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Untiefen

Tuesday, 03. June 2008

boot

In einer Folge der amerikanischen TV-Serie Lost serviert John Locke dem eingekerkerten Benjamin „Ben“ Linus alias Henry Gale auf einem Plastiktablett eine spärliche Eierspeise und daneben ein Buch, das er zuvor aus dem Regal gezogen hat. „From my own bookshop“, wie Locke zynisch anmerkt, als Ben das Cover betrachtet. Es handelt sich hierbei um eine Paperbackausgabe des ersten Bandes der Valis-Trilogie des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick, der in diesem Jahr am 16. Dezember 80 Jahre alt geworden wäre.

So ist ein vermeintlicher Trivialautor, ein Fließbandproduzent literarischer Massenware, mittlerweile also in den Untiefen der Zweit- und Drittverwertung eingetroffen, als Zitat, als bedeutungsschwangere Sprechblase auf einem billigen Frühstückstablett, wo er nun das traurige Dasein eines an den Haaren herbeigezogenen Sinngebers spielen darf. Neben zwei gerührten Eiern.

Viele kennen die Filme Blade Runner (1982), Total Recall (1990), Die Truman Show (1998), The Matrix (1999), Minority Report (2002) und A Scanner Darkly – Der dunkle Schirm (2006). Aber noch viel zu wenige wissen, dass all diese Kinoerfolge auf dem schier unerschöpflichen Ideenreichtum eines einzigen Mannes beruhen, des ebenso genialen wie traurigen Philip K. Dick. Jemand, der in die Zukunft blickt, kann ja auch nichts anderes als traurig sein. Diesen Blick halten nur wenige aus, und insofern ist der gelegentliche, scheinbar maßlose Vergleich von Dick mit Kafka gar nicht so abwegig.

Ob nun Philip K. Dicks Romane, die der Heyne Taschenbuchverlag in einer 15-bändigen Edition zu moderaten Preisen neuerdings herausgebracht hat, oder ob seine 118 SF-Erzählungen, die der Haffmans Verlag in Zürich 1993-2001 zuerst in deutscher Übersetzung veröffentlichte, den eigentlichen Kern dieses Dick’schen Riesenwerks ausmachen – darüber streiten die Gelehrten vermutlich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Wenn man als Zeitgenosse eine Ahnung davon bekommen will, wie und auf welche Weise unsere Welt bald untergehen wird, dann muss man wohl beides lesen: die Romane und die Erzählungen von Philip K. Dick.

Erfreulich ist, dass der bei Zweitausendeins untergeschlüpfte Haffmans Verlag die Kurzprosa des Meisters nun in einer fünfbändigen Kassette anbietet, zum Preis von knapp 50 Euro und ergänzt um einen 93-seitigen Philip-K.-Dick-Companion, herausgegeben vom Dick-Kenner und -Übersetzter Heiko Arntz. Es sollte mich nicht wundern, wenn manche Imagination dieses Zaubermeisters es in den verbleibenden Jahren bis zum Untergang unserer Art noch in die Kinosäle der uniformen Schwachsinnsmetropolen spätkapitalistischen Zuschnitts schafft.