich sicher, dass Wilhelm sich weder im Rhein ertränkt habe noch Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, sondern stattdessen nach Amerika ausgewandert sei, wo er es gewiss vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht haben müsste. Doch auf den unverhofften Geldsegen von Seiten meines verschollenen Großonkels warte ich leider noch immer vergeblich.

Kappores!

Tuesday, 16. December 2008

Gläserne Glotzer?

Monday, 15. December 2008

Wenn ich die Leute frage, wie sie’s so mit dem Fernsehen halten, dann bekomme ich regelmäßig Antworten wie diese: „Ach, ich stelle die Kiste immer seltener an. Das Programm hat ja in letzter Zeit auch sehr nachgelassen. Und die viele Werbung! Die Tagesschau, das schon. Man muss ja schließlich auf dem Laufenden bleiben. Und den Tatort am Sonntag im Ersten, den lasse ich mir selten entgehen. Hin und wieder mal ein schöner alter Hollywood-Film. Aber sonst? – Na ja, manchmal bin ich nach dem Stress im Büro so geschafft, dann lasse ich mich einfach berieseln und zappe von Sender zu Sender. Muss auch mal sein. Aber im Urlaub, da kann ich problemlos drei Wochen ganz auf die Glotze verzichten.”

Offenbar kenne ich nur Leute, deren Konsumverhalten ausgesprochen untypisch für den Durchschnitt der Bevölkerung ist, denn die regelmäßig von Demoskopen ermittelten Zahlen zum Fernsehverhalten der Deutschen zeichnen ein anderes Bild: „Die durchschnittliche Fernsehdauer der Personen ab 14 Jahren ist im Zeitraum von 1988 bis 2002 um eine Stunde gestiegen. So lag sie 1988 noch bei 2,5 Stunden, bis 2002 stieg der tägliche Fernsehkonsum kontinuierlich auf durchschnittlich 3,5 Stunden. […] Ein Drittel der Fernsehzuschauer gehört mit einer durchschnittlichen täglichen Fernsehdauer von 6,5 Stunden zu der Gruppe der Vielseher, die hauptsächlich aus Personen über 50 besteht.” (Informationsdienst Wissenschaft; zit. nach www.uniprotokolle.de v. 21. November 2005.)

Die Umfrageergebnisse legen auch nahe, dass es ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle bei der täglichen Fernsehnutzungsdauer gibt. Je größer der Wohlstand und die Bildung der Menschen ist, desto weniger Zeit verbringen sie vor ihrem Apparat. „In Sachsen-Anhalt, wo die Arbeitslosenquote 2004 im Schnitt bei 20,3 Prozent lag, saßen die Bürger […] 275 Minuten lang vor flimmernden Bildschirmen. 275 Minuten – das bedeutet 1673 Stunden im Jahr oder 70 Tage oder rund 2,3 Monate Fernsehen nonstop.” (Melanie Mühl: Siebzig Tage im Jahr vor dem Schirm; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 16 v. 20. Januar 2005, S. 38.)

Und die willfährigsten Opfer dieser Zeitvernichtungsmaschine sind neben den Arbeitslosen und Alten die Kinder: In Deutschland sitzen um 22:00 Uhr noch 800.000 Kinder im Vorschulalter vor dem Fernseher, um 23:00 Uhr sind es noch immer 200.000. (Vgl. Christian Thiel: Fernsehkonsum bestimmt den späteren Bildungsgrad; in: Die Welt v. 3. November 2005; zit. nach www.geburtskanal.de.) Was will man auch anderes erwarten, wenn selbst die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt, Kinder von 0 bis 2 Jahren täglich 20 Minuten vor den Fernseher zu setzen – oder wohl richtiger: bäuchlings davorzulegen.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht, und die ist brandaktuell. Dank dem seit Jahren zunehmenden Internetkonsum „sinkt nach Jahren des Anstiegs erstmals die Zeit, die vor dem Fernseher verbracht wird. Schalteten die Deutschen im Jahr 2006 ihre TV-Geräte jeden Tag für durchschnittlich 212 Minuten an, waren es 2007 nur noch 208 Minuten.” (Presseinformation des Bundesverbandes Informationswirtschaft Telekommunikation und neue Medien v. 12. Oktober 2008.) Die Frage bleibt allerdings, was meine Landsleute mit den so gewonnenen vier Minuten anfangen. Meine Vermutung: Rechner runterfahren, Fernseher einschalten!

