Archive for June, 2008

Dieda (I)

Sunday, 29. June 2008

hand

Ich suche immer, naiv wie ich bin, nach der Wurzel allen menschgemachten Übels auf diesem seltenen Planeten; oder, in biblischer Metaphorik gesprochen, nach dem Wurm im Paradiesapfel. Die Frage, ob nun Ballack heute im Finale gegen die Spanier antreten kann, interessiert mich, ich gestehe es frank und frei, weit weniger als die Frage, warum wir, aufs Ganze gesehen, morgen oder spätestens übermorgen abtreten müssen.

Als Sprachtier fällt mein Augenmerk dabei naturgemäß in diesen Spiegel unseres Daseins. Wäre ich ein Geldtier, hätte ich es bequemer, könnte ich mich doch, aller Sorgen ledig, den Lehren der Herren Marx und Engels anschließen und weiter auf den eschatologisch-paradiesischen Endzustand unserer Geschichte im Kommunismus vertrauen. So naiv bin ich allerdings nun auch wieder nicht.

Wäre ich ein Machttier, dann stellte ich das erste der drei Ideale von 1789 über die Gleichheit und müsste, in Michail Bakunins Fußstapfen, die Freiheit zum Nonplusultra eines humanen Chiliasmus erklären. Ich will nicht leugnen, dass mir die kurzgeschorenen Exegeten in den K-Gruppen weniger sympathisch waren als jene umherschweifenden Haschrebellen, die sehnsuchtsvoll nach dem Strand unterm Pflaster suchten. Herz sticht Hirn!

Tertium datur! Das Lob und Ziel der fraternité bleibt als vielleicht letzte Hoffnung übrig, nachdem in den vergangenen 219 Jahren die beiden anderen Prinzipien einer besseren Zukunft so bitterlich Schiffbruch erlitten. Diese „Geschwisterlichkeit“, wie man das Wort nach dem überfälligen Triumph des Feminismus mittlerweile ins Deutsche übersetzt, könnte das alte Kainsmal unseres Geschlechts vielleicht noch löschen.

Die schillersche Ode an die Freude verhieß uns: „Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt.“ Dass wir dieses Elysium jemals betreten werden, ist aber heute so fraglich wie nie. Denn nicht das „Du“, dem wir den geschwisterlichen Kuss anbieten, beherrscht unsere Welt, sondern das „Dieda“. Die Juden, die Islamisten, die Terroristen, die Amerikaner, die Neonazis, die Türken, die Intellektuellen, die Spießer et cetera ad finitum.

[Fortsetzung: Dieda (II).]

Verunnoseln

Saturday, 28. June 2008

„Wer suchet, der findet!“ Mit dieser Ermunterung suchte mein Vater mich, den Fünfjährigen, zu beschwichtigen, wenn ich wieder mal mein kleines Papierscherchen nicht finden konnte und jähzornig mit dem Fuß aufstampfte, den Tränen nahe. Die Erfahrung, dass sich handfeste Gegenstände unter der Hand in Luft auflösen können, gehörte zu den frühesten Erschütterungen meines eben erst erwachenden Selbstbewusstseins. Noch heute kann mich zur Weißglut bringen, wenn ich wieder einmal meine Brille oder mein Schlüsselbund nicht finde, die sich doch unzweifelhaft irgendwo versteckt haben müssen, denn ein anderes Sprichwort meines mit Redensarten reich versehenen Vaters lautete: „Das Haus verliert nichts!“ Aber es ersinnt scheinbar immer wieder neue Schlupfwinkel, in denen es das Gesuchte hartnäckig meinen Blicken entzieht.

Der gesunde Menschenverstand sagt mir natürlich, dass es keineswegs die toten und unbeseelten Dinge sind, die mir einen solchen Streich spielen. Auch sind die Wohnräume, die erst durch mich und meine Mitmenschen mit Leben, wahlweise mit Ordnung oder Chaos erfüllt werden, keine Trickdiebe und Zauberkünstler, die uns als böswillige Akteure des Verbergens an der Nase herumführen. Seit Sigmund Freud die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat, dass allen menschlichen Fehlleistungen eine tiefere Bedeutung zukommt und es somit auch keineswegs ein zufälliges Missgeschick ist, wenn sich plötzlich ein dringend benötigter Gegenstand hartnäckig unseren Blicken entzieht; seither wissen wir, dass hinter diesem schwer erklärlichen Verschwinden eine Absicht steckt, eine versteckte, freudianisch gesagt: unbewusste.

