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Steckschuss

Tuesday, 01. July 2008

olden

Bei den Recherchen zu meiner „Eccentrics“-Serie stieß ich neulich in meinen Bücherkatakomben auf Ulrich Linses Barfüßige Propheten, eine materialreiche Monagraphie über „Erlöser der zwanziger Jahre“ (Berlin: Siedler Verlag, 1983). Als ich darin blätterte, fielen mir zwei mittlerweile auch schon wieder vergilbte Zeitungsblätter vom 24. Mai 1986 in die Hände. Damals hatte die taz unter der zeitgemäßen Headline Berliner Bhagwan 1932 einen langen Aufsatz über den messianischen Gründer der „Evangelisch-Johannischen Kirche“, einen gewissen Joseph Weißenberg, nachgedruckt.

Dessen Autor, der Rechtsanwalt und Schriftsteller Rudolf Olden, ertrank am 18. September 1940 mit seiner dritten Ehefrau, der Psychoanalytikerin Ika Halpern, im Atlantik. Nachdem ihm in der Nacht nach dem Reichstagsbrand, von Freunden gewarnt, noch mit knapper Not die Flucht zunächst nach Prag und später über Paris nach London gelungen war, schiffte er sich am Freitag, dem 13. September 1940 in Liverpool mit 400 weiteren Passagieren auf der „City of Benares“ ein, um einem Ruf als Dozent an die „School of Social Research“ in New York zu folgen. Fünf Tage später wurde die „City of Benares“ vom „erfolgreichsten deutschen U-Boot des 2. Weltkriegs“, dem legendären U-48 auf dessen achter Feindfahrt, durch einen G7e-Torpedo versenkt.

Im Jahr vor seiner Flucht ins Exil hatte Olden noch sein letztes Buch herausgeben können, Das Wunderbare und Die Verzauberten, eine Sammlung von kuriosen Berichten über die „Propheten in deutscher Krise“, über den Aberglauben und Fanatismus jener durch Inflation, Massenarbeitslosigkeit, politische Instabilität und Gewalt auf den Straßen geprägten Zeit, als Quacksalber, Heilsbringer und selbsternannte Messiasse infolge der Erlösungsbereitschaft ihrer perspektivlosen Mitmenschen ein leichtes Spiel hatten (Berlin: Rowohlt Verlag, 1932).

Dank der für Büchersammler und Freunde abwegiger Gedankengänge so überaus erfreulichen Erschließung des antiquarischen Buchmarktes war es ein Leichtes, in Besitz dieser reizvollen Sammlung über die „Nachtseiten des Lebens“ (Klappentext) zu kommen. In diesem Fall hatte ich sogar das Glück, ein Exemplar zu moderatem Preis zu ergattern, dessen Antlitz das tragische Schicksal seines Herausgebers auf geradezu magische Weise inkrustiert ist. In der Beschreibung des Antiquars heißt es wörtlich: „Ab S. 98 etwa 50 S. mit starker Beschäd[igung] in der Bindung, Kugeldurchschuß. Die Luftgewehrkugel liegt noch bei.“

Wer schießt mit einem Luftgewehr blindlings auf eine Bücherwand? Ein ärgerliches Versehen? Und warum dringt die Kugel ausgerechnet in dieses Buch ein, bohrt ein Loch in den Rücken genau an der Stelle, wo die Worthälfte „Wunder-“ zu lesen ist? Oder war dies eine gezielte Übeltat? Kriminologisch ganz korrekt hat sich der Antiquar ja übrigens nicht ausgedrückt: Es handelt sich hier nicht um einen Durch-, sondern um einen Steckschuss. Und was vielen als eine „starke Beschädigung“ und insofern wertmindernd erscheinen mag, empfinde ich als eine große Bereicherung. Die beiliegende Luftgewehrkugel ist die kleine Schwester von G7e. Wo man Bücher beschießt, da beschießt man am Ende auch Menschen.