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Skrivekugle

Wednesday, 23. July 2008

skrivekugle

Vor einigen Jahren erfuhr ein beruflicher Vielschreiber in der Schweiz zufällig, dass sein Tagewerk durch eine völlig neue technische Erfindung erheblich vereinfacht werden könnte. Da seine Sehkraft durch das viele Lesen sehr gelitten hatte und das Schreiben mit dem modernen Hilfsmittel nach einer Woche Übung, wollte man der Reklame glauben, der Tätigkeit der Augen gar nicht mehr bedürfe, trat er mit dem Erfinder, einem Herrn Malling-Hansen in Kopenhagen, in Korrespondenz und bestellte wenig später den Skrivekugle genannten Apparat.

Der experimentierfreudige Mann hieß Friedrich Nietzsche, man schrieb das Jahr 1882. Sein anfänglicher Optimismus wurde allerdings bald gedämpft. Die Maschine traf in beschädigtem Zustand ein, blieb auch nach der langwierigen Reparatur durch einen örtlichen Mechaniker überaus labil, von einer bequemen Handhabung konnte nicht die Rede sein. Zwar gelang es Nietzsche, seine Minutenanschlagszahl von anfänglich 15 mit der Zeit auf rund 100 zu steigern, aber das blinde Finden der Buchstaben bereitete ihm bis zuletzt einige Mühe, die das Schreibtempo verlangsamte. Nachdem die Skrivekugle, „delicat wie ein kleiner Hund“, immer wieder „viel Noth“ gemacht und schließlich einen nicht mehr behebbaren „Knacks weg“ hatte, kapitulierte er vor der Tücke des Objekts und kehrte reumütig zu Soennecken’s Kurrentschriftfeder Nr. 5 zurück.

Die Episode ist deshalb heute noch von Interesse, weil sie den Philosophen ganz nebenbei zu einer Einsicht brachte, die für technische Innovationen an Hilfsmitteln und Werkzeugen des Schreibens und Lesens ganz allgemein auch heute noch zutrifft. Als sein Freund Heinrich Köselitz von der Anschaffung der Skrivekugle erfuhr, schrieb er an Nietzsche: „Nun möchte ich gern sehen, wie mit dem Schreibapparat manipulirt wird; ich denke mir, daß es viel Übung kostet, bis die Zeilen laufen. Vielleicht gewöhnen Sie sich mit diesem Instrument gar eine neue Ausdrucksweise an – mir wenigstens könnte es so ergehen; ich leugne nicht, daß meine ,Gedanken‘ in der Musik und Sprache oft von der Qualität der Feder und des Papiers abhängen.“ – Darauf antwortet Nietzsche: „Sie haben Recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken. Wann werde ich es ueber meine Finger bringen, einen langen Satz zu druecken!“ (Zit. nach Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. Carl Hanser Verlag: München · Wien, 2000, S. 505.)

Dieser Tage erschien ein brillantes Essay von Nicholas Carr, das die Auswirkungen des Internets auf unser Lesen und Schreiben und damit schließlich auch auf unser Denken zum Thema hat. (Is Google Making Us Stupid?; in: The Atlantic Monthly, Vol. 301, No. 6, July/August 2008). Carrs kritische Einwände, gut fundiert durch aktuelle medizinisch-psychologische Studien, haben der Internet-Community reichlich Diskussionsstoff geliefert. Alex Rühle beschließt seinen Artikel in der heutigen SZ über Carrs Essay mit dem Satz: „Interessant wäre es nun noch, gemeinsam durch einige Blogs zu flanieren, die sich an Carrs These abarbeiten, wir stünden an einem evolutionsgeschichtlichen Wendepunkt, da das tiefe, entspannte Denken, das Lesen eines langen Textes, dieses richtige Lesen, bei dem man das Buch über Tage mit sich herumträgt, ins Cafe, an den Fluss, ins Bett, und mit den Figuren zu leben beginnt, dass uns all das bald schon gar nicht mehr möglich sein werde […].“ Genau dies habe ich in den nächsten Wochen oder auch Monaten im Unterschied zu Rühle vor, der sich entschuldigt: „[…] aber zum einen habe ich seit 20 Minuten keinen Youtube-Clip mehr angeschaut und Sie müssen ja sicher auch längst weiter.“ (Abgelenkt von der Ablenkung; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 170 v. 23. Juli 2008, S. 11.)

Nein, nein! Keineswegs! Ich bin nicht in Eile.