Die Lüneburg-Variante

Sunday, 14. December 2008

Den entscheidenden Hinweis auf diesen Schach-Roman erhielt ich auf denkwürdige Weise. Ich kam unter Umständen, die hier nichts zur Sache tun, mit einem mir völlig fremden Berufs-Schachspieler ins Gespräch, der seine Jugend in der DDR verbracht hatte. Er vertrat die interessante Auffassung, die Überlegenheit der Schachspieler aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks rühre daher, dass dieser Denksport dort lange Zeit eines der wenigen politisch unverdächtigen Betätigungsfelder für einen freiheitsdurstigen Geist gewesen sei. In dem Roman des Italieners Paolo Maurensig (* 1943) geht es um genau dieses Thema: das Schachspiel als Freiraum des Denkens in ideologisch verkrusteten Zwangssystemen – und zugleich als Modellfall für den erbarmungslosen Kampf ums Überleben.

Die beiden Antagonisten: Dieter Fritsch, ein ehemaliger SS-Mann und Aufseher im Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide, der nach dem Krieg seiner Bestrafung entging und danach als Unternehmer zu Reichtum und Ansehen gelangte; und der jüdische KZ-Häftling Tabori, der dem Tod im Lager nur mit knapper Not entging. Was diese beiden extrem gegensätzlichen Menschen eint, ist ihre obsessive Liebe zum Schachspiel. Um seinen früheren Foltermeister Fritsch vierzig Jahre nach den infernalischen Ereignissen in Bergen-Belsen seiner gerechten Strafe zuzuführen, bildet Tabori einen begabten Schüler, Hans Mayer, auf den 64 Feldern zum Werkzeug seines Racheplans aus.

Dieses Motiv erinnert auf den ersten Blick vielleicht etwas zu aufdringlich an Stefan Zweigs berühmte Schachnovelle (1942), seine Ausführung auf den zweiten Blick, und mit größerer Berechtigung, an Dürrenmatts Kurzroman Der Verdacht (1951), in dem es freilich nicht ums Schachspiel geht. Dass einige Großmeister des königlichen Spiels, wie Savielly Tartakower und Efim Bogoljubow, in den 1920er-Jahren als Gäste in Taboris Münchener Elternhaus verkehrten und im Roman treffend charakterisiert werden, wird die schachkundigen Leser freuen – und mich persönlich hat das Porträt entzückt, das Maurensig von meinem Lieblingsspieler Akiba Rubinstein zeichnet. Dennoch taugen diese womöglich gut recherchierten Details nicht zur ästhetischen Beurteilung eines solchen Romans.

Was das angeht, muss ich – der Wahrheit die Ehre zu geben – diese Lüneburg-Variante bedauerlicherweise mit einem Doppelschach und anschließendem Damenverlust beantworten. Es hapert dem Roman zugleich an emotionaler Einfühlung in seine Protagonisten und an Glaubwürdigkeit, was den ganz äußerlichen Verlauf des Geschehens angeht. Und dass diese Variante so ganz ohne Damen auskommt, die bekanntlich stärksten Figuren auf dem Brett, macht sie für mich endgültig zu einem eher ephemeren Werk der neueren Romanliteratur mit diesem Sujet.

Einen starken Satz habe ich mir dennoch angestrichen: „Denn auch jenseits dieser Zäune würden wir immer noch in ihrer Gewalt bleiben, und selbst angenommen, wir wären über diese Grenzen gekommen und noch einmal tausend Jahre am Leben geblieben, niemand, weder wir noch unsere Henker, würde sich aus dieser Niedrigkeit, in die das Menschengeschlecht gestürzt war, je wieder erheben können.” (Paolo Maurensig: Die Lüneburg-Variante. A. d. Ital. v. Irmela Arnsperger. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1994, S. 176.)

