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Romane lesen?

Monday, 18. August 2008

romanflut

Der große Alfred Polgar hat einmal in einem seiner unnachahmlich konzisen Bravourstücke nur vermeintlich kleinmeisterlicher Kurzprosa bekannt: Ich kann keine Romane lesen (zuerst erschienen in Der Tag, Wien, 4. April 1926; hier zit. nach: Kleine Schriften. Bd. 4: Literatur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1984, S. 259-263). Und seine knappe Erklärung dieses persönlichen Unvermögens ist, gerade für einen Romanvielleser wie mich, tatsächlich bezwingend.

Eingangs führt Polgar uns erbarmungslos vor Augen, dass es auf der Welt „entschieden zu eng“ ist. Wohlgemerkt: Das konstatierte er bereits vor gut acht Dezennien; um wieviel mehr gilt es heute? „Es gibt sehr viele Menschen auf dem Planeten Erde – alle, natürlich, sollen gesund sein und leben bis hundert! – in China allein hausen eine halbe Milliarde, und das so dreieckige wie dreckige Zimmer im XVIII. Bezirk, wo mein Schuster Potzner mit Familie wohnt, beherbergt sechs Personen.“ Ganz aktuell, was die Zahlen und Fakten betrifft, ist Polgars Text zwar nicht mehr, wie man hieran schon sieht. Denn heute hausen in China bereits 1,321 Mrd. Menschen, weit mehr als doppelt so viele, trotz der dort seit 1980 konsequent verfolgten Ein-Kind-Politik. Was die Folgen aus Polgars längst veralteten Voraussetzungen angeht, ist er aber nur umso aktueller. (Nebenbei – und bei Polgar offenbart sich ja nicht selten die Hauptsache in einem solchen „Nebenbei“ – erklärt er uns, warum er „furchtbare Angst“ vor dem Kommunismus hat. Auch da sind wir mittlerweile einen Schritt weiter. Wir wissen, ohne durch diese Erkenntnis glücklicher geworden zu sein, dass Polgars Angst begründet war.)

Und so fährt der Meister fort: „Doch das führt ab von Weg und Ziel dieser Betrachtung. Eigentlich wollte ich sagen, daß der Mensch, obwohl er oft, ich zum Beispiel, wirklich gar nichts dafür kann, erschütternd viele Menschen kennt. Indem du lebst, setzt sich Bekanntschaft an wie Zahnstein, und die Laden deines Bewußtseins füllen sich mit Sachen der Nebenmenschen wie die deines Tisches mit Briefmüll. Man sollte jene ausräumen können gleich diesen. Aber das Leben rieselt jeglichen Tag, und auf nein und nein hat es dich ganz versandet und verschüttet. In tausend Schicksale bist du durch Neugier, Gefühl, Nötigung hineingeknüpft, tausend Atem wehen Hauch und Sturm in deine Segel, immer schreckhafter wird die unentrinnbare Vision von Figuren, Gesichtern, Stimmen, die deine Szene hintergründig abschließt.“ (Ebd., S. 260 f.) Dies alles ist mir nur allzu vertraut. Und nun stellt Polgar die ketzerische, bohrende, unabweisliche Frage: „Und da soll man Romane lesen?“

Ja, warum eigentlich? Hat man denn noch nicht mehr als genug Ablenkung vom Eigentlichen des Eigenen durch das quirlige Tohuwabohu der frei- und unfreiwilligen Sozialkontakte, wie der moderne Begriff für diese alte, strapaziöse Unübersichtlichkeit lautet? „Bei dieser Übervölkerung des Bewußtseins,“ so Polgar weiter, „noch Leute hineinzulassen, die gar nicht sind oder waren? Dem bis zum Niederbrechen in Anspruch genommenen Interesse für das Leben, seine Figuren und Schicksale, auch noch konstruiertes Leben, erfundene Figuren, zusammengelogene Schicksale aufladen? Wie, bei dieser schrecklichen Antlitze-Inflation, die das Dasein ohnehin mit sich bringt, soll ich noch Antlitze aus der Phantasie-Münze des Romanschreibers in meinen geistigen Umlauf setzen? Zubauen statt abbauen?“ (Ebd., S. 261)

Alfred Polgar hat Recht – aber cum grano salis. Ganz möchte ich auf die Gegenwelt der Romanfiktion nicht verzichten. Allerdings bin ich sehr wählerisch geworden. Vom unüberschaubaren Personal der aberhundert Romane, dem ich in meinem langen Leserleben Zutritt zu meinem Bewusstsein gewährte, sind nur sehr wenige Antlitze noch deutlich erkennbar. Neben diesen allerdings verblasst manche Fratze, die mir im wirklichen Leben in den Weg trat. Und gelegentlich baue ich diesseits ab, um für die jenseitigen Figuren und Schicksale eines Romans Raum zu schaffen. Und außerdem, lieber Bruder Alfred: Sind nicht auch die Schicksale vieler realer Nebenmenschen zusammengelogen? Unwirklicher und bedeutungsloser als eine wahre Erfindung? Eine Real-Münze zwar, für die ich mir aber dennoch nichts kaufen kann?