Eccentrics (IV)

vorprogramm

Na klar doch, auch Alfred Polgar der Große hat ein kleines Prosastück über die Eccentrics geschrieben. (Er schreibt sie, eingedeutscht, „Exzentriks“.) Da steckt mal wieder mehr drin, als hineinpasst. Polgars Miniaturen platzen ja, so gertenschlank sie auch sein mögen, immer aus allen Nähten.

Ganz allgemein sagt Polgar über die aus der Mitte an den Rand Geschleuderten und über unser Verhältnis zu ihnen viel in wenigen Worten, also das Wesentliche: „Exzentriks sind leibhaftige Pamphlete wider Würde, Ernst, Haltung. Dafür dankt ihnen unser Herz, befriedigt wie ein Subalterner, der des Gebots, das ihn sein Lebenlang drückt und beugt, ein Weilchen spotten darf. Exzentriks erlösen vom Übel der Schwerkraft. Sie verhelfen zu einer Vision vom Spielzeughaften der Welt … und so zu Kindheits-Glück. Unter ihren Griffen wackelt die Kausalität wie Baggesens Tellerbau; wenn sie einstürzt, ist das Musik unserem Hirn.“ (Alfred Polgar: Exzentriks. Zuerst erschienen im Berliner Tageblatt, Abendausgabe v. 22. Dezember 1927, S. 2; hier zit. nach Musterung. Kleine Schriften, Band 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 364 f.)

Sehr speziell nennt und erklärt Polgar ein paar Beispiele, von denen Baggesens Tellerbau vielleicht das eindringlichste ist. Baggesen? Der Name kommt mir doch bekannt vor? Ach ja, richtig: Ich habe doch neulich erst bei Hans Siemsen von diesem „Dichter im Porzellanladen“ gelesen. Siemsen beschreibt einen Auftritt des komischen Jongleurs im Berliner „Wintergarten“, während Polgar ihn in Wien gesehen haben dürfte. Die Details sind die gleichen. Vermutlich war „der alte Baggesen“, wie Siemsen ihn nennt, 1927 auf Europatournee. (Vgl. Hans Siemsen: Baggesen im Wintergarten. Zuerst erschienen im 8-Uhr-Abendblatt, Berlin, v. 19. Februar 1927; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Hrsg. v. Dieter Sudhoff. Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 36.)

Offenbar war Baggesen vor achtzig Jahren ein Publikumsmagnet. Er füllte große Säle und war in aller Munde. Umso erstaunlicher ist, dass man ihn bei Wikipedia nicht findet. Und selbst bei Google musste ich mich bis zur zehnten Seite durchklicken, bis ich endlich einen Hinweis auf ihn fand. Am 30. Juni 1893 berichtete die New York Times in einem kurzen Artikel über einen Auftritt Baggesens im „Madison Square Garden“: Wonderful Contortionist Baggesen. – Carl Baggesen, the contortionist who performs nightly in the roof entertainment at Madison Square Garden, gave a special performance yesterday afternoon for a number of doctors and newspaper men, in the concert hall of the Garden. Baggesen twisted and turned himself into all sorts of positions, turning so far around as to make it appear that his spinal column was in line with the position ordinarily occupied by the breast bone.“

So gelenkig war Baggesen dreißig Jahre später vermutlich nicht mehr, dass er als Schlangenmensch sein Publikum bezaubern konnte. Aber sein Spiel mit dem Tellerstapel und mit einem klebrigen Fliegenpapier muss immerhin noch komisch und atemberaubend genug gewesen sein, um selbst anspruchsvolle Zuschauer wie Siemsen und Polgar in seinen Bann zu ziehen. Jetzt wissen wir immerhin, dass Baggesen mit Vornamen Carl hieß. Und nun entdecke ich, dass auch Kurt Tucholsky diesem Varieté-Künstler einmal großes Lob spendete, als er meinte, dass in „den Tellerkunststücken eines großen Jongleurs mehr Geist und Esprit stecken [könne] als in den furchtbaren und geschmacklosen Radauliedern unserer Humoristen.“ (Peter Panter: Varieté und Kritik. Zuerst erschienen in Die Weltbühne Nr. 30 v. 27. Juli 1922, S. 88; hier zit. nach Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1975, 236.) – Exzentriker sind, so scheint es, für den Augenblick und nicht für die Unsterblichkeit gemacht.

8 Responses to “Eccentrics (IV)”

  1. Matta Schimanski Says:

    Ich habe mal eine Liste von (angeblichen?) Eigenschaften eines Exzentrikers nach David Weeks (“Vom Vergnügen, anders zu sein”) aus Wikipedia herauskopiert:

    * unangepasst
    * kreativ
    * stark durch Neugier motiviert
    * idealistisch: mit dem Anspruch, die Welt zu verbessern und die Menschen in ihr glücklicher zu machen
    * betreibt beglückt ein oder mehrere Steckenpferde
    * ist sich von klein auf des Andersseins bewusst
    * intelligent
    * eigensinnig und freimütig; überzeugt, selbst richtig zu liegen und dass der Rest der Welt aus dem Tritt geraten ist
    * ohne Konkurrenzstreben, ohne Verlangen nach Anerkennung oder Bestätigung durch die Gesellschaft
    * ungewöhnliche Essgewohnheiten und Lebensführung
    * nicht sonderlich interessiert an den Ansichten oder der Gesellschaft anderer, ausgenommen zu dem Zweck, diese vom eigenen – richtigen – Standpunkt zu überzeugen
    * ausgestattet mit einem schelmischen Sinn für Humor
    * alleinstehend
    * gewöhnlich das älteste oder einzige Kind.

    Nun prüfe sich ein jeder selbst, ob er wohl eher in die Reihe der Exzentriker oder in die der Angepassten gehört…

  2. Revierflaneur Says:

    Na, außer den Punkten 9 und 13 treffen ja alle auf mich zu.

  3. Günter Landsberger Says:

    “Die geheimnisvolle Sammlung von Kochtöpfen des Zauberkünstlers offenbart etwas, was wir in der Küche beim Betrachten der Hausratsgegenstände gedacht haben und zwar, daß es im Wesen aller Töpfe einen Hang zum Spaß, zu irgendeiner Schelmerei, einem Schwindel gibt.” (Ramón Gómez de la Serna: “Der Cirkus”, Hamburg 2000, S. 89)

  4. Günter Landsberger Says:

    Das Buch “Der Cirkus” von Ramón Gómez de la Serna erschien 1917 in der spanischen Originalausgabe.

  5. Hermann Sagemüller Says:

    Ich könnte Ihnen Daten zu Baggesen senden, wenn ich Ihre e-mail-Adresse wüßte.

    Freundliche Grüße,
    Hermann Sagemüller

  6. Revierflaneur » Blog Archiv » Freitag, 22. August 2008: Baggesen I Says:

    […] Baggesen war ich durch zwei Feuilletons von Alfred Polgar und Hans Siemsen aus dem Jahr 1927 aufmerksam geworden. Das Internet gibt zu ihm so gut wie nichts her, aber wenn man die Fachleute fragt, […]

  7. Steen Baggesen Says:

    I read German, but don’t write in this language anymore so I apologize for writing in English. My grandfather Frederik Emil Baggesen had a brother, Jens Einar Baggesen, who was raised by Carl Baggesen at Thurø. I know nearly nothing about this part of my family so I will be very greatful for information about these persons.

  8. Revierflaneur Says:

    I’m very sorry to say that I do not know much more about Carl Baggesen than what I’ve so far posted in my blog. But I’m still trying to find out more, and if I come across any new information, I’ll be happy to tell you about it.

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