Archive for June 14th, 2008

Kostbar

Saturday, 14. June 2008

funkuhr.JPG

 

Weil unwiederbringlich, jede Sekunde. Davon hat die Minute 60, die Stunde 3.600 und der Tag exakt 86.400. Das stimmt aber nicht ganz, vielmehr ebenso wenig, wie dass das Jahr 365 Tage hat, denn hin und wieder wird, heimlich, still und leise, eine Schaltsekunde eingefügt.

Bei den Schalttagen sind wir da ja noch im Bilde, einen 29. Februar gibt es in allen durch vier teilbaren Jahren, allerdings nicht in den durch 100 teilbaren, aber in den durch 400 teilbaren dann doch wieder. (Darum gab es einen 29. Februar 2000, einen 29. Februar 1900 hingegen nicht.)

Aber die Schaltsekunden folgen leider keiner so gut einprägsamen Regel. 1972 gab es gleich zwei von ihnen, die erste tickte zwischen 23:59:59 Uhr am 30. Juni und 00:00:00 Uhr am 1. Juli; und die zweite quetschte sich zwischen den 31. Dezember 1972, 23:59:59 Uhr, und 00:00:00 Uhr am 1. Januar 1973. In den folgenden sieben Jahren gab es Schaltsekunden jeweils zum Jahreswechsel, 1980 gar keine, dann drei Schaltsekunden in der Jahresmitte usw. Offenbar gehorcht diese Sekundenschalterei keinem einfachen Gesetz. Seit 1999 wurden wir nur mit einer einzigen Schaltsekunde beglückt, nämlich zwischen 1998 und 1999, als die Korken knallten und sich kein Mensch für sie interessierte.

Unterm Datum vom 30. März 1991, das Wetter in Nartum war „schön“, notierte Kempowski in seinem Tagebuch: „Habe heute, Mitternacht, darauf gewartet, daß unsere Funkuhr sich umstellt, tut sie nicht. Die haben eine Zeit herausgesucht, in der man garantiert schläft. Man soll das nicht mitkriegen, daß sie einen eigenen Willen hat.“ (Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991. München: Albrecht Knaus, 2008, S. 123.) Die Umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit erfolgte eben erst am 31. März um 2:00 Uhr. Wer zusehen will, wie die Zeiger unterm Diktat aus Braunschweig tanzen, muss halt zwei Stunden länger wach bleiben.

Zuletzt hätte man in der Sylvesternacht von 2005 auf 2006 die Chance gehabt, punkt Mitternacht ein einsekündiges Stocken der Funkuhr zu betrachten. Oder kreisten auch da alle drei Zeiger nach einem unerfindlichen Plan? Ich weiß es nicht, ich habe den kostbaren Augenblick verpasst. Seit dem 1. Januar 1970 tickt uns allen ja die Unixzeit. Am vergangenen Mittwoch zeigte diese Uhr die kuriose Zahl von 1.213.141.516 Sekunden an. Darin sind die 23 seither zwischengeschobenen Schaltsekunden natürlich enthalten. – Carpe diem!

Wesley

Saturday, 14. June 2008

sneijder

Ich bekenne: Ich habe mir gestern schon wieder ein Fußballspiel angeschaut. Vielleicht musste das sein, weil die vertane Zeit, die ich beim verkrampften Gekicke der deutschen Nationalmannschaft gegen Kroatien zugebracht hatte, nach Kompensation gierte. Ich hatte noch in blasser Erinnerung, dass dieses Spiel doch durchaus auch ästhetische Reize entfalten und jene triumphale Leichtigkeit zur Schau stellen kann, die dem staunenden Betrachter bei allem verbissenen Kampf momentweise das nahezu schwerelose Bewegungsmuster eines Balletttanzes bietet.

Das Glück wollte es, dass ich bei meiner zufälligen Wahl an das zweite Vorrundenmatch in der Gruppe C zwischen Frankreich und den Niederlanden geriet. Mal abgesehen davon, dass ich Zeuge wurde, wie wohl erstmals in der Geschichte des Fußballs der amtierende Weltmeister (Italien) und der Vizeweltmeister (Frankreich) von ein und derselben, vor dem Turnier nicht eben zum allerengsten Kreis der Favoriten gezählten Mannschaft nicht bloß besiegt, sondern geradezu deklassiert wurden – dieses Spiel war ein Meisterstück.

Dass es dazu werden konnte, verdankt es allerdings nur zur Hälfte seinem Sieger. Der verbissene, kollektive Widerstand der Équipe Tricolore, die über weite Strecken das Spiel beherrschte, in einem Trommelfeuer blindwütiger Attacken die Nederlands Elftal unter argen Druck setzte und den routinierten holländischen Keeper Edwin van der Sar mehrfach zu grandiosen Glanzparaden herausforderte, trug zu diesem Kunstwerk ebenso bei wie das bis zuletzt nicht nachlassende, trotzige Aufbäumen der französischen Individualisten, allen voran Franck Ribéry und Thierry Henry.

