Oikos

Ich trachte in jeder wachen Minute nach Einsicht und Erkenntnis. Das ist kein leichtes Los. Nur zu oft stoße ich dabei an meine Grenzen, niemals meines Interesses, sondern an jene, die mir meine beschränkte Vorbildung setzt. Weil mir mein Mathematiklehrer ab der Obertertia die Grundlagen der Infinitesimalrechnung nicht vermitteln konnte, scheitere ich nun bei dem Versuch, das Buch von David Foster Wallace über den „Jahrhundertmathematiker” Georg Cantor und seine „Entdeckung des Unendlichen” zu verstehen. (A. d. Am. v. Helmut Reuter u. Thorsten Schmidt. München: Piper Verlag, 2007.) Solch ein Handicap wurmt mich schrecklich und kann mir das ganze Wochenende versauen.

Aber das Essener Gymnasium, das ich in den Jahren 1967 bis 1976 besuchte, hat mich noch mit ganz anderen Defiziten ins Leben entlassen. So standen dort weder Ökonomie noch gar Ökologie auf dem Lehrplan. Deshalb bin ich weit davon entfernt, die Ursachen des gegenwärtigen Finanzdebakels in den USA zu durchschauen. Immerhin weiß ich aus dem Geschichtsunterricht, dass durch den New Yorker Börsencrash vom 24. Oktober 1929, dem legendären „Black Thursday“, eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurde, die nicht unwesentlich zur Massenarbeitslosigkeit im Deutschen Reich beitrug – und damit zu Hitlers „Machtergreifung”, zum „Ausbruch” des Zweiten Weltkriegs und zum größten Genozid der (bisherigen) Menschheitsgeschichte. Was sich jetzt in unserer globalisierten Weltwirtschaft seit dem 15. September abspielt, als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden musste, das kommt den verhängnisvollen Ereignissen vor 79 Jahren jedenfalls näher als jedes vergleichbare Krisengeschehen zuvor. Der aktuelle Wirtschafts-GAU verhält sich zur Ölkrise von 1973 und zur New-Economy-Krise im Gefolge von 9/11 wie die Pest zu einem gewöhnlichen Schnupfen, das begreife sogar ich mit meinem beschränkten ökonomischen Verstand. Wenn selbst der dem rechten SPD-Flügel zuzurechnende Finanzminister Peer Steinbrück angesichts dieses Debakels im Spiegel-Gespräch einräumt, „dass gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind”, dann ist das schon alarmierend.

Hinzu kommt, dass die Pleitewelle mitten in die heiße Phase des Wahlkampfs in den USA fällt, in dem sich der Republikaner John McCain als Fachmann für die Außenpolitik (Krieg gegen die Taliban und al-Qaida im Irak, Afghanistan und Pakistan) zu profilieren sucht, während sein Widersacher, der Demokrat Barack Obama, seinen Wählern verspricht, die marode Wirtschaft im Lande zu sanieren und ihnen wieder zu Arbeitsplätzen und Wohlstand zu verhelfen. Kein Wunder also, dass nach der Lehman-Pleite Obamas Umfragewerte nach oben schossen. McCain benötigt nun – horribile dictu! – dringend ein schweres islamistisches Attentat, möglichst auf heimischem Boden, um wieder Anschluss zu gewinnen. Dabei gerät freilich das noch wichtigere Thema, die bevorstehende ökologische Katastrophe, völlig aus dem Blick.

Die beiden Ö-Wörter, Ökologie und Ökonomie, leiten sich ja einerseits vom griechischen „Oikos” ab, das zugleich Haus, Haushalt, Familie, Großfamilie, Sippe, Stamm, Abstammung, Geschlecht und alle zu einem Haus gehörenden Menschen einschließlich der Sklaven bedeutet. Andererseits unterscheiden sich die Fachbegriffe durch ihre Endungen: -logie (von griech. „Logos”, Lehre) bzw. -nomie (von griech. „Nomos”, Gesetz). Interessant ist der Vergleich mit dem ähnlichen Begriffspaar Astrologie und Astronomie. Letztere ist ursprünglich die Wissenschaft von den Gesetzen, nach denen die Himmelskörper sich bewegen, während Erstere, die Sterndeutung, eine mittlerweile eher obskure Lehre ist, kaum seriöser als reine Kaffeesatzleserei. Und so werden auch die klugen Einsichten und Warnungen der Ökologen von den Mächtigen in Politik und Wirtschaft noch immer nicht so ernst genommen, wie sie’s verdienten.