Vier Frühwerke

Saturday, 13. December 2008

Buchstaben lernte ich lange vor Beginn der Schulzeit kennen, lesen und schreiben. Mein Vater hatte mir eine Tabelle gemalt, in der das Abece durch kleine Piktogramme erklärt war: ein Apfel für das A, eine Banane für das B, eine Citrone für das C usw. Als ich fünf Jahre alt war, überraschte uns ein Herr Kroll aus dem Parterre des Hauses, in dem wir damals wohnten, mit einem großzügigen Geschenk: einer Schreibmaschine, die in seiner Firma ausrangiert worden war. Ich lernte, wie man ein Blatt einspannt, und begriff bald die Funktion der Hochstelltaste. Im Jahr 1961 schrieb ich diese vier Texte humoristischer Kurzprosa. Wann immer ich sie wieder lese, schwanke ich zwischen Bewunderung und blankem Entsetzen. Was muss ich damals schon für ein Enfant terrible gewesen sein!

[1] Im Uhrlaub – Im Urlaub ist es sehr schön. Man kann schwimen. Man kann sich erholen. Man kann Braun werden. Ja Uhrlaub ist ein fergnügen, oder? Für manche nicht! Zumbeischpiel, für die die drei oder vier Kinder haben. Die Frauen, Morgens erger, Vormitags erger, Mitags erger, nachmittags erger, abents erger. Nachts erholung. Die Mäner, morgens bedinung, bis Abents bedinung,

[2] Im Wintersport – Man setzt sich auf eine Bank. Man ziet sich Schier an, und kracks, Die Sier brechen durch. Man hat einen schnupfen. man get in eine wirtschaft. Man bestelt sich ein bir, und noch eins und noch eins Und man ist besübelt. Man get nach hause. man wiert ausgeschimft.

[3] Ein neues Auto – Man will in die Stadt. Man muss 2dm Karne bezalen. Darum willman sich ein Auto kaufen. Man geht ins Autogescheft. Man Kauft sich kurtzerhand einen Aston Martin DB 5. Macht damit eine reise nach Juguslawien. Gleich nach 30 km färt man in einen strasengraben Herein. Und benzi Gelt, gleich 50-80dm Monat. Dan eine Reife[n]panne. Dreisich bis firzich dm schaden. Man ferkaut den Wagen für 20 dm an den schrotthäntlerund kauft sich dafür einenstapel karnes.

[4] Ein neuer Beruf – Man kündigt seinen Ärtztlichen Beruf weil man den Beruf Strasenfeger Sönerund ferkauft seine praksis an einen Strasenfeger und kigt dafür einen Handfeger und eine Drekschüppe. Dan geht man zum ersten male strasen fegen. Man nimt den besen. Fergist jedoch die Drekschüppe. Unterdesen komen immer neue menschen. Sie werfen auch gehorsam immer neue Bananenschalen Fort. So hatt der mister strasenfeger immer fil zutun. Nuntauscht er sich die

Zahlen

Friday, 12. December 2008

48 Zeichentasten hat meine Tastatur. Davon entfallen 29 auf die 26 Buchstaben des Alphabets und die drei Umlaute in Klein- und Großschreibung. Drei Tasten sind Interpunktionszeichen vorbehalten. Die verbleibenden 16 Tasten, genau ein Drittel, sind mit Zahl- und sonstigen Zeichen belegt: für die Ziffern von 0 bis 9, für acht weitere Satzzeichen, häufig benötigte Sonderzeichen wie §, %, & oder # und das Eszett, meinen Lieblingsbuchstaben. – Auch die Evolution der Tastaturbelegung seit Erfindung der Skrivekugle lässt Rückschlüsse auf den Bewusstseinswandel in den seither vergangenen 143 Jahren zu. Meine erste mechanische Schreibmaschine hatte noch das Zeichen für die englische Währungseinheit Pfund im Angebot; heute muss ich mir das ₤ umständlich aus dem Sonderzeichen-Vorrat heraussuchen, während der $ nach wie vor auf der Tastatur präsent ist und dort längst auch der € seinen festen Platz neben dem E gefunden hat. Die zackigen SS-Runen hingegen, die auf den Tastaturen der Fabrikate reichsdeutscher Schreibmaschinen-Hersteller – wie Adler, Olympia oder Triumph – zwischen 1933 und 1945 obligatorisch waren, sind heute selbst in den entlegensten Zeichensätzen nicht mehr aufzufinden. Hin und wieder, wenngleich nicht eben häufig, zeigt der Fortschritt doch auch einmal ein freundliches Gesicht, und sei’s durch eine „Leerstelle”.

