Habent sua fata libelli (I)

polgarzeichnung

Während in den vergangenen Wochen meine Begeisterung für Alfred Polgar beim Lesen ständig wuchs, schrumpfte im gleichen Maße – die Mathematiker nennen dies wohl „umgekehrt proportional“ – mein ursprünglich fester Vorsatz: mich keineswegs in Versuchung führen zu lassen, die sechsbändige Dünndruck-Ausgabe seiner Kleinen Schriften über ZVAB zu ordern. Der Vorsatz tendierte schließlich gegen Null, und was dies für den Grad meiner Verehrung von Polgar bedeutet, mögen die Mathematiker ausrechnen. Auf dem Weg zu diesem Moment der Umkehr taten mir die ersten drei Bände der Taschenbuch-Ausgabe, Musterung, Kreislauf und Irrlicht, beste Dienste, in denen ich skrupellos annotierte und die ich ohne Rücksicht auf Soßenspritzer auch neben den Spaghettiteller legen durfte. Arbeitsexemplare eben.

Vor drei Tagen war ’s dann um mich geschehen. Ich durchsuchte das Angebot der Antiquariate nach einer möglichst gut erhaltenen Erstausgabe der Sammlung, erschienen von 1982 bis 1986 (WG 53), wobei mir deren erste Hälfte vollauf genügen sollte. Die Buchrezensionen und erst recht die Theaterkritiken, die in den Bänden vier bis sechs zusammengetragen sind, waren mir nicht so wichtig, und was Letztere betrifft, kann ich vielleicht sogar ganz auf sie verzichten. Denn zu dramatischer Literatur und Bühnenkunst habe ich nun mal ein gestörtes Verhältnis, genauer gesagt: gar keines. Der Balken in meinem Auge ist aus dem Holz der Bretter geschnitzt, die die Welt bedeuten. Shakespeare? Ich muss immer wieder nachschauen, wie sich der noch mal schreibt.

Und tatsächlich wurde ich beim Mausrädchendrehen schnell fündig. Für nur 50 € erwirbt der staunende Sammler 1.272 Textseiten Polgar, fein ausgestattet, in königsblauem Leineneinband, auf augenfreundlich-chamoisfarbenem Dünndruckpapier und nahezu verlagsfrisch. Lediglich die Schutzumschläge seien, so der Antiquar, am Rücken „leicht aufgehellt“. (Was er verschweigt: dass die sonst so edlen Bücher nicht fadengeheftet, sondern gelumbeckt sind; doch diese Barbarei war Mitte der 1980er-Jahre bei deutschen Verlegern ja leider längst Usus.) Die Polgarbände haben also beim Vorbesitzer in der Sonne gestanden? Aber da gehören sie ja schließlich auch hin! Das Vergnügen, in diesen edlen Büchern zu lesen, kostet mithin knapp vier Eurocent pro Seite: ein Spottpreis! Mit einer Tankfüllung für 50 € fahre ich per Smart von Essen nach Oldenburg und zurück. Was soll ich in Oldenburg? Da bleibe ich doch lieber smart in meinem königsblauen Ohrensessel sitzen und lese in den königsblauen Polgar-Bänden.

Dann hieß es noch in der Beschreibung des Antiquars: „Beiliegt: Verlagskorrespondenz zu der Ausgabe.“ Ein kleines Schmankerl obendrein? Da war ich aber gespannt! – Die „Verlagskorrespondenz“ erwies sich als ein maschinenschriftlicher Brief der Presse- und Informationsabteilung des Rowohlt-Verlags an Herrn Thilo Koch, 7201 Hausen ob Verena: „Sehr geehrter Herr Koch, mit Ihrem Schreiben vom 14. 10. 86 bitten Sie um die Zusendung der Polgar-Bände 4, 5 und 6. – Wir müssen an Ihr Verständnis appellieren, aber leider sind wir nicht in der Lage, Ihrem Wunsch zu entsprechen, da bei der sehr geringen Auflagenhöhe uns keine Freiexemplare für den Rezensionsversand zur Verfügung stehen. Es kommt jedoch immer wieder vor, daß einzelne Titel nicht in den Rezensionsversand gegeben werden – wir bedauern das selbst. Mit freundlichen Grüßen.“

Damit wäre also auch die Provenienz meiner drei heute eingetroffenen Polgar-Bände geklärt. Thilo Koch, der prominente deutsche Fernsehjournalist, Washington-Korrespondent und Buchautor (u. a. Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte, 1961) starb vor knapp zwei Jahren in Hausen ob Verena. Die Erben machen die Bücher des Alten zu Geld, nur zu verständlich bei den steigenden Spritpreisen. Und so flattert das Brieflein auf meinen Schreibtisch. Gibt man „Thilo Koch“ und „Polgar“ in Google ein, findet man gerade mal eine einzige relevante Belegstelle: Tucholsky war ein großer Journalist, auf andere Weise auch Polgar.“ Das schrieb Koch in einem Essay unter dem Titel Ein Journalist und das Vaterland (in: Die Zeit, Nr. 36 v. 5. September 1957). Ob Thilo Koch deshalb so dringlich die Bände 4 bis 6 der Polgar-Ausgabe haben wollte, um seinen fragwürdigen Satz aus dem Jahr 1957 noch einmal zu prüfen? Und um uns vielleicht anschließend zu erklären, was er mit „auf andere Weise“ präzis gemeint hat? Wohl kaum. Ihn störte einfach die Unvollständigkeit dieser Werkausgabe in seinem sonnenbeschienen Bücherschrank. Und das kann ich sogar nachempfinden.

[Fortsetzung: Habent sua fata libelli (II).]

4 Responses to “Habent sua fata libelli (I)”

  1. Günter Landsberger Says:

    Die Theaterkritiken Polgars sind überhaupt nicht zu verachten. Ganz im Gegenteil! Ein Beispiel: die zu Schillers “Kabale und Liebe” und noch viele andere.

  2. Günter Landsberger Says:

    Die sechs Dünndruckbände wurden vor einigen Jahren noch bei der Büchergilde Gutenberg, die sie erst mustergültig herausgebracht hatte, geradezu verscherbelt.

  3. Revierflaneur Says:

    Ja, die Büchergilden-Ausgabe war bei ZVAB auch im Angebot. Ich habe mich mal wieder von meinem Erstausgaben-Fetischismus hinreißen lassen. Ist sie am Ende gar fadengeheftet? Dann muss ich mich damit trösten, dass mir die “Verlagskorrespondenz” entgangen wäre, wenn ich mich für sie entschieden hätte. – Danke für den Link auf den kurzen Polgar-Aufsatz, den ich noch nicht kannte. [Nachsatz am 20. März 2010: Die E-Mail von Günter Landsberger mit dem Link habe ich heute gelöscht, weil die Adresse http://www.gegensatz.at nicht mehr existiert. MH]

  4. Tomas Andersson Says:

    Mal einen Gruß an alle, die diese Seite genauso gerne und häufig besuchen wie ich 🙂

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