Das griechische Wort Oikos kommt in der Bibel an zahlreichen Stellen vor. Eine besonders bedenkenswerte Ermahnung findet sich im Neuen Testament, wo Jesus bei der Tempelreinigung zu den Taubenhändlern sagt: „Schafft das hier weg, macht das Haus [oikos] meines Vaters nicht zu einer Markthalle!” (Joh. 2.16) Genau dies jedoch ist in den letzten zweitausend Jahren geschehen. Und jetzt steht diese Markthalle erneut unmittelbar vor dem Konkurs – mit katastrophalen Folgen für das „Haus des Vaters”, den Tempel der Natur: die Biosphäre.

4 Responses to “Oikos”

  1. Günter Landsberger Says:

    a) Der Übersetzer von David Foster Wallaces bedeutendstem Roman, dessen Übersetzung ins Deutsche Ende Dezember 2008 abgeschlossen sein soll, hat für seine Übersetzung ebenfalls einen Mathematiklehrer als Hilfe benötigt.
    b) Zitat: “Was sich jetzt in unserer globalisierten Weltwirtschaft seit dem 15. September abspielt, als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden musste, das kommt den verhängnisvollen Ereignissen vor 79 Jahren jedenfalls näher als jedes vergleichbare Krisengeschehen zuvor.”
    Manche sagen sogar, der Vorgang sei noch schlimmer als die Ereignisse von vor 79 Jahren. Wahrscheinlich haben sie leider recht.

  2. Revierflaneur Says:

    Kleine Korrektur. Wenn ich richtig informiert bin, müssen wir uns bis zum Erscheinen der deutschen Übersetzung von “Infinite Jest” (durch Ulrich Blumenbach) noch bis Ende 2009 gedulden. Wer weiß, ob wir uns dann die Anschaffung dieses Buches noch leisten können? Oder ob wir dann nicht ganz andere Sorgen haben werden?

  3. Günter Landsberger Says:

    Kleine Korrektur der Korrektur: Bis zum Erscheinen vielleicht. Aber ich habe den Übersetzer selbst vor einer Woche im DLF (Büchermarkt) sagen hören, dass er bis Ende 2008 mit der Übersetzung fertig sein soll und wohl noch fertig werden wird. Wie lange das dann bis zur Veröffentlichung des Buches dauern wird, wurde nicht gesagt. Zumindest nicht in dieser Sendung.

  4. Revierflaneur Says:

    Eine interessante Information – aber nicht unbedingt eine gute Nachricht. Harald Staun schrieb am 21. September 2008 in der FAS: “Im nächsten Jahr wird Infinite Jest wohl [!] auf Deutsch erscheinen.” Willi Winkler in der SZ vom 15. September: “Nächstes Jahr erscheint (hoffentlich) Ulrich Blumenbachs Übersetzungsgroßwerk, die Übertragung von Infinite Jest.” Blumenbach selbst hoffte im Spiegel vom 19. Oktober 2004, kurz nachdem er den Job übernommen hatte: “In der ersten Jahreshälfte 2007 müsste ich es geschafft haben.” Da hat er sich offenbar verschätzt. Auf der Website des Verlages Kiepenheuer & Witsch heißt es noch heute: “Im Herbst 2009 [!] wird Kiepenheuer & Witsch Infinite Jest (»Unendlicher Spaß«), eines der größten Übersetzungsprojekte in der Verlagsgeschichte, herausbringen. An dem im Deutschen ca. 1700 Seiten umfassenden Roman arbeitet der Übersetzer Ulrich Blumenbach seit mehreren Jahren.” – Wenn jetzt Blumenbach im Deutschlandfunk das Buch noch für dieses Jahr ankündigt, muss man wohl befürchten, dass die Übersetzung unter dem Zeitdruck, den Foster Wallaces überraschender Tod erzeugt hat, leiden wird.

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