Ich bin ein ausgesprochener Buchstaben- und alles andere als ein Zahlenmensch. Das würde ein Sherlock Holmes unserer Tage mit seinem wachen Blick und seiner Kombinationsgabe vermutlich schon von meiner Computer-Tastatur ablesen können, sind dort doch die Ziffern-Tasten die schmutzigsten, weil der Staub auf ihnen ausreichend Gelegenheit findet, sich dauerhaft niederzulassen und festzusetzen. Schon zu Schulzeiten sprach mich Deutsch mehr an als Mathe – mit einer Ausnahme: Den Geometrie-Unterricht habe ich geliebt und war dort vorübergehend sogar Klassenbester. Aber sobald es darum ging, die euklidischen Dreiecksbeweise – nur mit Zirkel und Lineal! – in trigonometrische Zahlenverhältnisse umzusetzen und Kosinus und Tangens auf den Plan traten, war ich abgemeldet. Und dass ich es in meinem späteren Lehrberuf als Buchhändler überhaupt so weit gebracht habe, erscheint mir im Rückblick noch immer als ein kleines Wunder, da ich doch den rechnerischen Fächern wie Buchhaltung, Kalkulation oder Betriebswirtschaft so gar nichts abgewinnen konnte. Deshalb verbindet mich mit der Welt der Zahlen seit jeher eine innige Hassliebe. Aber auch solche „gemischten Gefühle” entwickeln ja oftmals staunenswerte Produktivkräfte, weshalb mich das hier vorgestellte Lexikon der Zahlen noch immer gelegentlich in seinen Bann zieht.

Die Zahlen also, von 0 bis 3↑↑3 usw. usw. Dies ist ein Nachschlagewerk der besonderen Art, schon allein durch die Anordnung seiner Artikel, die nicht, wie bei Wörterbüchern üblich, alphabetisch von A bis Z erfolgt, sondern numerisch aufsteigend. Was David Wells darin aus Hunderten von Büchern und Zeitschriften über ihre merkwürdigen und interessanten Eigenschaften zusammengetragen hat, kann selbst einen arithmetisch Minderbemittelten wie mich stets aufs Neue in Verzückung versetzen. Ob es sich nun um natürliche, ganze, irrationale, imaginäre oder hyperreelle Zahlen handelt – immer wieder stellt sich die spannende Frage, welche geheimen Gesetzmäßigkeiten diesem abstrakten Ordnungssystem zugrunde liegen. Und immer wieder bin ich erstaunt, auf wie viele Fragen der menschliche Geist bis heute noch keine Antwort gefunden hat und vielleicht (z. B. in Fragen der Primzahlenverteilung) niemals finden wird. Dies mag zu einem Teil daran liegen, dass uns der metaphysische Begriff der Unendlichkeit auf diesem Feld in so konkreter und streng logischer Gestalt begegnet, ohne uns auf diesem Wege seinem Verständnis wirklich näher zu bringen. Mir als ungeübtem Laien auf allen Gebieten der höheren Mathematik ist jedenfalls der Ausspruch des Mathematikers Leopold Kronecker (1823-91) sehr sympathisch, der bei einem Vortrag 1886 in Berlin gesagt hat: „Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.”

Wann immer ich dieses Buch aufschlage, entdecke ich in den unermesslichen Tiefen des Zahlen-Ozeans neue Wunder, die sich oft genug in ganz unscheinbare Sätze kleiden. So lese ich im Artikel unter 0,5 bzw. ½: „Es gibt zwölf Möglichkeiten, mit allen Zahlen zwischen 1 und 9 einen Bruch zu bilden, dessen Wert gerade gleich ½ ist.” (David Wells: Das Lexikon der Zahlen. A. d. Engl. v. Klaus Völkert. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990, S. 25.) Warum aber, in drei Teufels Namen, sind es genau zwölf? „So ist es eben”, erwidert der gewöhnliche Faktenhuber, der keinen Blick hat für die Abgründe, die sich unter der Oberfläche des Selbstverständlichen, Allzuselbstverständlichen allenthalben auftun für jeden, der das naive Fragen des Kindes noch nicht ganz verlernt hat.

Auch Faktenhuber mögen an diesem Zahlen-Verzeichnis durchaus Gefallen finden. Sein eigentlicher Zauber jedoch erschließt sich vermutlich nur Menschen wie mir, die immer noch die Neunerreihe im kleinen Einmaleins durchbuchstabieren müssen, bis sie auf das Ergebnis 72 kommen. (72 ist übrigens die kleinste Zahl, deren fünfte Potenz sich als Summe von fünf fünften Potenzen schreiben lässt.)

