Archive for June 20th, 2008

Eccentrics (IV)

Friday, 20. June 2008

vorprogramm

Na klar doch, auch Alfred Polgar der Große hat ein kleines Prosastück über die Eccentrics geschrieben. (Er schreibt sie, eingedeutscht, „Exzentriks“.) Da steckt mal wieder mehr drin, als hineinpasst. Polgars Miniaturen platzen ja, so gertenschlank sie auch sein mögen, immer aus allen Nähten.

Ganz allgemein sagt Polgar über die aus der Mitte an den Rand Geschleuderten und über unser Verhältnis zu ihnen viel in wenigen Worten, also das Wesentliche: „Exzentriks sind leibhaftige Pamphlete wider Würde, Ernst, Haltung. Dafür dankt ihnen unser Herz, befriedigt wie ein Subalterner, der des Gebots, das ihn sein Lebenlang drückt und beugt, ein Weilchen spotten darf. Exzentriks erlösen vom Übel der Schwerkraft. Sie verhelfen zu einer Vision vom Spielzeughaften der Welt … und so zu Kindheits-Glück. Unter ihren Griffen wackelt die Kausalität wie Baggesens Tellerbau; wenn sie einstürzt, ist das Musik unserem Hirn.“ (Alfred Polgar: Exzentriks. Zuerst erschienen im Berliner Tageblatt, Abendausgabe v. 22. Dezember 1927, S. 2; hier zit. nach Musterung. Kleine Schriften, Band 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 364 f.)

Sehr speziell nennt und erklärt Polgar ein paar Beispiele, von denen Baggesens Tellerbau vielleicht das eindringlichste ist. Baggesen? Der Name kommt mir doch bekannt vor? Ach ja, richtig: Ich habe doch neulich erst bei Hans Siemsen von diesem „Dichter im Porzellanladen“ gelesen. Siemsen beschreibt einen Auftritt des komischen Jongleurs im Berliner „Wintergarten“, während Polgar ihn in Wien gesehen haben dürfte. Die Details sind die gleichen. Vermutlich war „der alte Baggesen“, wie Siemsen ihn nennt, 1927 auf Europatournee. (Vgl. Hans Siemsen: Baggesen im Wintergarten. Zuerst erschienen im 8-Uhr-Abendblatt, Berlin, v. 19. Februar 1927; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Hrsg. v. Dieter Sudhoff. Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 36.)

Offenbar war Baggesen vor achtzig Jahren ein Publikumsmagnet. Er füllte große Säle und war in aller Munde. Umso erstaunlicher ist, dass man ihn bei Wikipedia nicht findet. Und selbst bei Google musste ich mich bis zur zehnten Seite durchklicken, bis ich endlich einen Hinweis auf ihn fand. Am 30. Juni 1893 berichtete die New York Times in einem kurzen Artikel über einen Auftritt Baggesens im „Madison Square Garden“: Wonderful Contortionist Baggesen. – Carl Baggesen, the contortionist who performs nightly in the roof entertainment at Madison Square Garden, gave a special performance yesterday afternoon for a number of doctors and newspaper men, in the concert hall of the Garden. Baggesen twisted and turned himself into all sorts of positions, turning so far around as to make it appear that his spinal column was in line with the position ordinarily occupied by the breast bone.“

So gelenkig war Baggesen dreißig Jahre später vermutlich nicht mehr, dass er als Schlangenmensch sein Publikum bezaubern konnte. Aber sein Spiel mit dem Tellerstapel und mit einem klebrigen Fliegenpapier muss immerhin noch komisch und atemberaubend genug gewesen sein, um selbst anspruchsvolle Zuschauer wie Siemsen und Polgar in seinen Bann zu ziehen. Jetzt wissen wir immerhin, dass Baggesen mit Vornamen Carl hieß. Und nun entdecke ich, dass auch Kurt Tucholsky diesem Varieté-Künstler einmal großes Lob spendete, als er meinte, dass in „den Tellerkunststücken eines großen Jongleurs mehr Geist und Esprit stecken [könne] als in den furchtbaren und geschmacklosen Radauliedern unserer Humoristen.“ (Peter Panter: Varieté und Kritik. Zuerst erschienen in Die Weltbühne Nr. 30 v. 27. Juli 1922, S. 88; hier zit. nach Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1975, 236.) – Exzentriker sind, so scheint es, für den Augenblick und nicht für die Unsterblichkeit gemacht.

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Friday, 20. June 2008

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