Meine große Entdeckung des Abends war allerdings der Niederländer mit der Rückennummer 10, der 24-jährige Wesley Sneijder. Nachdem er schon durch seine kluge Vorgabe auf Robben dessen sensationelles Tor zum 3 : 1 in der 72. Minute vorbereitet hatte, nur eine Minute nach dem französischen Anschlusstreffer von Henry, gelang ihm noch kurz vor Schluss einer seiner grandiosen Distanzschüsse zum 4 : 1-Endstand. Daran sieht man, was für ein blutiger Laie ich in Sachen Fußball bin und auch bleiben werde, denn schließlich wechselte dieser schmächtige Sneijder bereits vor einem Jahr zur höchsten jemals von Ajax Amsterdam kassierten Ablösesumme in die Primera Division von Real Madrid: 27 Millionen Euro war den Spaniern dieser Transfer wert.

Ich kann nicht versprechen, dass ich mir nicht doch noch ein drittes Spiel anschaue, und sei es zum Abgewöhnen. Dazu bietet sich Deutschland gegen Österreich am kommenden Montag ja geradezu an.

Kazett

Saturday, 14. June 2008

siemsen-ja-und-nein

Ich lese gerade im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem nahezu verschollenen deutschen Schriftsteller Hans Siemsen dessen Buch Russland ja und nein (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931). Im Herbst 1930 hatte Siemsen im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine sechswöchige Reportagereise in Stalins Reich unternommen. Obwohl das Buch, der Titel deutet es ja schon an, alles andere als ein Lobgesang auf den Kommunismus sowjetischer Prägung ist, hatte er damit sein Bleiberecht im bald aufziehenden Dritten Reich endgültig verwirkt. Dass die Nazis es erst am 31. Dezember 1938 auf ihre „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ setzten, kann man vielleicht am ehesten mit ihrer Unbildung und Ignoranz erklären. Schon bei den Bücherverbrennungen im Frühjahr 1933 waren ihnen beim Zusammenstellen ihrer Listen ja etliche kuriose Fehler unterlaufen.

Im kurzen Vorwort zu seinem Russland-Buch schreibt der Autor: „Von den Sowjet-Russen können wir viel lernen, von ihren Fehlern und den Fehlern, die sie machen und gemacht haben, ebensogut wie von ihren Vorzügen und Leistungen. […] Ich habe in Rußland viel gelernt. Im Guten wie im Bösen. Vielleicht nützt es ein paar Menschen, wenn ich davon erzähle.“ (A. a. O., S. 5.)

Hier klingt unter der Tarnkappe vornehmer Bescheidenheit bereits jener resignative Ton an, der in den wenigen erhaltenen Briefen Siemsens aus den Jahren des Exils schließlich dominieren wird. Es ist doch alle Hoffnung vergeblich, die große Utopie ist gescheitert – dies ist, zwischen den Zeilen, die verzweifelte Botschaft von Siemsens Reisebericht.

Ob es vor nun 77 Jahren ein paar Menschen „genützt“ hat, dieses Buch zu lesen, ist mehr als fraglich. Heute aber ist die Lektüre, was mich betrifft, durchaus Gewinn bringend, in vielen kleinen Details bedenkenswert und erhellend. So wenn Siemsen über das Schicksal der verwahrlosten, verwaisten, vagabundierenden Kinder in Russland schreibt: „Zur selben Zeit aber wurden im selben Rußland stehlende Kinder einfach niedergeschossen, aus den Zügen, mit denen sie als blinde Passagiere fuhren, herab und unter die Räder geworfen, eingefangen, laufen gelassen und wieder eingefangen, von Razzien zusammengetrieben in Gefängnissen und Konzentrationslagern kaserniert und, wenn keine Lebensmittel, wenn selbst trockenes Brot einfach nicht mehr da war, wieder entlassen, wieder auf die Straße geschickt.“ (Ebd., S. 37.)

Da springt es mich also an, dieses Wort „Konzentrationslager“, das sich wenig später zum Kainsmal eines faschistischen Regimes mausern sollte, welches das Verbrechen des Jahrhunderts längst schon plante. Anfangs kürzten die neuen Herren im Land der Dichter und Denker das Schreckenswort noch, was ja auch nahe liegend ist, mit „KL“ ab. Angeblich waren es dann die SS-Wachmannschaften in den Menschenvernichtungsfabriken, die später der Abkürzung „KZ“ wegen ihres härteren Klanges den Vorzug gaben. In einem Buch aus dem Jahr 1931 steht das Wort da noch in aller Unschuld. Und der Stalinismus fand bald ein eigenes, viel weicher klingendes für die gleiche schmutzige Angelegenheit: Gulag.