Voynich

Thursday, 11. December 2008

Kennedy und Churchill haben gemeinsam ein Buch darüber geschrieben; ein Dutzend ehrgeiziger Kryptoanalytiker ist in den vergangenen hundert Jahren an dem Versuch gescheitert, es zu entschlüsseln; seine Provenienz ist nur lückenhaft rekonstruierbar; und bis heute streiten sich die Gelehrten, ob es sich um das Werk eines Wahnsinnigen, eines Fälschers oder eines genialen Geistes handelt – das Voynich-Manuskript, eines der rätselhaftesten Schriftstücke der Literaturgeschichte, das heute unter der Katalognummer MS 408 in der „Beinecke Rare Book and Manuscript Library” der Yale University in New Haven (CT) aufbewahrt wird.

Als der Londoner Antiquar Wilfrid Michael Voynich (1865-1930) dieses äußerlich unscheinbare Buch 1912 in einer Sammlung kostbar illuminierter Handschriften in der Villa Mondragone bei Rom entdeckte, hatte er nach eigenem Bekenntnis spontan den Eindruck, auf etwas ganz Außergewöhnliches gestoßen zu sein: „Es war ein so hässliches Entlein, verglichen mit den anderen, mit Gold und Farben reich verzierten Manuskripten, dass meine Neugier sogleich erregt war.” (A Preliminary Sketch of the History of the Roger Bacon Cipher Manuscript; in: Transactions of the College of Physicians of Philadelphia. Serie 3. Baltimore 43.1916, S. 415; dt. Übers. nach Wikipedia.)

Das in Pergament eingebundene Werk trägt weder einen Titel noch einen Autorenvermerk. Auf über hundert Seiten sind kolorierte Federzeichnungen von Pflanzen, Tieren, Menschen und astronomischen Konstellationen zu sehen, kommentiert in einer völlig unbekannten und bis heute nicht entzifferten, nirgends sonst woher vertrauten Schrift [siehe Titelbild].

Selbst die Entstehungszeit des Manuskripts ist nach wie vor umstritten. Während ein Expertenteam das Konvolut jüngst aufgrund von Material und Schreibstil auf etwa 1500 n. Chr. datierte, trauen andere Forscher dem namengebenden „Entdecker” Voynich zu, das nur vorgeblich uralte Dokument höchstpersönlich gefälscht zu haben. Unwillkürlich musste ich bei solchen weitgespannten Spekulationen an Arno Schmidts Radio-Essay über Das Buch Mormon (1961) denken.

Spätestens seit der lange unmöglich scheinenden – und schließlich doch dem Franzosen Jean-François Champollion (1790-1828) dank dem „Stein von Rosetta” 1822 geglückten – Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen üben unverständliche Schriftzeichen eine magische Wirkung auf uns aus. Je länger die geheimnisvollen Symbole unserer forschenden Neugier widerstehen, desto mehr ziehen sie uns in ihren Bann. – Leider ist das umfassendste Buch zum Voynich-Manuskript in deutscher Sprache zurzeit weder regulär noch antiquarisch lieferbar. (Gerry Kennedy und Rob Churchill: Der Voynich-Code. Das Buch, das niemand lesen kann. A. d. Engl. v. Hainer Kober. Berlin: Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, 2005.)

Weltenesche

Wednesday, 10. December 2008

Ich bin geboren und lebe an einem Ort, der seinen Namen von der Esche (Fraxinus) herleitet. Auf dem langen Weg von Astnithi über Astnide, Astnidum, Astanidum, Asbidi, Asnid, Assinde, Asnida, Assindia, Essendia, Esnede, Essende und Essend entstand im Verlaufe von 1150 Jahren der heutige Stadtname: Essen.

Der Zufall will es, dass hinter dem Haus, in dem ich seit vier Jahren wohne, zwischen anderen Bäumen auch eine Esche wächst [siehe Titelbild]. Von meinem Arbeitsplatz aus, an dem ich dies schreibe, sehe ich sie täglich. Die Beobachtung der langsamen Veränderungen ihres Erscheinungsbildes im Wechsel der Jahreszeiten hat eine beruhigende Wirkung auf mich.

