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Verunnoseln

Saturday, 28. June 2008

„Wer suchet, der findet!“ Mit dieser Ermunterung suchte mein Vater mich, den Fünfjährigen, zu beschwichtigen, wenn ich wieder mal mein kleines Papierscherchen nicht finden konnte und jähzornig mit dem Fuß aufstampfte, den Tränen nahe. Die Erfahrung, dass sich handfeste Gegenstände unter der Hand in Luft auflösen können, gehörte zu den frühesten Erschütterungen meines eben erst erwachenden Selbstbewusstseins. Noch heute kann mich zur Weißglut bringen, wenn ich wieder einmal meine Brille oder mein Schlüsselbund nicht finde, die sich doch unzweifelhaft irgendwo versteckt haben müssen, denn ein anderes Sprichwort meines mit Redensarten reich versehenen Vaters lautete: „Das Haus verliert nichts!“ Aber es ersinnt scheinbar immer wieder neue Schlupfwinkel, in denen es das Gesuchte hartnäckig meinen Blicken entzieht.

Der gesunde Menschenverstand sagt mir natürlich, dass es keineswegs die toten und unbeseelten Dinge sind, die mir einen solchen Streich spielen. Auch sind die Wohnräume, die erst durch mich und meine Mitmenschen mit Leben, wahlweise mit Ordnung oder Chaos erfüllt werden, keine Trickdiebe und Zauberkünstler, die uns als böswillige Akteure des Verbergens an der Nase herumführen. Seit Sigmund Freud die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat, dass allen menschlichen Fehlleistungen eine tiefere Bedeutung zukommt und es somit auch keineswegs ein zufälliges Missgeschick ist, wenn sich plötzlich ein dringend benötigter Gegenstand hartnäckig unseren Blicken entzieht; seither wissen wir, dass hinter diesem schwer erklärlichen Verschwinden eine Absicht steckt, eine versteckte, freudianisch gesagt: unbewusste.

Die Sprache, unbestechlich wie immer, entlässt uns ohnehin nicht aus der Verantwortung. Ich bin es, der die Brille verlegt, das Schlüsselbund verbumfiedelt, die Schere verbaselt hat. Heute habe ich für das unfreiwillige und unbeabsichtigte Versteckspiel mit uns selbst ein neues Verb gelernt: verunnoseln. „Wissen Sie, was verunnoseln ist? Eine Sache verunnoseln, heißt eine Sache verlieren. Vielmehr, wie wir in der Schule sagten: ,Du hast meinen Federhalter verloren gemacht!‘ Verloren machen – das ist verunnoseln.“ (Hans Siemsen: Wannsee; in Otto Schoff: Das Wannseebad. Berlin: Verlag Galerie Alfred Flechtheim, 1921; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 108.) Der nahezu völlig verloren gegangene Flaneur Hans Siemsen beschwert sich in diesem Vorwort über den Kunsthändler und Verleger Flechtheim, dass dieser sein erstes Vorwort verlegt habe – und darum nun ein zweites benötige: „Er hat es so sorgfältig weggelegt, daß es nun kein Mensch mehr wiederfinden kann. Er hat es verunnoselt.“

Tempi passati! Heute bedürfen Autoren keiner Verleger mehr, um sich in solche Verlegenheit zu bringen. Sie verunnoseln ihre unveröffentlichten Manuskripte höchstpersönlich, indem sie als Blogger ihre eigenen Verleger sind. So widerfuhr es mir in den vergangenen drei Tagen mit meinen längst fertigen, so hübschen Würfelwürfen für den 25. bis 27. Juni. Spurlos verschwunden. Unauffindbar. Ich werde die zunächst in meiner ordentlichen Handschrift verfertigten Texte vermutlich in ein Buch gelegt haben. Ein besseres Versteck gibt es in diesem Haushalt nicht. Nun ist der vorzeitige Verlust von drei unter mancherlei Qualen geborenen Geisteskindern zwar höchst bedauerlich, aber einen guten, tieferen Grund wird es für diese Verunnoselung, wenn wir dem weisen Doktor aus der Wiener Berggasse 19 glauben dürfen, ganz gewiss gegeben haben.

Und sei es das Erlernen eines neuen Wortes, das nicht einmal Google bisher kannte.