Die Sprache, unbestechlich wie immer, entlässt uns ohnehin nicht aus der Verantwortung. Ich bin es, der die Brille verlegt, das Schlüsselbund verbumfiedelt, die Schere verbaselt hat. Heute habe ich für das unfreiwillige und unbeabsichtigte Versteckspiel mit uns selbst ein neues Verb gelernt: verunnoseln. „Wissen Sie, was verunnoseln ist? Eine Sache verunnoseln, heißt eine Sache verlieren. Vielmehr, wie wir in der Schule sagten: ,Du hast meinen Federhalter verloren gemacht!‘ Verloren machen – das ist verunnoseln.“ (Hans Siemsen: Wannsee; in Otto Schoff: Das Wannseebad. Berlin: Verlag Galerie Alfred Flechtheim, 1921; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 108.) Der nahezu völlig verloren gegangene Flaneur Hans Siemsen beschwert sich in diesem Vorwort über den Kunsthändler und Verleger Flechtheim, dass dieser sein erstes Vorwort verlegt habe – und darum nun ein zweites benötige: „Er hat es so sorgfältig weggelegt, daß es nun kein Mensch mehr wiederfinden kann. Er hat es verunnoselt.“

Tempi passati! Heute bedürfen Autoren keiner Verleger mehr, um sich in solche Verlegenheit zu bringen. Sie verunnoseln ihre unveröffentlichten Manuskripte höchstpersönlich, indem sie als Blogger ihre eigenen Verleger sind. So widerfuhr es mir in den vergangenen drei Tagen mit meinen längst fertigen, so hübschen Würfelwürfen für den 25. bis 27. Juni. Spurlos verschwunden. Unauffindbar. Ich werde die zunächst in meiner ordentlichen Handschrift verfertigten Texte vermutlich in ein Buch gelegt haben. Ein besseres Versteck gibt es in diesem Haushalt nicht. Nun ist der vorzeitige Verlust von drei unter mancherlei Qualen geborenen Geisteskindern zwar höchst bedauerlich, aber einen guten, tieferen Grund wird es für diese Verunnoselung, wenn wir dem weisen Doktor aus der Wiener Berggasse 19 glauben dürfen, ganz gewiss gegeben haben.

Und sei es das Erlernen eines neuen Wortes, das nicht einmal Google bisher kannte.

Stille!

Friday, 27. June 2008

points

ε πάντα τ ντα καπνς γένοιτο, ῥῖνες
ν διαγνοεν.

Störung!

Thursday, 26. June 2008

svit vim kzzi tztvm wzi ixs ivixslixs vvistlvit.

storung

wvltkimw szt mii mit wvi zmkuvmwitumt, sixs zus wvi ylltlskszviv zu vvizysxsivwvm, ivixslixs zutvsvtzt.

jvtzt zyvi ist siv wivwvi lmlimv mit vimvm mvuvm, imtvivsszmtvm kiljvkt.

wzviv ixs mixst zuwvm mlxs kizmk tvwliwvm, wzmm wuviwv ixs jvtzt sivi vimvm tilssvm tusxs zustvyvm.

sl muss ixs mixs lviwvi vlilzvuuit wzizuu yvsxsizvmkvm, wvi klllvtim vivl tluvxk uuvi isi mvuvs vliszyvm zu wuvmsxsvm.

Streik!

Wednesday, 25. June 2008

streik

Wegen Arbeitsniederlegung der Belegschaft bis auf weiteres geschlossen.

Asta

Wednesday, 25. June 2008

asta

Die „Roaring Twenties“, dieses gewiss später zu sehr verklärte, in der Unklarheit seiner unaufgelösten Widersprüche aber ebenso gewiss explosiv-schöpferische, gärende und temporeiche, fragende und fragwürdige Jahrzehnt, verbrachte Hans Siemsen in Berlin, der Reichshauptstadt und deutschen Metropole der Boheme.

