Archive for June 8th, 2008

Last Decision

Sunday, 08. June 2008

kid

Wenn uns von der Natur schon die Entscheidung nicht überlassen wird, ob wir den Nachteil, geboren zu sein, für die irdischen Freuden gleich welcher Art in Kauf nehmen wollen, dann sollte uns das Heer der zum Tode Mitverurteilten doch wenigstens anheim stellen, ob wir uns von der gleichen Natur, die schon einmal unser Schicksal bestimmte, auch ein zweites Mal vergewaltigen lassen wollen – oder ob wir die Selbstbestimmungsrechte, die uns mit diesem unbestimmt befristeten Dasein an die Hand gegeben wurden, dazu nutzen wollen, Hand an uns zu legen und aus dem unbestimmten Datum unseres Abschieds ein bestimmtes, aus freiem Entschluss gewähltes zu machen.

Als immer gegenwärtige Möglichkeit jedes selbstbewussten Individuums unserer kurzfristig so erfolgreichen Spezies eröffnet der Freitod die vielleicht radikalste Perspektive auf das Ideal der Freiheit. Diesen Akt „Selbstmord“ zu nennen und gar als ein Verbrechen unter Strafe zu stellen, enteignet die Person noch ihres allerletzten, unveräußerlichsten, nacktesten Besitzstandes: seines Leibes; indem nämlich die Gemeinschaft dem Einzelnen damit das letztwillige Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper aberkennt – zu dem ja aber doch auch jenes Gehirn, in dem der Entschluss zum gewaltsamen und vorzeitigen Weggang reifte, untrennbar gehört.

Dieses Selbsttötungsverbot mag in früheren Epochen der Menschwerdung im Sinne des Kollektivs begründet gewesen sein, als die Gesamtpopulation von Homo sapiens noch um jedes einzelne Individuum verlegen war. Und selbst mit Blick auf die Zeit der ersten Hochkulturen an Nil, Euphrat und Tigris mag man verstehen, dass die Sklavenhalter ihrem Humankapital mittels schmerzhafter Körperstrafen drohen mussten, um es davor zurückschrecken zu lassen, sich auf kurzem und vergleichsweise schmerzlosem Wege der Arbeitspflicht zu entziehen. Da dies vermutlich nicht immer fruchtete, erfanden die Weltreligionen, allen voran das Christentum, jenseitige Sanktionen hinzu, um ihre Schäflein diesseits im Joch zu halten.

Ein paar tausend Jahre später ist das archaische Relikt des Selbsttötungsverbots – die fortdauernde religiöse und kulturelle Ächtung eines frei gewählten, schmerzlosen Rückzugs aus dem Leben – bloß noch absurd. Angesichts von mehr als 6.000.000.000 Menschen, deren Durst und Hunger, Bewegungsdrang und Unterhaltungsbedürfnis unbegrenzt sind und so die Ressourcen dieses begrenzten Planeten, ob erneuerbar oder nicht, in absehbarer Zeit definitiv verschlingen und vernichten müssen; angesichts dieser Zuspitzung eines unauflöslichen Widerspruches ist jeder frei gewählte, vorzeitige Tod eines Menschen objektiv eine Entlastung, ein kleiner Beitrag zum Naturschutz.

Die Exponentialkurve der „Bevölkerungsexplosion“ wurde durch die epidemischen, natur- oder kriegsbedingten Katastrophen in den letzten tausend Jahren nur schwach gebremst: kleine Knicke, keine Umkehr. Die Tendenz zur Selbstauslöschung unserer raren Spezies wurde durch Pest und Cholera, Erdbeben und Vulkanausbrüche, zwei Weltkriege, Auschwitz und Hiroshima kaum gemildert. (Carl Djerassi mit seiner Antibabypille und die Ein-Kind-Politik der Chinesen leisteten einen mindestens so großen Beitrag zum Ziel: eine durch den Menschen völlig aus der Balance gebrachte Biosphäre neu zu justieren.) Vielleicht ist die letzte Chance, einen auf längere Sicht auch vom Menschen bewohnbaren und von ihm kultivierten Planeten im Sonnensystem zu erhalten, wenn der Freitod künftig nicht mehr als ein Verbrechen und als eine Sünde, sondern als letzte Erfüllung eines frei bestimmten Menschenlebens erkannt wird.