Asta

asta

Die „Roaring Twenties“, dieses gewiss später zu sehr verklärte, in der Unklarheit seiner unaufgelösten Widersprüche aber ebenso gewiss explosiv-schöpferische, gärende und temporeiche, fragende und fragwürdige Jahrzehnt, verbrachte Hans Siemsen in Berlin, der Reichshauptstadt und deutschen Metropole der Boheme.

Helmut Kreuzer hat in seiner wegweisenden Monographie über den anarchischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft der Bedeutung des Café-Hauses, der Künstlerkneipe und des Kabaretts ein eigenes Kapitel gewidmet. (Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1968, S. 202-216.) Die Anziehungskraft solcher Lokalitäten erklärt er mit einem Polgar-Zitat aus dem ambivalenten Bedürfnis der Einzelgänger, „die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen“.

Siemsen verkehrte „in einem kleinen Lokal in der Passauer Straße“ in Berlin-Tempelhof, in dem sich der Verleger Ernst Rowohlt mit seinen Autoren traf: „Franz Hessel, Joachim Ringelnatz, Hans Siemsen, mitunter war auch Asta Nielsen dabei und hörte, den ausgestreckten Zeigefinger unter dem Kinn, wortlos und unnahbar den Gesprächen zu. Noch ihr Schweigen schien einen dänischen Akzent zu haben. Sie schminkte sich nie, wenn sie ausging, und kleidete sich möglichst unauffällig, beinahe schlampig, teils um nicht erkannt zu werden, teils aus dem bei Schauspielern nicht selten anzutreffenden Wunsch, sich gehenzulassen, wenn man nicht spielte.“ (Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil. München: Luchterhand Literaturverlag, 2008, S. 172.)

In ihrer Autobiographie Die schweigende Muse (1946) schreibt sie zwar über ihren Freund Joachim Ringelnatz; Hans Siemsen kommt darin nicht vor. Dabei hat Siemsen doch ein so bezauberndes Feuilleton über die Stummfilmdiva und zugleich über die ästhetische Sensation des frühen Films geschrieben: „Das Erstaunliche und Bewundernswerte,“ so heißt es da, war dank Asta Nielsens mimischem Genie „nicht mehr die technische Leistung des neuen Wunderapparates, den man ,Kinematograph‘ nannte, sondern ein menschliches Gesicht und die Suggestion, die von ein paar großen Augen und von ein paar schmalen, zuckenden Lippen ausging. Es stellte sich heraus, daß das einfache, alltägliche menschliche Antlitz wunderbarer, seltsamer und phantastischer sein konnte als der phantastische Apparat. Nicht mehr der Apparat, sondern der Mensch war die Hauptsache. Die Kunst hatte über die Technik gesiegt.“ (Hans Siemsen: Asta Nielsen. In: Film und Volk. Berlin. Heft 2, April 1928; hier zit. nach Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 161.)

Der Stummfilmstar, der am Tonfilm scheiterte, hat sich frühzeitig auf die Ostseeinsel Hiddensee in sein Haus Karusel zurückgezogen, wo Joachim Ringelnatz die Freundin gelegentlich besuchte. Renate Seydel, die dort eine kleine Buchhandlung betreibt, hat ein Buch über Asta Nielsen herausgegeben, das ich noch nicht kenne und in dem Hans Siemsen vermutlich nicht vorkommt. – Was ist das noch gleich für ein Vogel, dessen Gesang unsere menschliche Stimme zum Verstummen bringen möchte? Luscinia luscinia, so hat Linné 1758 den Sprosser genannt. Sein Ruf ist laut, mit einer breiten Varietät von Trillern, Schnalzlauten und Pfiffen.

3 Responses to “Asta”

  1. weltkind Says:

    lieber manuel, das habe ich jetzt sehr gerne gelesen. und es hat mich daran erinnert, dass ich unbedingt das sahl-buch kaufen muss, es steht schon lange auf meiner liste. mit der freundschaft zwischen ringelnatz und nielsen war das so eine sache. es war auch ein bisschen pr im spiel. enger befreundet war sie, was briefe und fotos belegen, mit heinrich george und vor allem dem preussenkoenig-darsteller otto gebuehr (ein essener junge, wie du sicher weisst). aber das nach 45 zugeben, das wollte frau nielsen wohl nicht. auch um ihr haeuschen karusel, das immer noch steht, sehr vergammelt aussieht und um das es eine groteske rangelei auf hiddensee gibt, ranken sich kuriose geschichten. und ringelnatz hat die runde durch alle kneipen auf der insel gemacht und dort schnaps aus champagnerglaesern getrunken – zur tarnung, heisst es, und dann hat er gemeinsam mit seiner ehefrau, die er “muschelkalk” nannte, astas garten verwuestet. und ich habe in dem bett geschlafen, in dem billy wilder … kommt demnaechst beim weltkind zur sprache.

    frau seydel hat dazu aktuelles material fuer eine ausstellung bereit gestellt, die derzeit auf hiddensee zu sehen ist. “heute: asta nielsen” heisst sie. die ausstellung ist schlampig kuratiert, aber dafuer kann frau seydel nichts. und auf hiddensee, lese ich gerade, sind am sonntag die pferde durchgegangen und haben eine schneise der verwuestung ins paradies geschlagen. ich hoffe, die koralle blieb verschont.

  2. Revierflaneur Says:

    “kommt demnaechst beim weltkind zur sprache” – Heißt das, wir dürfen hoffen? Sind die Pferde, die Dir durchgegangen sind, wieder eingefangen? Na, darauf würde ich, wenn’s so wäre, gern ein Champagnerglas leeren.

  3. weltkind Says:

    es ist ja noch nicht peter und paul …

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