Helmut Kreuzer hat in seiner wegweisenden Monographie über den anarchischen Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft der Bedeutung des Café-Hauses, der Künstlerkneipe und des Kabaretts ein eigenes Kapitel gewidmet. (Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1968, S. 202-216.) Die Anziehungskraft solcher Lokalitäten erklärt er mit einem Polgar-Zitat aus dem ambivalenten Bedürfnis der Einzelgänger, „die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen“.

Siemsen verkehrte „in einem kleinen Lokal in der Passauer Straße“ in Berlin-Tempelhof, in dem sich der Verleger Ernst Rowohlt mit seinen Autoren traf: „Franz Hessel, Joachim Ringelnatz, Hans Siemsen, mitunter war auch Asta Nielsen dabei und hörte, den ausgestreckten Zeigefinger unter dem Kinn, wortlos und unnahbar den Gesprächen zu. Noch ihr Schweigen schien einen dänischen Akzent zu haben. Sie schminkte sich nie, wenn sie ausging, und kleidete sich möglichst unauffällig, beinahe schlampig, teils um nicht erkannt zu werden, teils aus dem bei Schauspielern nicht selten anzutreffenden Wunsch, sich gehenzulassen, wenn man nicht spielte.“ (Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten / Das Exil im Exil. München: Luchterhand Literaturverlag, 2008, S. 172.)

In ihrer Autobiographie Die schweigende Muse (1946) schreibt sie zwar über ihren Freund Joachim Ringelnatz; Hans Siemsen kommt darin nicht vor. Dabei hat Siemsen doch ein so bezauberndes Feuilleton über die Stummfilmdiva und zugleich über die ästhetische Sensation des frühen Films geschrieben: „Das Erstaunliche und Bewundernswerte,“ so heißt es da, war dank Asta Nielsens mimischem Genie „nicht mehr die technische Leistung des neuen Wunderapparates, den man ,Kinematograph‘ nannte, sondern ein menschliches Gesicht und die Suggestion, die von ein paar großen Augen und von ein paar schmalen, zuckenden Lippen ausging. Es stellte sich heraus, daß das einfache, alltägliche menschliche Antlitz wunderbarer, seltsamer und phantastischer sein konnte als der phantastische Apparat. Nicht mehr der Apparat, sondern der Mensch war die Hauptsache. Die Kunst hatte über die Technik gesiegt.“ (Hans Siemsen: Asta Nielsen. In: Film und Volk. Berlin. Heft 2, April 1928; hier zit. nach Schriften II. Kritik – Aufsatz – Polemik. Essen: TORSO Verlag, 1988, S. 161.)

Der Stummfilmstar, der am Tonfilm scheiterte, hat sich frühzeitig auf die Ostseeinsel Hiddensee in sein Haus Karusel zurückgezogen, wo Joachim Ringelnatz die Freundin gelegentlich besuchte. Renate Seydel, die dort eine kleine Buchhandlung betreibt, hat ein Buch über Asta Nielsen herausgegeben, das ich noch nicht kenne und in dem Hans Siemsen vermutlich nicht vorkommt. – Was ist das noch gleich für ein Vogel, dessen Gesang unsere menschliche Stimme zum Verstummen bringen möchte? Luscinia luscinia, so hat Linné 1758 den Sprosser genannt. Sein Ruf ist laut, mit einer breiten Varietät von Trillern, Schnalzlauten und Pfiffen.

Eccentrics (VII)

Monday, 23. June 2008

pferd

Etwa bis Mitte der 1970er-Jahre gab es in meiner Heimatstadt Essen ein ortsbekanntes Original, einen großen, dünnen Mann in schäbiger Kleidung, der schnellen Schrittes durch die Straßen lief und mit lauter Stimme den immer gleichen Satz deklamierte: „Deutschland hat keine Pferde mehr!“

Nie habe ich aus seinem Munde andere als diese fünf Worte gehört. Auf Vorhaltungen – „Schreien Sie doch nicht so!“ – und Fragen – „Ja, und?“ – reagierte er grundsätzlich nicht. Er wirkte völlig entrückt, wie ein fanatischer Missionar, der nur das eine Ziel hatte, öffentlich den Verlust des Pferdes zu beklagen.

