Ivn istn, eivn istn!

polgar

Jetzt muss ich mich um 180 Grad drehen, oder vom Äußersten ins Innerste wenden, indem ich vom Größten aufs Kleinste umsattle. Gerade mal zehn Tage bleiben mir noch zur Vorbereitung meiner CIII. Literarischen Soiree. Für solche Rezitationsabende eignen sich nach langjähriger Erfahrung Romane nur mäßig, schon gar nicht solche Wälzer wie Pynchons Gegen den Tag. Mit zweien habe ich ’s mal versucht, Nabokovs König Dame Bube und Die Besessenen von Gombrowicz in Fortsetzungen gelesen und dann beschlossen: Nie wieder! Es gelingt ja nicht, zwei bis drei Dutzend Zuhörer über einen Zeitraum von einem halben Jahr jeweils zum Monatsersten vollständig zu versammeln. Ein paar fehlen immer, die Konkurrenz des Fernsehprogramms ist übermächtig. Dann hat man als Veranstalter die leidige Pflicht, das Verpasste in Kurzfassung nachzutragen. Kurzum: Romane sollen die Leute gefälligst selbst lesen.

Geradezu ideal geeignet zum Vortrag auf einer solchen Literarischen Soiree ist die „Kleine Form“, wie sie Anfang des vorigen Jahrhunderts für den freien Raum unterm Strich in den Zeitungsfeuilletons ersonnen und von Männern wie Kurt Tucholsky, Franz Hessel, Victor Auburtin, Anton Kuh und – ja: auch Hans Siemsen kultiviert wurde. Der unbestritten größte Meister dieser „Kleinen Form“ heißt Alfred Polgar. Ihm werde ich am 1. August vor einem hoffentlich aufmerksamen und empfänglichen Publikum huldigen.

Der Wälzerschreiber aus dem näheren, oder, je nach Sichtweise, ferneren Umkreis der Genannten, Robert Musil, der mich mit seinem viel gerühmten und wenig gelesenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften schon wiederholt zu optimistischen Lektüreanläufen provoziert hat, von denen der weiteste Sprung bis zur Seite 429, bis zum 92. Kapitel gelang; jener Zeit raubende Musil also, der ein ganz gegensätzliches Ziel verfolgte, bemäkelte an der Kurzprosa allgemein, dass es ihr leicht falle, „bedeutend zu tun, so ungefähr auf einem schmalen Raum, der nicht zu viel Prüfung gestattet.“ (Robert Musil: Nachlaß, Mappe IV, 3 Sig, 15087 Series Nova, S. 20 f.; hier zit. nach Ulrich Weinzierl: Alfred Polgar. Eine Biographie. Wien · München: Löcker Verlag, 1985, S. 137.) Und speziell zum konkurrierenden „Meister der Kleinen Form“ stellt er in seinem Tagebuch folgende Frage: „Aber solche Skizzenbücher ermüden; siehe Polgar. Warum ermüden sie mehr als Romane?“ (Robert Musil: Tagebücher. Hrsg v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, S. 896.)

Ich kann mir nicht helfen, aber beim Lesen solcher ermüdeten und müden Mäkeleien drängt sich mir ein Verdacht auf: Da neidet der verkannte Fleißarbeiter Musil seinem Mitbewerber um den Königsthron der Prosaschriftstellerei, mit einem Geringen von Schreib- und Lesezeit einen mindestens gleich großen Effekt zu erzielen. Polgar als Schöpfer einer zukunftsweisenden literarischen Gattung benötigt hierzu nur einen Bruchteil von dem Papier, das der späte Romancier Musil für sein magnum opus durch die Druckmaschinen laufen lässt. Und dann kommt Musil nicht einmal zu Rande mit seinem maßlosen Großvorhaben. Der Mann ohne Eigenschaften blieb bekanntlich Fragment. Alfred Polgars tausend Werklein hingegen sind allesamt eines im doppelten Sinn: vollendet.

