Eccentrics (VI)

loch

Zum ersten Mal erfuhr ich von der Methode im Sommer 1975, als ich in Jochens Teestube Jaap begegnete, der gerade aus Amsterdam kam und nach Tanger wollte. Er erzählte mir von einem Holländer namens Bart Huges, der sich zehn Jahre zuvor ein Loch in den Schädel gebohrt habe, um sich „vom lästigen Druck des Erwachsenseins zu befreien“. – „Und?“, fragte ich. „Ist es ihm gelungen?“ – Jaap sah mir tief in die Augen und lächelte: „Dieser Mann ist der freieste und glücklichste Mensch, dem ich je begegnet bin.“

Anfänglich hielt ich Jaaps Story noch für eines jener Ammenmärchen, die später als moderne Großstadtlegenden in Anthologien wie Die Spinne in der Yucca-Palme versammelt wurden. Als hartnäckiger Skeptiker, der ich nun mal bin, glaube ich grundsätzlich nur, was ich schwarz auf weiß gedruckt in der Hand halte – und auch davon höchstens die Hälfte. Im November 1976 begegnete mir dann aber der erste schriftliche Beweis für die Existenz jenes Bart Huges. Auf dem Flohmarkt erstand ich das Buch Rauschgiftesser erzählen (Hrsg. v. Edward Reavis. Frankfurt am Main: Bärmeier & Nikel, 1967). Und darin entdeckte ich (S. 307-318) ein Interview, das Joe Mellen 1966 für The Transatlantic Review mit dem Selbsttrepanator geführt hatte, unter dem Titel: Das Loch zum Glück.

In aller Kürze meinte Bart Huges, Folgendes erkannt zu haben. Im Zuge der Evolution von Homo sapiens erectus, sozusagen als Schönheitsfehler des aufrechten Gangs, wird das menschliche Gehirn nach dem endgültigen Verschluss der Fontanellen mit zu wenig Blut versorgt. Um dieses Defizit auszugleichen und für ein größeres Gehirnblutvolumen zu sorgen, reicht ein pfenniggroßes Loch in der Schädeldecke, das gleichzeitig zu einer Verringerung der Rückenmarksflüssigkeit im Schädel sorgt. Das natürliche Gleichgewicht wird so wiederhergestellt. Das Ergebnis ist, so Huges, der Homo sapiens correctus. Die Verirrungen des vorgeblich erwachsenen, in Wahrheit aber behinderten Zweibeiners, wie Kriege, Zerstörung der Natur und alle Arten von Autoaggression, gehören endgültig der Vergangenheit an.

Bislang hat seine Methode, die übrigens zur Behandlung von Geisteskrankheiten als „Steinschneiden“ in früheren Jahrhunderten weit verbreitet war, begreiflicherweise nur sehr wenige Nachahmer gefunden. Wer bringt schon den Mut auf, sich eigenhändig einen Elektrobohrer an den Kopf zu setzen, auf die Gefahr hin, mit dem so eröffneten „Dritten Auge“ nicht die ersehnte Erleuchtung zu erfahren, sondern unversehens in ewige Finsternis abzutauchen? Chirurgen, die bereit wären, mit professionellen Mitteln diese ungewöhnliche Operation durchzuführen, scheint es auch nicht zu geben.

So sind wir von Bart Huges’ Vision, der 2004 glücklich gestorben ist, noch weit entfernt: „Ich plädiere für die Möglichkeit, daß jeder Erwachsene, der es wünscht, sich trepanieren lassen kann. […] Es gibt keinen einzigen Grund, warum auch nur ein einziger Erwachsener darauf verzichten sollte, wenn er von der lästigen Behinderung durch die Erdenschwere befreit werden will. […] Der Feind heißt: zu großer Ernst. Der Erwachsene ist sein Opfer – die Gesellschaft seine Krankheit. Mein Problem ist es jetzt, wie ich den Erwachsenen, die zu wenig Blut im Gehirn haben, um das zu verstehen, erkläre, daß sie zu wenig Blut im Gehirn haben, um zu verstehen. […] Ich glaube, daß keine Organisationsform der Erwachsenen optimal funktionieren kann, wenn nicht jeder Erwachsene innerhalb dieser Organisation trepaniert ist.“ (Reavis, a. a. O., S. 314.)

3 Responses to “Eccentrics (VI)”

  1. Matta Schimanski Says:

    Der Gedanke kam auch mir:
    Exzentrik, Rebellion, Auflehnung gegen die verlogenen, angepassten, im besten Falle nur bequem gewordenen Erwachsenen sind doch schon immer Vorrecht, zumindest Phänomen der Jugend gewesen.

    Wer exzentrisch geblieben ist, ist wohl nie erwachsen geworden, was nicht negativ gemeint ist, eher im Gegenteil.

    Im Übrigen leuchtet mir nicht so recht ein, wie durch ein Loch in der Schädeldecke die Hirndurchblutung stärker werden soll. Durch Druckabfall? Und wieso bedeutet das eine Verringerung der Rückenmarksflüssigkeit?

    Und auch sonst bin ich mir nicht so sicher, ob ich der Theorie Glauben schenken möchte. Dazu bin ich wohl nicht exzentrisch genug.

  2. Günter Landsberger Says:

    Auch Hyperion befand sich, wie es bei Hölderlin heißt, auf einer “exzentrischen Bahn”.

  3. Revierflaneur» Blogarchiv » Sonntag, 28. Dezember 2008: Narratorium Says:

    […] Mitnichten! Weder Siemsen noch Baggesen, weder der liquidierte Dodo noch der selbsttrepanierte Bart Huges, weder der Essener Pferde- noch der ebendort zwitschernde Leierkastenmann, von Franz Gsellmann, […]

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