Da von dem Exklamator selbst keine Auskünfte über seine Beweggründe erlangt werden konnten, waren hierüber unter den Bürgern der Stadt zahllose Theorien im Umlauf. Manche meinten, er habe in seiner Kindheit von einem Droschkengaul einen Hufschlag vor den Kopf erhalten. Andere waren überzeugt, dass er in seiner Jugend Stallbursche bei Krupp auf Villa Hügel gewesen sei und nach dem Krieg seinen Arbeitsplatz verloren habe. Ich gehörte eher zu jener Fraktion seiner Interpreten, die aus dem Satz einen allgemeinen Protest gegen die zunehmende Automobilisierung der Stadt herausdeuten wollten.

Immer spiegelte sich in den Reaktionen der teils erschreckten, teils belustigten, teils empörten Passanten auf den stereotypen Satz die ganze Vielfalt ihrer Meinungen und Haltungen wider, von freundlichem Mitleid über verstörtes Unverständnis bis hin zu aggressiver Intoleranz. Wer den „Pferdenarren“, wie er auch genannt wurde, schon kannte und von fern heraneilen sah, achtete nicht mehr auf ihn, sondern auf die Nichtsahnenden ringsum und ihr so unterschiedliches Verhalten, wenn er plötzlich losplärrte: „Deutschland hat keine Pferde mehr!“

Irgendwann verschwand er auf Nimmerwiedersehen. So wenig man über seine Herkunft, sein Leben und den Grund seines exzentrischen Auftretens gewusst hatte, so wenig erfuhr man nun über seinen Verbleib. Ob er gestorben war, um die weite Reise in den Pferdehimmel anzutreten? Immer wieder hatte ich von entrüsteten Zeitgenossen den Satz gehört: „Dass man so was noch nicht weggeschlossen hat!“ Vielleicht hatte man also den harmlosen Mann endlich für den Rest seiner Tage weggeschlossen, wer weiß? Damit es irgendwann zur Beruhigung der Normalen hierzulande heißen kann: „Deutschland hat keine Exzentriker mehr!“

Eccentrics (VI)

Sunday, 22. June 2008

loch

Zum ersten Mal erfuhr ich von der Methode im Sommer 1975, als ich in Jochens Teestube Jaap begegnete, der gerade aus Amsterdam kam und nach Tanger wollte. Er erzählte mir von einem Holländer namens Bart Huges, der sich zehn Jahre zuvor ein Loch in den Schädel gebohrt habe, um sich „vom lästigen Druck des Erwachsenseins zu befreien“. – „Und?“, fragte ich. „Ist es ihm gelungen?“ – Jaap sah mir tief in die Augen und lächelte: „Dieser Mann ist der freieste und glücklichste Mensch, dem ich je begegnet bin.“

Anfänglich hielt ich Jaaps Story noch für eines jener Ammenmärchen, die später als moderne Großstadtlegenden in Anthologien wie Die Spinne in der Yucca-Palme versammelt wurden. Als hartnäckiger Skeptiker, der ich nun mal bin, glaube ich grundsätzlich nur, was ich schwarz auf weiß gedruckt in der Hand halte – und auch davon höchstens die Hälfte. Im November 1976 begegnete mir dann aber der erste schriftliche Beweis für die Existenz jenes Bart Huges. Auf dem Flohmarkt erstand ich das Buch Rauschgiftesser erzählen (Hrsg. v. Edward Reavis. Frankfurt am Main: Bärmeier & Nikel, 1967). Und darin entdeckte ich (S. 307-318) ein Interview, das Joe Mellen 1966 für The Transatlantic Review mit dem Selbsttrepanator geführt hatte, unter dem Titel: Das Loch zum Glück.

In aller Kürze meinte Bart Huges, Folgendes erkannt zu haben. Im Zuge der Evolution von Homo sapiens erectus, sozusagen als Schönheitsfehler des aufrechten Gangs, wird das menschliche Gehirn nach dem endgültigen Verschluss der Fontanellen mit zu wenig Blut versorgt. Um dieses Defizit auszugleichen und für ein größeres Gehirnblutvolumen zu sorgen, reicht ein pfenniggroßes Loch in der Schädeldecke, das gleichzeitig zu einer Verringerung der Rückenmarksflüssigkeit im Schädel sorgt. Das natürliche Gleichgewicht wird so wiederhergestellt. Das Ergebnis ist, so Huges, der Homo sapiens correctus. Die Verirrungen des vorgeblich erwachsenen, in Wahrheit aber behinderten Zweibeiners, wie Kriege, Zerstörung der Natur und alle Arten von Autoaggression, gehören endgültig der Vergangenheit an.

