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Unverrottbar

Tuesday, 21. October 2008

Vor gut acht Monaten schrieb ich, noch unter anderer Adresse [*], über eine ärgerliche Verunstaltung meiner näheren Umgebung. Damals hatte sich bei einem starken Sturm eine grüne Plastiktüte von der allerbilligsten, federleichten, raschelnden Sorte im Wipfel eines Rotdorns hinter unserem Haus verkrallt. Was tun? Ins morsche Geäst klettern und einen Absturz riskieren? Eine Leiter lässt sich aus verschiedenen Gründen hier nicht nutzen. Der Baum steht in Hanglage. Die Entfernung vom schrägen und morastigen Boden bis zum Corpus Delicti beträgt locker 20 Meter, und an das dünne Astwerk kann man eine solche lange und entsprechend schwere Leiter kaum sicher anlegen. Sie an den Stamm zu lehnen, bringt uns einer Lösung auch nicht näher, denn von dort bis zur Tüte sind es immer noch acht Meter Luftlinie, verstellt von einem dichten Gewirr aus Ästen, Zweigen, Laub und Blattläusen. Selbst mit einer extralangen Teleskop-Astschere, wie sie der Nachbar hat, langt man von da aus nicht hin, das ist vollkommen ausgeschlossen und mindestens lebensgefährlich. Die Aussicht, dass uns dieses nie verrottende Tütchen nun den ganzen kommenden Frühling und Sommer hindurch mit seinem Geflattere und Geknistere auf den Wecker fallen könnte, fand ich wenig erquicklich, aber sehr wahrscheinlich.

Ich sollte leider Recht behalten. Als der Baum Ende Mai in voller rosafarbener Blüte stand, stach die Tüte besonders unangenehm ins Auge – und tat dies auch weiterhin, einen schönen Sommer lang. Und selbst jetzt noch, im wiederum stürmischen Herbst, krallt sich das schäbige Missgebilde weiter unverdrossen an die Astspitzen und verdirbt mir den täglichen Gartenspaziergang. Zwar ist es bei einem nächtlichen Unwetter neulich in zwei Teile zerrissen, deren jedes aber weiterhin mein empfindliches Auge beleidigt.

Bei den regelmäßigen Geburtstags- und sonstigen Feiern auf unserer Terrasse mangelte es nicht an guten Ratschlägen unserer Gäste. Man sollte doch vielleicht einen Pfeil an einem langen Seil hochschießen, nach dem Prinzip einer Harpune, in der Hoffnung, er würde sich dort durch einen Glückstreffer irgendwann so verheddern, dass man das grüne Monstrum mit herunterreißen könnte. Oder vielleicht könnte man von einem Zirkusartisten ein dressiertes Äffchen ausborgen, das auf freundliches Bitten und um den Preis einer Banane das Flatterding herunterapportierte.

Woche für Woche – es sind mittlerweile genau vierzig Wochen verstrichen seit dem Eintreffen des unwillkommenen Flugobjekts – wuchs mein Hass auf die Erfinder, Erzeuger und Nutzer eines solchen Unrats, der in der Herstellung so billig ist, dass er von den Händlern großzügig verschenkt wird und dem kein Mensch hinterherläuft, wenn ihn eine unerwartete Böe auf Nimmerwiedersehen davonträgt – um ein paar hundert Meter weiter jemanden durch Immerwiedersehen zu malträtieren.

So wurde mir mit der Zeit die eigentlich unbedeutende grüne Plastiktüte zum Wahrzeichen jener verhängnisvollen Kurzsichtigkeit unserer industriellen Massenproduktion, die milliardenfach unverrottbares Zeug in die Welt schleudert und sich einen Teufel darum schert, was draus wird und wo es bleibt, wenn es seinen kurzzeitigen Zweck erfüllt hat. Und als solches, als Fanal einer Einsicht, die vermutlich für uns alle zu spät kommt, ist mir schließlich die Tüte ans Herz gewachsen. Sollte der Baum irgendwann gefällt werden und die Tüte mit ihm von dannen gehen, wird sie mir fehlen. (Aber nicht so sehr wie der Baum.)

[* … nämlich bei Westropolis, dem Kulturblog der WAZ, das seit dem 4. Januar 2011 abgestellt ist. Deshalb übernehme ich Schritt für Schritt meine dort zuerst veröffentlichten Texte, sofern ihr Verfallsdatum noch nicht überschritten ist, in mein Revierflaneur-Blog. Der hier erwähnte Artikel erschien zuerst bei Westropolis am 8. Februar 2008 unter dem Titel Freitag, 8. Februar 2008 in meiner Reihe Journal intime und ist nur noch im Cache über eine passende Google-Suche auffindbar. Eine aktualisierte Neuauflage findet der Leser bei Ostropolis. (20.01.2011 MH)]