Findling (I)

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Beim Stochern in der Weltbühne, auf Siemsens Fährte, stolperte ich heute zufällig über eine kleine Gerichtsreportage zum Mordfall Helmut Daube in Gladbeck, der seinerzeit im ganzen Deutschen Reich für Aufsehen sorgte. Ihr Autor leitet den justizkritischen Text mit einem Kurzporträt des Ruhrgebiets ein, den es sich noch heute zu lesen lohnt:

Der Tatort „Gladbeck ist ein kleiner Bezirk in jener riesenhaften Aneinanderreihung von Fabrikorten, die von Dortmund und Hagen über die Provinzgrenze hinweg bis nach Crefeld und Düsseldorf reicht. Mit der elektrischen Straßenbahn kann man das ganze Gebiet durchqueren, aber doch ist es keine Großstadt. Vor sechzig, siebzig Jahren wurden aus kleinen westfälischen und rheinischen Bauerndörfern plötzlich Industriestädte. Fremdes Proletariat wanderte in Massen zu, und die Städte wuchsen zusammen. Eine Einheit sind sie nicht geworden, es sind Kleinstädte in Mammutformat. Kleinstädtisch aber bleiben auch die geistigen und kulturellen Bedürfnisse. Die Zahl der in künstlerischen, wissenschaftlichen, buchhändlerischen Betrieben beschäftigten Personen im ganzen Industriegebiet liegt weit unter dem für Deutschland berechneten prozentualen Durchschnitt. Eine Großstadt kann man nicht mechanisch schaffen; die einzelnen Orte im Industriegebiet haben doch stets ihr eignes Geschäfts- und Industriezentrum behalten, um das sich dann Wohnbezirke gliedern.“ (Wolf Zucker: Gladbeck; in: Die Weltbühne, 24. Jahrgang, Nr. 45 v. 6. November 1928, S. 719.)

Das ist doch gut erkannt, klar gesagt – und stimmt im Kern auch heute noch, wenngleich sich das Industrie- mittlerweile zum Dienstleistungsgebiet gewandelt hat. Schon an der Aufgabe, eine identitätsstiftende Dachmarke für die gesamte Region zu finden, beißen sich renommierte Marketingagenturen regelmäßig die Zähne aus. Die Kirchturmspolitik der vielen Städte und Landkreise treibt immer wieder seltsame Blüten und verhindert jene Bündelung der Kräfte, die das Revier wenn schon nicht voranbringen, so doch seinen spürbaren Niedergang bremsen könnte.

Angesichts der Herausforderung, sich in zwei Jahren als Europas Kulturhauptstadt präsentieren zu sollen, droht das Ruhrgebiet gleich doppelt zu scheitern: Es vermag als Kleinstadt-Konglomerat, das es nach wie vor ist, kein großstädtisches Flair zu entfalten – und es weiß den kulturellen Ansprüchen dieses Mega-Events nur durch künstliche Implantate internationaler Highlights zu begegnen. Es fehlt eben nach wie vor an kultureller Substanz und einem selbstbewussten Identitätsgefühl der Bürger an der Ruhr.

Wer als junger, ehrgeiziger Kulturschaffender aus dem Ruhrgebiet vorankommen will, der sieht zu, dass er Land gewinnt. Das war schon immer so und wird auch nach dem Jahr 2010 so bleiben. Eine inspirierende Großstadtatmosphäre, ein unverwechselbarer urbaner Charakter und ein markantes bauliches Antlitz, solche Wohn-, Freizeit- und Lebensqualitäten lassen sich nicht mit noch so vielen Museen, Konzerthäusern und Universitäten aus dem Boden stampfen. Das Schlüsselwort in der 80 Jahre alten Diagnose von Wolf Zucker ist „plötzlich“. In der belebten Natur wächst so kein gesundes Organ, sondern nur ein Krebsgeschwür. – Warum um alles in der Welt ich dann noch hier bin? Sehr einfach: aus einem leidenschaftlichen Interesse für „Sozial-Onkologie“.

[Fortsetzung: Findling (II).]