Bislang hat seine Methode, die übrigens zur Behandlung von Geisteskrankheiten als „Steinschneiden“ in früheren Jahrhunderten weit verbreitet war, begreiflicherweise nur sehr wenige Nachahmer gefunden. Wer bringt schon den Mut auf, sich eigenhändig einen Elektrobohrer an den Kopf zu setzen, auf die Gefahr hin, mit dem so eröffneten „Dritten Auge“ nicht die ersehnte Erleuchtung zu erfahren, sondern unversehens in ewige Finsternis abzutauchen? Chirurgen, die bereit wären, mit professionellen Mitteln diese ungewöhnliche Operation durchzuführen, scheint es auch nicht zu geben.

So sind wir von Bart Huges’ Vision, der 2004 glücklich gestorben ist, noch weit entfernt: „Ich plädiere für die Möglichkeit, daß jeder Erwachsene, der es wünscht, sich trepanieren lassen kann. […] Es gibt keinen einzigen Grund, warum auch nur ein einziger Erwachsener darauf verzichten sollte, wenn er von der lästigen Behinderung durch die Erdenschwere befreit werden will. […] Der Feind heißt: zu großer Ernst. Der Erwachsene ist sein Opfer – die Gesellschaft seine Krankheit. Mein Problem ist es jetzt, wie ich den Erwachsenen, die zu wenig Blut im Gehirn haben, um das zu verstehen, erkläre, daß sie zu wenig Blut im Gehirn haben, um zu verstehen. […] Ich glaube, daß keine Organisationsform der Erwachsenen optimal funktionieren kann, wenn nicht jeder Erwachsene innerhalb dieser Organisation trepaniert ist.“ (Reavis, a. a. O., S. 314.)

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Sunday, 22. June 2008

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Eccentrics (IV)

Friday, 20. June 2008

vorprogramm

Na klar doch, auch Alfred Polgar der Große hat ein kleines Prosastück über die Eccentrics geschrieben. (Er schreibt sie, eingedeutscht, „Exzentriks“.) Da steckt mal wieder mehr drin, als hineinpasst. Polgars Miniaturen platzen ja, so gertenschlank sie auch sein mögen, immer aus allen Nähten.

Ganz allgemein sagt Polgar über die aus der Mitte an den Rand Geschleuderten und über unser Verhältnis zu ihnen viel in wenigen Worten, also das Wesentliche: „Exzentriks sind leibhaftige Pamphlete wider Würde, Ernst, Haltung. Dafür dankt ihnen unser Herz, befriedigt wie ein Subalterner, der des Gebots, das ihn sein Lebenlang drückt und beugt, ein Weilchen spotten darf. Exzentriks erlösen vom Übel der Schwerkraft. Sie verhelfen zu einer Vision vom Spielzeughaften der Welt … und so zu Kindheits-Glück. Unter ihren Griffen wackelt die Kausalität wie Baggesens Tellerbau; wenn sie einstürzt, ist das Musik unserem Hirn.“ (Alfred Polgar: Exzentriks. Zuerst erschienen im Berliner Tageblatt, Abendausgabe v. 22. Dezember 1927, S. 2; hier zit. nach Musterung. Kleine Schriften, Band 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004, S. 364 f.)

Sehr speziell nennt und erklärt Polgar ein paar Beispiele, von denen Baggesens Tellerbau vielleicht das eindringlichste ist. Baggesen? Der Name kommt mir doch bekannt vor? Ach ja, richtig: Ich habe doch neulich erst bei Hans Siemsen von diesem „Dichter im Porzellanladen“ gelesen. Siemsen beschreibt einen Auftritt des komischen Jongleurs im Berliner „Wintergarten“, während Polgar ihn in Wien gesehen haben dürfte. Die Details sind die gleichen. Vermutlich war „der alte Baggesen“, wie Siemsen ihn nennt, 1927 auf Europatournee. (Vgl. Hans Siemsen: Baggesen im Wintergarten. Zuerst erschienen im 8-Uhr-Abendblatt, Berlin, v. 19. Februar 1927; hier zit. nach Nein! Langsam! Langsam! Hrsg. v. Dieter Sudhoff. Berlin: Das Arsenal, 2008, S. 36.)