Zweimal im Jahr beschleunigen sich diese Veränderungen: im späten Frühjahr, wenn sie als letzte unter ihren Nachbarn ihr Laub austreibt; und im Herbst, wenn der Blattfall einsetzt. Extreme Wetterverhältnisse wie der Orkan Kyrill, der am 18. und 19. Januar vorigen Jahres in Mitteleuropa große Verwüstungen anrichtete, hat auch „meiner” Esche arg zugesetzt und einige kräftige Äste abgebrochen, deren Stümpfe noch heute an dieses Ereignis erinnern.

Dass der Baum Yggdrasil der nordischen Mythologie, der in seiner Riesenhaftigkeit das gesamte Weltgebäude darstellen soll, ebenfalls eine Esche war, könnte meiner nüchternen Kontemplation bei Betrachtung dieses Baumes noch ein spirituelles Element hinzufügen, wenn ich für dergleichen aufgeschlossen wäre. Immerhin berührt mich aber die symbolische Dreigliederung der Weltenesche, deren Baumkrone, Stamm und Wurzeln Himmel, Erde und Unterwelt darstellen.

Regelmäßig fotografiere ich die Esche hinterm Haus, immer vom gleichen Standort aus. Wenn ich die vielen hundert Fotos per Mausklick über meinen Monitor rauschen lasse, dann ergibt sich daraus eine Art Film, der den Lebenswandel des Baums im Zeitraffer erfahrbar macht. Ein Stummfilm übrigens, was dem Baum gerecht wird, denn die Geräusche, die von ihm ausgehen, das Rauschen der Blätter und das Knarzen der Äste, sind ja nicht eigentlich seine, sondern die des Windes, der sie hervorruft; und zumal der Baum sie selbst ja nicht hören kann.

[This posting is dedicated to Stan Brakhage (1933-2003), ingenious master of independence film.]

Whoa, whoa!

Tuesday, 09. December 2008

Aus dem Weißen Rauschen, mit dem die Massenmedien uns Tag für Tag taub machen für die wirklich wichtigen Nachrichten, habe ich auf weitläufigen Umwegen eine schwache Andeutung auf das herausgefiltert, was uns binnen Kurzem bevorstehen könnte. Als sich Mitte Oktober abzuzeichnen begann, dass sich der demokratische US-Präsidentschaftsbewerber Barack Obama gegen seinen Widersacher John McCain bei der Wahl am 4. November durchsetzen würde, hielt sein designierter Vize Joe Biden – im Schatten der spektakulären Blamagen seines republikanischen Pendants Sarah Palin – vor einem exklusiven Kreis renommierter Zuhörer in Seattle anlässlich einer Spenden-Gala eine aufschlussreiche Rede. Biden, dessen bekanntermaßen „loses Mundwerk” ihn schon früher gelegentlich in arge Bedrängnis gebracht hatte, erkannte auch an jenem 19. Oktober zu spät, dass die Intimität dieser Veranstaltung durch die Anwesenheit einiger Pressevertreter in dem kleinen Versammlungsraum verletzt wurde: “I probably shouldn’t have said all this because it dawned on me that the press is here.”

