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Zugzwang

Monday, 24. November 2008

Das Schach hat, als Grenzfall zwischen Sport, Kunst, Spiel und Wissenschaft, Schriftsteller immer wieder dazu angeregt, es zum wesentlichen Motiv ihrer poetischen Werke, von Romanen und Novellen, Gedichten und Dramen zu erwählen. Als Spiegelbild der wirklichen Menschenwelt mit ihren unversöhnlichen Gegensätzen eignet es sich offensichtlich besonders gut, die Tragödie unseres Scheiterns en miniature abzubilden. Dennoch scheint die Schnittmenge zwischen schachspielerischem und literarischem Genie enttäuschend gering zu sein – und der Roman, der sowohl auf der ästhetischen Höhe seiner Gattung steht als auch der gedanklichen Tiefe des Schachspiels gerecht wird, wartet nach manchen respektablen und etlichen erbärmlichen Versuchen noch immer auf seinen großmeisterlichen Autor. – In lockerer Folge werde ich hier, als halbgebildeter Laie beider Hemisphären, einen groben Überblick wagen.

2006 erschien als Vorabdruck, mit Illustrationen von Marc Quinn versehen, im Londoner Observer der Roman Zugzwang von Ronan Bennett (* 1956), der mittlerweile auch als Buch in deutscher Übersetzung vorliegt. (Ronan Bennett: Zugzwang. A. d. Engl. v. Stefanie Röder. Berlin: Bloomsbury im Berlin Verlag, 2007.) Ort und Zeit der Handlung: St. Petersburg im März 1914. Der Ich-Erzähler, ein Psychoanalytiker namens Dr. Otto Spethmann, wird von seinem Freund, dem polnischen Geigenvirtuosen R. M. Kopelzon, um seelische Unterstützung für einen polnischen Schachmeister gebeten. Dieser (fiktive) Awrom Chilowicz Rozental, für den vielleicht Akiba Rubinstein Modell gestanden hat, hätte gute Aussichten, das Petersburger Schachturnier zu gewinnen, an dem neben dem amtierenden Weltmeister Emanuel Lasker unter anderen auch der Kubaner José Raúl Capablanca, Siegbert Tarrasch aus dem Deutschen Reich, die Russen Alexander Aljechin und Ossip Bernstein, der Brite Isidor Gunsberg und der US-Amerikaner Frank Marshall teilnehmen. Allerdings wird Rozental von einer (fiktiven) Fliege belästigt, und sein Sieg bei diesem damals größten Schachwettkampf aller Zeiten scheint gefährdet. Hier soll Spethmann in Kopelzons Auftrag Abhilfe schaffen, indem er den psychisch angeschlagenen Polen vor Beginn des Meisterturniers von seiner „Fliege” befreit. Kopelzon handelt aber, wie sich bald herausstellt, nicht etwa aus lauteren, rein schachlichen Motiven, sondern weil der verwirrte Pole, so er denn den Sieg in diesem Turnier davonträgt, seine Trophäe aus der Hand des Zaren Nikolaus II. persönlich entgegennehmen wird – und dabei die seltene Gelegenheit erhält, als Kopelzons Marionette ein Attentat auf den despotischen Monarchen zu verüben.

Die Romanhandlung schreitet zügig voran und ist zudem, wie ein saftiger (und vielleicht etwas überwürzter) Braten, gespickt mit mancherlei Nebenthemen. Der lange verwitwete Psychoanalytiker hat Erziehungsprobleme mit seiner widerspenstigen Tochter Catherine. Er verliebt sich knapp vor seinem 50. Geburtstag in seine Patientin Anna Petrowna Siatdinow, Tochter des reichsten Industriellen der Stadt, des herrschsüchtigen Peter Arsenjewitsch Sinnurow, mit dem Spethmann bald schon unliebsame Bekanntschaft schließen wird. Hat der allmächtige Geldmogul seiner Tochter Gewalt angetan, als sie ein 13-jähriges, ahnungsloses Mädchen war? Oder hat er gar, vor Annas unschuldigen Augen, damals seine eigene Mutter ermordet? Die Ereignisse überschlagen sich, Spethmann findet kaum Zeit zum Atemschöpfen, er ist ständig in Zugzwang.