Offenbar war Baggesen vor achtzig Jahren ein Publikumsmagnet. Er füllte große Säle und war in aller Munde. Umso erstaunlicher ist, dass man ihn bei Wikipedia nicht findet. Und selbst bei Google musste ich mich bis zur zehnten Seite durchklicken, bis ich endlich einen Hinweis auf ihn fand. Am 30. Juni 1893 berichtete die New York Times in einem kurzen Artikel über einen Auftritt Baggesens im „Madison Square Garden“: Wonderful Contortionist Baggesen. – Carl Baggesen, the contortionist who performs nightly in the roof entertainment at Madison Square Garden, gave a special performance yesterday afternoon for a number of doctors and newspaper men, in the concert hall of the Garden. Baggesen twisted and turned himself into all sorts of positions, turning so far around as to make it appear that his spinal column was in line with the position ordinarily occupied by the breast bone.“

So gelenkig war Baggesen dreißig Jahre später vermutlich nicht mehr, dass er als Schlangenmensch sein Publikum bezaubern konnte. Aber sein Spiel mit dem Tellerstapel und mit einem klebrigen Fliegenpapier muss immerhin noch komisch und atemberaubend genug gewesen sein, um selbst anspruchsvolle Zuschauer wie Siemsen und Polgar in seinen Bann zu ziehen. Jetzt wissen wir immerhin, dass Baggesen mit Vornamen Carl hieß. Und nun entdecke ich, dass auch Kurt Tucholsky diesem Varieté-Künstler einmal großes Lob spendete, als er meinte, dass in „den Tellerkunststücken eines großen Jongleurs mehr Geist und Esprit stecken [könne] als in den furchtbaren und geschmacklosen Radauliedern unserer Humoristen.“ (Peter Panter: Varieté und Kritik. Zuerst erschienen in Die Weltbühne Nr. 30 v. 27. Juli 1922, S. 88; hier zit. nach Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1975, 236.) – Exzentriker sind, so scheint es, für den Augenblick und nicht für die Unsterblichkeit gemacht.

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Friday, 20. June 2008

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Wednesday, 18. June 2008

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Snapshot (I)

Tuesday, 17. June 2008

funkmasten

Seit jeher verliebt sich mein Blick beim Flanieren in solche Bilder unauffälliger Hässlichkeit. Die traurige Belanglosigkeit der Dinge wirkt auf mein Auge wie eine stumme Klage. Mein immer fleißiger Kopf hat dann nur zwei Möglichkeiten, mit einem solchen Eindruck fertig zu werden. Entweder ersinnt er auf einer „höheren Ebene“ zu dem zufälligen Arrangement der Nichtigkeiten eine Bedeutung; oder er flüchtet in einen Migräneanfall.

Wie durchgestrichen steht das Haus vor leicht bewölktem Himmel. Dass die straff gespannten Kabel über dem Schienenweg der Straßenbahn Strom zuführen, stark genug, um fünfzig Fahrgäste und mehr von A nach B zu befördern, ist ein nur gewusstes, nicht sichtbares Akzidens meiner Betrachtung.

Und dass der kleine Hain der Funkmasten auf dem Dach des Hauses dem Handybenutzer in der Straßenbahn ermöglicht, der wartenden Gefährtin am Orte B sein baldiges Eintreffen anzukündigen und die Frage zu stellen: „Schatz, soll ich Brötchen mitbringen? Zwei oder drei? Okay!“ – es ist bei diesem Anblick eines nahezu abstrakten Bildes bloß eine kostenlose Zugabe meiner Phantasie.

Aber das zarte Rosa der Rechtecke zwischen den quadratischen Fenstern! Ist es nicht rührend? Wie es sich ebenso trotzig wie vergeblich gegen diese überwältigende Tristesse auflehnt? Da muss ich unwillkürlich an den Blumenstand in Jacques Tatis Meisterwerk Playtime denken.

Bilder wie dieses bringen mich aus dem Gleichgewicht. Je länger ich sie betrachte, desto fremder schauen sie, in Abwandlung eines Satzes von Lichtenberg, zurück. Die digitale Kameratechnik ermöglicht es, visuelle Aphorismen per Knopfdruck zu verfertigen. Das bedeutet einen Fortschritt, weil mir bei der nachträglichen Betrachtung meiner Schnappschüsse auf dem Monitor andere Gedanken kommen als an Ort und Stelle. Die Migräne immerhin ist abgewendet.

