Snob im Slum

huftschwung

Nachdem der wohlhabende Erfolgsschriftsteller Stefan Zweig, Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten, 1934 seine schlossähnliche Villa auf dem Kapuzinerberg oberhalb Salzburgs geräumt hat und nach London emigriert ist, leidet er für die verbleibenden acht Jahre seines aus freien Stücken beendeten Lebens zunehmend unter dem Verlust seiner Heimat, den er sich – anders als sein Schriftstellerkollege und Landsmann Joseph Roth, mit dem er eifrig korrespondiert – zunächst noch als einen bald vorübergehenden einzureden versucht.

Der Kosmopolit lenkt sich wie gewohnt mit Reisen ab. Anfang 1935 besucht er New York und hält seine Eindrücke in einem Tagebuch fest. Am 20. Januar besucht Zweig mittags den Bankier Felix Warburg und besichtigt in dessen „auf gotisch und Kathedrale“ gemachtem Haus Warburgs großartige Rembrandt-Sammlung. Da ja aber bekanntlich New York eine Stadt der Kontraste ist und man nicht immer unter sich bleiben sollte, wenn man ihr Eigentliches so recht genießen will, begibt sich der Weltschriftsteller Zweig zum Tagesausklang nach Harlem, um im „Negertanzlokal“ Savoy Ballroom Rassenstudien zu betreiben.

„Phantastisch, wie sie tanzen,“ so schwärmt er nachher im Hotel, „schlenkernd, mit allen Gelenken, weich die Frau wie Leoparden, von einer Biegsamkeit der Hüften, die man bei uns kaum kennt, und wie straff dagegen die Männer: hier, wo sie noch nicht vercultiviert ist, arbeitet die Natur das Polare des Sexuellen viel deutlicher heraus. Das amüsanteste aber die Toiletten, abgelegte Salonfahnen und Hüte von sechs Jahren oder acht, die hier die Treppenfegerinnen und Kindermädchen mit unglaublichen [!] Stolz tragen. Sie passen zum Schreien schlecht zu diesen primitiven ebenholzfarbenen Körpern.“ (Stefan Zweig: Tagebücher. Hrsg. v. Knut Beck. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1984, S. 370.)

Zum Schreien schlecht passt allerdings auch zu einem aufgeklärten Mitteleuropäer der generalisierende Singular „die Frau“, wo doch im animalischen Vergleich des weichen Hüftschwungs der Leopard in der Mehrzahl auf dem Fuße folgt. Gerade 18 Monate war es her, dass Stefan Zweig beim Berliner Antiquariat Hellmut Meyer & Ernst ein 13-seitiges Redemanuskript jenes Mannes erstanden hatte, der die rhetorische Verallgemeinerung („der Jude“) zur Vernichtungswaffe machen sollte. Das Autograf war bis zum 12. Mai im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen, in der Ausstellung „Die drei Leben des Stefan Zweig“.

Knut Beck, der Herausgeber der Zweig-Tagebücher, muss dies ähnlich empfunden haben, denn er hat hinter „Frau“ im gedruckten Text ein politisch korrektes „[en]“ eingefügt. Aber man kann aus falsch verstandener Liebe zum Gegenstand seiner Forschung und übertriebener political correctness auch in Versuchung geraten, unbequeme Tatsachen zurechtzubiegen. Das Manuskript der Rede, das Zweig seiner Devotionaliensammlung für stolze tausend Reichsmark einverleibte und die Hitler angeblich 1928 im Berliner Lustgarten gehalten haben soll, muss übrigens eine Fälschung gewesen sein. In diesem Jahr sprach der nachmalige „Führer“ nur zweimal in Berlin: am 13. Juli im Saalbau „Friedrichshain“ und am 16. November im Sportpalast.

6 Responses to “Snob im Slum”

  1. Günter Landsberger Says:

    Hat Stefan Zweig denn diese Tagebücher in der Erwartung einer späteren Veröffentlichung geschrieben? Es ist ja bekannt, dass er an seinen veröffentlichten Texten recht lange gefeilt hat, ehe er sie an die Öffentlichkeit ließ.

  2. Revierflaneur Says:

    Hätte Zweig seine Tagebücher, wie z. B. Thomas Mann, in der Erwartung einer späteren Veröffentlichung geschrieben, wären sie für mich nur noch halb so interessant. An Tagebüchern oder gar Briefen nachträglich zu “feilen” nimmt ihnen doch gerade das, was ihr Wesentliches ausmacht: die Wahrhaftigkeit des Augenblicks.

  3. Günter Landsberger Says:

    Das finde ich auch. – Aber wie kritisch darf man dann mit solchen Texten als Kritiker umgehen?

  4. Matta Schimanski Says:

    Das Photo zeigt J. B.?

  5. Revierflaneur Says:

    @ Günter Landsberger: Man darf sie für bare Münze nehmen, oder? Des Autors reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr ihm Gott helfe.

    @ Matta Schimanski: Da sage ich jetzt mal nichts zu. (Erklärung folgt später.)

  6. Günter Landsberger Says:

    Es wäre wünschenswert, dass es keinen Qualitätsunterschied zwischen dem privaten und dem veröffentlichten Schreiber gäbe. Ein guter Schriftsteller ist für seine Sprache immer verantwortlich, also immer im Dienst.

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