Um aber immerhin auch Musil nicht Unrecht zu tun, will ich zum Abschluss doch darauf hinweisen, dass von ihm eines der schönsten zeitgenössischen Essays über Polgar stammt, vorzüglich geeignet, wenngleich leicht gekürzt, zur Einleitung in meine geplante Soiree. Es heißt Interview mit Alfred Polgar und ist zuerst erschienen am 5. März 1926 in Die literarische Welt. Dieses Essay ist als Einstimmung auf den Meister selbst deshalb besonders tauglich, weil es den Bogen spannt von meiner letzten, der CII. Literarischen Soiree, indem es so beginnt: „Eines Tages sagte ich mir, das Interview ist die Kunstform unserer Zeit; denn das großkapitalistisch Schöne am Interview ist, daß der Interviewte die ganze geistige Arbeit hat und nichts dafür bekommt, während der Interviewer eigentlich nichts tut, aber dafür honoriert wird. – Außerdem ist es entzückend, daß man bei einem Interview einen Menschen in einer Weise ausfragen kann, die man sich selbst verbitten würde. […] Man muß ihn in Schrecken versetzen, einschüchtern; dann fragt man ihn im Namen der Kulturverpflichtung mit Erfolg um Dinge, die er niemals freiwillig preisgeben würde. – Das Schlimmste, was vorkommen mag, ist, daß er die Antwort verweigert.“ (Zit. nach Robert Musil: Gesammelte Werke II. Prosa und Stücke · Kleine Prosa, Aphorismen · Autobiographisches · Essays und Reden · Kritik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1978, S. 1154 f.)

3 Responses to “Ivn istn, eivn istn!”

  1. Günter Landsberger Says:

    Der Zufall war es wohl, der mich vor weniger als 20 Jahren auf ein Buch von Fritz Naschitz (“Literarische Essays / Bekenntnisse und Rezensionen”, Gerlingen 1989) stoßen ließ.

    Heute nun durch das Stichwort des Namens “Alfred Polgar” wieder daran erinnert, finde ich auf den mehr als 600 Naschitz-Seiten den “Meister-Feuilletonisten”, den “Marquis Prosa” Alfred Polgar tatsächlich an neun exponierten Essay-Stellen ausführlicher erwähnt. Drei wörtliche Zitate Polgars fallen bei Naschitz vor allem auf:

    1.)
    Der bei Naschitz gleich dreimal an verschiedenen Orten zitierte “Sinnspruch” Polgars “über das Emigranten-Schicksal” (a. a. O., S. 267):

    “Die Fremde ist nicht Heimat geworden – aber die Heimat: Fremde!”
    (S. 333)

    2.)
    “Alfred Polgar, dessen anschauliche Theaterkritiken die Wertbegriffe unserer Epoche bis auf den Grund erhellten, sah in Bassermann eine Gestalt, die “aus der Sphäre des Naturwahren in die gültigere, wahrere Kunst” zu entrücken versteht. “Jeder Augenblick”, fährt er fort, ” offenbart Persönlichkeit, jeder Zug im Bilde ist Charakterzug. Vollendete darstellerische Leistungen, von Geist geadelt, überlegen dem Theater, das – wie wunderlich – seinen totgeglaubten Zauber wieder übt.” (Fritz Naschitz, a. a. O., S. 353)

    3.)
    Alfred Polgar über Alexander Moissi:

    “Moissi bläst die muntre Flöte, die aus einer Trauerweide geschnitzt ist.” (S. 404)

  2. Matta Schimanski Says:

    “Ivn istn, eivn istn!”

    Was soll das denn heißen?

  3. Revierflaneur Says:

    Dieser Ausspruch stammt von Alfred Polgars Cousine, mit der er als kleiner Bub Theaterstücke aufgeführt hat:

    “Auf den Höhepunkten der Handlung (oder wenn ihr nichts mehr einfiel) sprach meine Cousine folgenden geheimnisvollen Satz: ,Ivn istn, eivn istn, kolin, molin, zin, zin, zin!’ Ich weiß bis heute nicht, was er bedeutet, und sie hat es vermutlich nie gewußt. Aber er schloß eine ungeheure Menge von Möglichkeiten in sich ein. Er klang wie Gottes Richterspruch, unverstehbar den Sterblichen; oder wie eine Extrakt-Formel für des Lebens und des Theaters Unvernunft; oder wie ein magischer Satz, der die Holzklötzchen [die plumpen Marionetten dieses kindlichen Theaterspiels] aus der Verzauberung zu beseelten Figuren wieder in die tote Unempfindsamkeit ihrer Holzklötzchenschaft entließ.”

    (Alfred Polgar. Ja und Nein. Darstellungen von Darstellungen. Hrsg. v. Wolfgang Drews. Hamburg: Rowohlt Verlag, 1956, S. 7.)

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