Archive for September 18th, 2008

Orwell, well?

Thursday, 18. September 2008

Ich erinnere mich noch gut ans Eric-Arthur-Blair-Jahr. So heißt ja sein vielleicht folgenreichster Roman: Nineteen Eighty-Four, von – die letzten beiden Ziffern vertauschend – 1948. Da hat sich Mr. Always, wie er sich auch nannte, einiges zugetraut: den Blick in die Zukunft über drei Dutzend Jahre hinweg. Die meisten Romane, die die Zukunft ausfabulieren, entwickeln ein Bild, das hauptsächlich von den wissenschaftlichen Fortschritten und ihren möglichen Folgen bestimmt ist. Nicht ohne Grund heißt das Genre ja auch Science Fiction.

Das verstellt dem vorurteilsbeschränkten Leser, der seine Lektüre nach solchen oberflächlichen Genre-Kriterien ausfiltert, leider den Blick auf ein Dutzend überaus lesenswerter, dem Verständnis der Gegenwart zuträglicher Romanciers. George Orwell ist unter diesen ein Sonderfall, weil seine Verfolgungswahnideen, ähnlich denen Franz Kafkas, heute offenbar ein zutreffendes Bild der Ängste eines kultivierten Mitteleuropäers ergeben.

Beider Romanwerke taugen dann gemäß Erlass des Kultusministers als Schullektüre in der Oberstufe deutscher Gymnasien. Wäre man böswillig, dann könnte man sagen: Oberstufenbildung im Bereich der Geisteswissenschaften deutscher Gymnasien verfolgt das Ziel, Angst zu verbreiten. Da man aber gutwillig ist, gratuliert man der Bildungsbürokratie zu ihrer Arglosigkeit: Eine bessere Auswahl konntet ihr nicht treffen als diese beiden zum Selbstzweifel ermunternden Visionäre!

Die Welt vor zwei Dutzend Jahren, die nun auch bald wieder zur Geschichte des vorletzten Jahrhundertviertels gehört, hat sich der Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der trotzkistischen POUM als Überwachungsstaat ausgemalt. Seine Inspirationsquelle für diese Paranoia war die britische BBC, wo er von 1941 bis 1943 als Kriegspropagandist arbeitete. So bezwingend die Vorstellung sein mag, dass die Freiheit des Individuums durch einen totalitären Überwachungsstaat gefährdet ist, so harmlos ist sie doch angesichts der ernsteren Bedrohungen unserer Fortdauer auf diesem Planeten mittlerweile geworden.

Ich frage mal ketzerisch: Was ist an dem Satz “Big Brother is watching you!” eigentlich so bedrohlich? Mein großer Bruder passt auf mich auf, achtet auf mich, behält mein Wohlergehen im Auge. Das ist doch nicht beunruhigend, sondern schafft vielmehr ein angenehmes Gefühl von Sicherheit. Die Gesinnungspolizei hat ja schließlich nur einer zu fürchten, der was zu verbergen hat, oder? (Fortsetzung demnächst unter dem Titel „GEZ”.)

Dingwelt (II)

Thursday, 18. September 2008

Heute: Zuckerpott mit Löffel. – Ulla hat ihn vor vielen Jahren auf einem Basar an der Essener Freien Waldorfschule zum Spottpreis von zwei Mark erstanden. Wie lange ist das her? Das könnten wohl fast zwanzig Jahre sein, in denen er uns nun schon täglich gute Dienste leistet. Es ist ein kleines Wunder, dass er unterdessen nicht irgendwann einmal in Scherben gegangen ist, denn das Porzellan ist für seine Größe verhältnismäßig dünn und an unserem Frühstückstisch herrschte, als unsere Kinder noch klein waren, oft ein rechtes Tohuwabohu. Klopf auf Holz: toi, toi, toi!

Seine braune, wie hingewischte Glasur weist den Zuckerpott als ein bodenständiges, etwas hausbackenes, zünftiges, grundehrliches Gefäß aus. Er ist alles andere als ein artifizieller Luxusgegenstand für den großbürgerlichen Teetisch, wie die Zuckerdosen mit Deckel von Villeroy & Boch oder Hutschenreuther, die man alle paar Tage nachfüllen muss. Dieses Gefäß fasst gut ein Pfund Zucker, angemessen für eine Großfamilie. Kein Tag vergeht, an dem ich es nicht zur Hand nähme und mich aus ihm bediente, um meinen Kaffee zu süßen.

Soweit man das von einem toten Gegenstand sagen kann, liebe ich diesen Zuckerpott und würde ihm gewiss eine Zeit lang nachtrauern, wenn er doch einmal zerbräche. Dabei habe ich zu seiner praktischen Funktion, zu dem Dienst, den er mir leistet, ein mindestens zwiespältiges Verhältnis. So unkritisch bin ich ja nicht, dass ich nicht um die schädlichen Folgen raffinierten Zuckers für meine Gesundheit wüsste. Im Gegenteil! Ich habe mich mit dieser speziellen Ernährungsgewohnheit einmal sehr gründlich beschäftigt und mit Gewinn zwei Bücher zu diesem Thema gelesen.

Dass C12H22O11 kein harmloses Genuss-, sondern ein auf Dauer krank machendes Suchtmittel ist, für eine vollwertige, abwechslungsreiche und schmackhafte Ernährung absolut entbehrlich, das lernte ich aus William Duftys Zucker Blues (a. d. Am. v. Annemarie Telieps. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1996). Dufty kam zu dieser Erkenntnis durch Gloria Swanson, den legendären Stummfilmstar, deren sechster und letzter Ehemann er 1976 wurde, im gleichen Jahr, als sein Sugar Blues zuerst im amerikanischen Original erschien. Die Einsicht, dass der internationale Zuckermarkt ein kaum weniger mafiöses Krebsgeschwür ist wie der weltweite illegale Drogenhandel mit Heroin und Kokain, das wurde mir klar, als ich das Buch Zucker des Schweizer Journalisten Al Imfeld gelesen hatte (Zürich: Unionsverlag, 1983).

Rationale Erkenntnis ist ein erster Schritt – aber daraus ganz persönliche Schlüsse zu ziehen und eine lebenslange liebe Gewohnheit aufzugeben, ist ein langer und schmerzvoller Weg. Bis dahin habe ich weiter mein tägliches Tête-à-Tête mit dem Zuckerpott, den ich um seiner Treue willen liebe und wegen seines tödlichen Inhalts hasse. Vielleicht würde mir der endgültige Abschied vom Zucker leichterfallen, wenn ich wüsste, wozu ich den Pott anschließend nutzen könnte?

[Titelbild: Zuckerpott mit Silberlöffel und Zucker auf Raster 10 x 10 mm.]