Und zu alledem spielt der Ich-Erzähler nebenher noch eine Schachpartie gegen seinen Freund Kopelzon, deren Fortschritte der Leser auf zahlreichen in den Text eingestreuten Diagrammen mitverfolgen kann. Der Autor verrät uns im Anhang, dass er diese Partie von seinem Freund und fachlichen Berater übernommen hat, dem englischen Großmeister Daniel King (ELO 2514), der als Weißer bei der Schweizer Mannschaftsmeisterschaft 2000 den überlegenen Russen Andrej Sokolow (ELO 2565) besiegte, indem er ihn im Endspiel geschickt in Zugzwang brachte. Das Wort „Zugzwang” wurde ursprünglich von dem Verleger und Schachmeister Max Lange 1858 in der von ihm herausgegebenen Berliner Schachzeitung geprägt und vier Jahre später in seinem Handbuch der Schachaufgaben etwas umständlich so definiert: „Der Zugzwang besteht in einer solchen Combination, welche der handelnden Partei aus dem Umstande, dass die Gegenpartei der Anforderung des Zuges genügen muss, entscheidende Vortheile erwachsen. Diese Erscheinung, dass die Erfüllung der Zugpflicht an sich die Stellung compromittiert, entspringt entweder aus Mittellosigkeit der Gegenpartei, welche bei geringer Auswahl an Zügen durch deren gezwungene Ausführung den Stand verschlechtert, oder sie ergiebt sich aus einer so ungünstigen Postirung aller Stücke, dass diese bei jeder nur möglichen Bewegung ihre Wirksamkeit gegenseitig behindern und hierdurch wesentlich den Angriffsplan der handelnden Partei fördern.” (Max Lange: Handbuch der Schachaufgaben. Leipzig: Verlag von Veit & Comp., 1862, S. 315.) Das Wort Zugzwang, das das Grimmsche Wörterbuch (Bd. 16, 3. Lfg. v. 1924) noch nicht verzeichnet, ist ins Englische und Russische als fachsprachlicher Germanismus übernommen worden und im Deutschen sehr bald auch in den nicht-fachlichen Sprachgebrauch eingegangen. Umgangssprachlich bedeutet „Zugzwang” allgemeiner, dass jemand durch eine Bedrohung zu einer bestimmten Handlung oder zumindest zu einer Reaktion gezwungen wird.

Mit dieser doppelten Wortbedeutung spielt Bennett, indem er seinen Helden Otto Spethmann in den sich überschlagenden, dramatischen Ereignissen der Handlung ständig unter Zugzwang (im allgemeinsprachlichen Sinn) setzt, ihm in der parallel laufenden Schachpartie aber die seltene Gelegenheit gibt, über seinen Kontrahenten zu triumphieren, indem er ihn auf dem Brett in Zugzwang (in des Wortes ursprünglicher Bedeutung) bringt. Das Verständnis der gewiss für Schachkundige interessanten Partie ist aber durchaus entbehrlich, um der verwickelten Romanhandlung zu folgen – und es bleibt sogar fraglich, ob es zu deren Deutung einen wesentlichen Beitrag leistet. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Bennett mit dieser Zugabe, die insofern wie „aufgepfropft” erscheint, nicht lediglich den Kreis seiner Leser um die nicht unbeträchtliche Zahl der Schachbegeisterten erweitern wollte. Mein Fazit: Das spannende Buch bietet unterhaltendes Lesevergnügen vor historisch gut recherchiertem Hintergrund und mit psychologisch glaubwürdig entwickelten Protagonisten. Das Verhältnis des Schachpiels zur gelebten Wirklichkeit hingegen lässt Ronan Bennetts Roman kaum in einem neuen Licht erscheinen.

[Titelbild: Bengt Ekerot als Tod und Max von Sydow als Kreuzritter Antonius Blok in Ingmar Bergmans Film Det sjunde inseglet von 1957.]