Tags drauf konnte man bei ABC News den Bericht von Matthew Jaffe über Bidens prophetische Brandrede nachlesen, gespickt mit Originalzitaten: „Merken Sie sich meine Worte. In nicht einmal sechs Monaten wird die Welt Barack Obama auf eine harte Probe stellen, genauso wie damals John Kennedy. […] Seien Sie auf der Hut, wir werden eine internationale Krise erleben, eine künstlich geschaffene Krise, in der getestet wird, was in diesem Kerl steckt. Ich kann Ihnen mindestens vier oder fünf Szenarios nennen, wo diese Krise ihren Anfang nehmen könnte. […] Gürtet Eure Lenden! Wir werden mit Eurer Hilfe gewinnen, so Gott will, wir werden gewinnen – aber es wird nicht leicht. Dieser Präsident, der nächste Präsident, wird vor der wichtigsten Aufgabe stehen. Mann, das ist wie das Ausmisten des Augiasstalls. Dies ist mehr als nur, dies ist mehr als – denken Sie darüber nach, wirklich, denken Sie darüber nach – dies ist mehr als nur eine Finanzkrise, es geht um mehr als nur um Märkte. Es ist ein systemisches Problem, das wir hier mit unserer Wirtschaft haben. […] Aber dieser Kerl [Obama] hat’s in sich. Doch er wird Ihre Hilfe brauchen. Denn ich verspreche Ihnen, Sie alle werden in einem Jahr dasitzen und sich fragen: ,O Gott, warum steht die Regierung in den Umfragen so weit unten? Warum steht sie so schlecht da? Warum ist das alles so schwer?‘ Wir werden in den ersten zwei Jahren einige unglaublich harte Entscheidungen fällen müssen. Also bitte ich Sie schon jetzt – ich bitte sie schon jetzt: Halten Sie zu uns! Vergessen Sie nicht, dass Sie jetzt an uns geglaubt haben, denn Sie werden uns stärken müssen. Viele von Ihnen werden dann nämlich eher geneigt sein zu sagen: ,Hey Mann, halt mal die Luft an, hey, hey, also diese Entscheidung – ich weiß nicht.‘ [Im Original: ‘Whoa, wait a minute, yo, whoa, whoa, I don’t know about that decision.’] Denn wenn Sie denken, die Entscheidungen seien fundiert, wenn sie gefällt werden – und davon gehe ich aus, dass Sie so denken, wenn diese Entscheidungen getroffen werden -, dann sind sie wahrscheinlich nicht so populär, wie sie vernünftig sind. Denn wenn sie populär sind, dann sind sie wahrscheinlich nicht vernünftig.” [Kursivsetzungen von mir.]

Wie „damals John F. Kennedy”? Wer dächte da nicht an die Kuba-Krise von 1962, als die Welt 13 Tage lang am Rande des atomaren Overkills schwebte und um ein Haar noch einmal davongekommen ist? Und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Hans Rühle in einem Essay in der Welt spekuliert, mit diesen orakelnden Worten des Senators von Delaware könne eigentlich nur ein militärisches Eingreifen gegen die schon sehr weit gediehenen Vorbereitungen des Iran gemeint sein, als zweiter islamischer Staat (nach Pakistan) in die Liga der Atommächte vorzustoßen. Wie weit der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, als Satrap des Mullah-Regimes unter Seyyed Ali Chamenei, bereits gelangt ist, trotz der hilflosen Bemühungen der IAEA unter Mohammed el-Baradei, das kann man in Rühles glaubwürdigem Essay nachlesen. Insofern ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die schlimmsten Prophezeiungen des endzeitlichen Philosophen Günther Anders Wirklichkeit werden.

Ende September fand in Irans Hauptstadt Teheran zur Erinnerung an den Krieg gegen den benachbarten Irak (1980 bis 1988) eine Militärparade statt, bei der eine Shihab-3-Rakete mit dem Schlachtruf bemalt war: “Israel must be wiped off the map.” Whoa, whoa! Auf solch große Sprüche folgen nach aller historischen Erfahrung schreckliche Taten. Beim Lesen von Bidens Rede musste ich unwillkürlich an die bekannten Churchill-Worte in seiner ebenso knappen wie prägnanten „Blood, toil, tears and sweat”-Ansprache aus dem Kriegsjahr 1940 denken – in deren Folge ein zivilisiertes, aber ideologisch verblendetes Land, mein Vaterland, durch die „fliegenden Festungen” von „Bomber” Arthur Harris in Schutt und Asche gelegt wurde.

Der Stall des Augias wird also demnächst, spätestens in einem halben Jahr, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften modernster Waffentechnik ausgefegt? Dann können wir nur noch hoffen, dass immerhin ein paar Insekten dieses Großreinemachen überstehen – und in geschätzten zwanzig Millionen Jahren eine Kultur begründen, die größere Ergebnisse hervorbringt als die Musik von Bach, die Philosophie von Platon, die Kunst von Leonardo, Akiba Rubinsteins beste Schachpartien und die Geistesblitze eines Lichtenberg.

Überschwemmung

Monday, 08. December 2008

Die tägliche Nachrichtenflut aus den Massenmedien ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits gibt es kaum noch „weiße Flecken” auf der aktuellen Landkarte des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Tagesgeschehens. Durch die globale Vernetzung der Informationskanäle bleibt kein noch so unbedeutendes „Ereignis” dem, der es zur Kenntnis nehmen will, verborgen. Wenn mich beispielsweise interessiert, wie ein spezielles Cricket-Match in Neuseeland ausgegangen ist, dann bin ich darüber via Internet binnen kürzester Zeit auf dem Laufenden. So weit, so gut.

