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Volksopium

Friday, 26. September 2008

Es gibt eine, vielleicht zwei Handvoll Sätze, die in ihrer durchschlagenden Wirkung auf das Bewusstsein der Menschen folgenreicher gewesen sein mögen als tausend kluge Bücher. Einer dieser Sätze lautet: „Religion ist Opium fürs Volk.” Seine Strahlkraft reicht bis in die Gegenwart und in die Popkultur. So brachte die Düsseldorfer Punkrockband Die Toten Hosen 1996 eine Platte mit dem Titel Opium fürs Volk heraus. Im Booklet zur CD ist u. a. Lenin als Redner vor Arbeitern zu sehen, vermutlich aber nicht, weil er öfter mal als Urheber des Zitats genannt wird, sondern weil auch die kommunistische Propaganda als eine modernere Form von „Opium fürs Volk” bloßgestellt werden soll. Schließlich hatte Campino schon zehn Jahre vorher prophezeit: „Das Ende ist nah, / für Lenin und Marx, / das Ende ist nah.” (Refrain von Disco in Moskau auf Damenwahl).

Die unverbesserlichen Besserwisser weisen dankenswerterweise ein ums andere Mal fröhlich pfeifend darauf hin, dass der Satz erstens nicht von Lenin stammt, sondern von Karl Marx; und dass er zweitens richtig lautet: „Religion ist das Opium des Volkes.” Nichts macht bekanntlich mehr Spaß, als Besserwisser zu belehren, besonders dann, wenn sie ihren Spitzfindigkeiten den Ritterschlag einer tieferen Bedeutung geben wollen. In diesem Falle meinen sie, dass ein entscheidender Unterschied bestehe zwischen „Opium fürs Volk” und „Opium des Volkes”. In der ersten Variante werde der Schwarze Peter den Herrschenden zugeschoben, die das willenlose Volk mit der Droge Religion vergiften, während das Marxsche Originalzitat dem Volk die Schuld gebe, das nach dem Trost spendenden Rausch selbst verlange. Wenn wir im Bilde bleiben, wird die Absurdität dieser Argumentation schnell offenkundig. Wir müssten dann die Junkies in unseren Städten hart bestrafen, statt ihnen Therapieangebote auf Kosten der Allgemeinheit zu machen, während die Dealer straffrei davonkämen.

Auch mit ihrem Nachweis der Urheberschaft des berühmten, viel zitierten Satzes liegen die Besserwisser nur halb richtig. Auf Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, kann man sich durchaus auch berufen. In seinem heute noch lesenswerten Aufsatz Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion schreibt er: „Die Religion ist das Opium des Volkes – dieser Ausspruch von Marx bildet den Eckpfeiler der ganzen Weltanschauung des Marxismus in der Frage der Religion. Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen und umnebeln sollen.” (Zuerst ersch. in: Proletary, Paris, Nr. 45 v. 13. Mai 1909.)

Dieser „Ausspruch von Marx” findet sich in der Einleitung zu dessen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und lautet im Zusammenhang: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. – Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.” (Zuerst ersch. in: Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1944.) – Übrigens hört man den Satz oft falsch betont. Es muss nicht heißen: „Religion ist das Opium des Volkes.” Denn das würde ja unterstellen, dieses Rauschmittel sei eigentlich eine Droge der herrschenden Klasse gewesen, was weder in Asien noch in Europa je der Fall war. Vielmehr ist der Ausspruch nur mit dieser Betonung plausibel: „Religion ist das Opium des Volkes.”

Einiges spricht dafür, dass Karl Marx sich zu seinem Satz von Heinrich Heine inspirieren ließ, den er 1843 persönlich kennen gelernt hatte. Der Dichter hatte 1840 in seiner Denkschrift Über Ludwig Börne geschrieben: „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goß, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!”