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Apfel

Wednesday, 15. October 2008

Seit einigen Wochen lese ich zum zweiten Mal ein Buch, das vor nun wohl 36 Jahren meinen Blick auf die Menschenwelt entscheidend und nachhaltig verändert hat. Man könnte sagen, dass ich seinerzeit durch dieses Buch meine kindliche Unschuld verloren habe. Es ist die Dokumentation Der Auschwitz-Prozeß von Hermann Langbein, zuerst erschienen 1965 in der Europäischen Verlags-Anstalt, wiederaufgelegt 1995 im Verlag Neue Kritik, beide in Frankfurt am Main.

Wenn in meinem Freundes- und Bekanntenkreis heute das Thema „Konzentrationslager im Nationalsozialismus” aufkommt, dann ist ein vielfach verwendetes Adjektiv zur Benennung des dortigen Geschehens „unvorstellbar”. Dort seien unvorstellbare Verbrechen begangen worden, unvorstellbares Leid sei den Juden und anderen Häftlingen zugefügt worden und es sei unvorstellbar, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten. In Auschwitz sei eine unvorstellbar große Zahl von unschuldigen Opfern vergast worden. Und dass es heute noch immer Menschen gebe, die dies ernsthaft leugnen, sei wenn nicht unvorstellbar, so doch schwer nachvollziehbar. – Jede einzelne dieser Aussagen ist falsch.

Dank des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (20. Dezember 1963 bis 21. August 1965) ist in weit über 200 ausführlichen Zeugenaussagen in allen erdenklichen Einzelheiten dokumentiert, was dort geschah, wie es geschah und warum es geschah. Es sich in aller Deutlichkeit vorzustellen, dazu bedarf es allerdings der Bereitschaft, es sich vorstellen zu wollen – doch wer will das schon? Wer setzt sich freiwillig dem Risiko aus, bei solchen Vorstellungen seine Lebensfreude und seinen Glauben an die Menschheit aufs Spiel zu setzen und zu einem sauertöpfischen Misanthropen zu werden? Das Lachen zu verlernen? Vor Kummer und Scham darüber im Boden zu versinken, zum Volk der Täter zu gehören, wofür es keine bessere Entschuldigung gibt als die fadenscheinige Ausrede von der „Gnade der späten Geburt” (Helmut Kohl)?

Ein Beispiel: Am 41. Verhandlungstag erklärte die aus Mexiko angereiste Zeugin Dounia Zlata Wasserstrom, geb. am 18. Januar 1909 in Gitomir (Russland), Häftling im KZ Auschwitz vom 23. Juli 1942 bis zur Evakuierung, Häftlingsnummer 10.308, Dolmetscherin in der Politischen Abteilung (Abt. II) in Auschwitz: „Im November 1944 kam ein Lkw an, auf dem sich Kinder befanden. Der Lkw hielt in der Nähe von der Baracke. Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf Jahren sprang vom Lkw herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür stand[en] [Wilhelm] Boger und [Hans] Draser. Ich selbst stand am Fenster. Das Kind stand neben dem Lkw mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, ‚das an der Wand‘ abzuwischen. Das tat ich auch. Eine Stunde später kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel. Das Ganze habe ich mit eigenen Augen gesehen. Das Kind war tot. Ein SS-Mann hat das tote Kind weggebracht.”

Dem Angeklagten Boger, der das Lachen offenbar noch nicht verlernt hatte [siehe Titelbild], fiel vor Gericht dazu nichts anderes ein als das knappe Statement: „Die Sache ist frei erfunden.” Ich bin da phantasievoller und denke an den 137. Psalm: „Tochter Babel, du Verwüsterin, / wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! / Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt / und sie am Felsen zerschmettert!”