Andererseits führt diese permanente Überflutung unserer Sinne mit Informationen in Bild, Ton und Text aber dazu, dass sich die Nachrichten in unserem Bewusstsein gegenseitig neutralisieren. Was wirklich wichtig ist für mich als freies Individuum und wesentlich für die Spezies, der ich angehöre, geht im reißenden Strom der Banalitäten unter. Hinzu kommt, dass in den Medien – und insbesondere im TV, das trotz Internet immer noch das weltweit meistgenutzte Informationsmittel ist – die Grenzen zwischen Fiktion und Realität ebenso verwischt sind wie die zwischen Nachricht und Werbung. Wenn man Augen und Ohren ohne Zwischenschaltung eines sehr feinen Filters aufsperrt, dann bleibt von der Message der Medien nicht mehr als ein Weißes Rauschen. Aber wer schafft es schon, die wenigen Weizenkörner aus den Bergen von Spreu auszusieben?

Und noch eine dritte Wahrnehmungstrübung verhindert, dass wir trotz der Unbegrenztheit, Zeitnähe und Totalität der uns zur Verfügung stehenden Informationen zu keinem zutreffenden Bild von der gegenwärtigen Welt gelangen: Wir wollen nicht wahrhaben, wie schlecht es uns tatsächlich geht. Der Atheist Günther Anders (1902-1992) hat diese Verweigerung schmerzvoller Erkenntnis „Apokalypse-Blindheit” genannt – und dabei ist ihm noch erspart geblieben, die jüngsten Verblendungen religiöser Eiferer zur Kenntnis nehmen und kommentieren zu müssen, die offenbar ihren Ergeiz darein gesetzt haben, den mittelfristig drohenden Zusammenbrüchen der globalen Ökosphäre und der Weltwirtschaft mit einer bellizistischen Apokalypse zuvorzukommen.

Gestern brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ein Interview mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer (*1958), der am Essener Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) eine Forschungsgruppe „Erinnerung und Gedächtnis” leitet und sich zuletzt mit der Klimakatastrophe und den daraus notwendig folgenden kriegerischen Konflikten in einem zu wenig beachteten Buch auseinandergesetzt hat. Anlass des Gesprächs, das Nils Minkmar mit dem klarsichtigen Professor führte, war die aktuelle weltweite Finanzkrise. Welzer bringt die aussichtslose Lage, in der wir uns befinden, unverblümt auf den Punkt. Sowohl das vom Menschen blindlings aus der Balance gebrachte Klimageschehen auf unserem Planeten als auch die nach der Globalisierung vollkommen unberechenbar gewordene, nicht mehr zu steuernde Weltwirtschaft überfordern die besten Fachleute in Ökologie und Ökonomie so offenkundig, dass jede „Heilung” dieser beiden tödlichen Wunden durch rationale Entscheidungen, selbst auf „höchster Ebene”, ausgeschlossen ist. Hier haben sich zwei hyperkomplexe Prozesse so weit verselbstständigt, dass sie durch kein noch so hochgelahrtes Spezialistentum mehr umzukehren, aufzuhalten oder auch nur zu bremsen sind. Die Aufgabe, unsere Zukunft und die unserer Kinder und Kindeskinder zu sichern, ist uns endgültig über den Kopf gewachsen.

Solch unfrohe Botschaft muss dem Interviewer natürlich als unzumutbar erscheinen, weshalb er auf geradezu rührende Weise seinen Gesprächspartner um hoffnungsvolle Zugeständnisse an den Geschmack der Leser seiner Sonntagszeitung anbettelt: „Herr Welzer, wo bleibt denn das Positive? […] Nicht noch mehr Pessimismus bitte.” (Nils Minkmar: Warum keiner mehr durchblickt; in: FAS Nr. 49 v. 7. Dezember 2008, S. 29.) Da beißt sich Kassandra auf die Zunge und quält sich ein Zugeständnis an eine immer noch mögliche Zukunft ab, die es schon längst nicht mehr gibt, auf dass dem – trotz aller Turbulenzen an den Börsen noch immer auf ein einigermaßen reguläres Geschäftsleben vertrauenden und dank dem unspektakulären Wetterbericht den Schlaf des Gerechten schlafenden – Sonntagszeitungsleser das Frühstücksei nicht im Hals stecken bleibe.