Svensson

Monday, 16. June 2008

est

Die schwedische Stadt Västerås ist Kulturbanausen allenfalls durch die vor zwei Jahren dort ausgetragene Weltmeisterschaft im Gummistiefelweitwurf ein Begriff. Gebildetere Zeitgenossen wissen, dass dort am 17. Mai 1936 der Schriftsteller Lars Gustafsson das Licht der Welt erblickte. Ich habe seinen fünfbändigen Romanzyklus Die Risse in der Mauer vor vielen Jahren gern gelesen und dabei erstmals wahrgenommen, dass ich ein Melancholiker bin.

Gustafssons deutsche Leser haben das große Glück, in Verena Reichel auf eine tatsächlich kongeniale Übersetzerin aus dem Schwedischen vertrauen zu dürfen. Und so liegen auch die naturgemäß schwer zu übersetzenden Gedichte dieses großen Melancholikers in tadellosen deutschen Übertragungen vor.

Västerås hatte bis vorgestern aber noch einen weiteren großen Sohn, dessen Lebenswerk keiner Übersetzung bedurfte: Esbjörn Svensson. Mit seinem Trio e.s.t. hat der brillante Pianist seit 1990 der Welt des Jazz viele neue, begeisterte Fans verschafft, wenngleich die Hardliner unter den Anhängern dieser Musikrichtung, wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, bezweifelten, dass die Töne, die Svensson und seine Gefährten Dan Berglund am Bass und Magnus Öström am Schlagzeug ihren Instrumenten entlockten, überhaupt noch Jazz seien.

Von Lars Gustafsson aus Västerås gibt es ein (von Verena Reichel übersetztes) Gedicht, Über das Verhältnis zur Musik. Das lautet so: „Ich stelle mir eine völlig geschlossene Kugel vor. // Diese geschlossene Kugel enthält etwas. // Ein starkes Magnetfeld ordnet Eisenspäne zu Mustern. // Durch kompakte Wände hindurch. // So benutze ich Musik, // und es weiß weder die Musik noch ich, / womit wir da eigentlich umgehen.“ (Lars Gustafsson: Die Stille der Welt vor Bach. Gedichte. München Wien: Carl Hanser Verlag, 1982, S. 41.)

Vorgestern ist Esbjörn Svensson beim Tauchen im Schärenhof bei Stockholm im Alter von nur 44 Jahren ertrunken. Eine große musikalische Seele ist endgültig verstummt. Ich trauere um die nie mehr zu hörenden melancholischen Töne der Zukunft, die uns ein sinnloses Schicksal für alle Zeit vorenthalten hat. Die geschlossene Kugel ist auf den Grund gesunken.

Kostbar

Saturday, 14. June 2008

funkuhr.JPG

 

Weil unwiederbringlich, jede Sekunde. Davon hat die Minute 60, die Stunde 3.600 und der Tag exakt 86.400. Das stimmt aber nicht ganz, vielmehr ebenso wenig, wie dass das Jahr 365 Tage hat, denn hin und wieder wird, heimlich, still und leise, eine Schaltsekunde eingefügt.

Bei den Schalttagen sind wir da ja noch im Bilde, einen 29. Februar gibt es in allen durch vier teilbaren Jahren, allerdings nicht in den durch 100 teilbaren, aber in den durch 400 teilbaren dann doch wieder. (Darum gab es einen 29. Februar 2000, einen 29. Februar 1900 hingegen nicht.)

Aber die Schaltsekunden folgen leider keiner so gut einprägsamen Regel. 1972 gab es gleich zwei von ihnen, die erste tickte zwischen 23:59:59 Uhr am 30. Juni und 00:00:00 Uhr am 1. Juli; und die zweite quetschte sich zwischen den 31. Dezember 1972, 23:59:59 Uhr, und 00:00:00 Uhr am 1. Januar 1973. In den folgenden sieben Jahren gab es Schaltsekunden jeweils zum Jahreswechsel, 1980 gar keine, dann drei Schaltsekunden in der Jahresmitte usw. Offenbar gehorcht diese Sekundenschalterei keinem einfachen Gesetz. Seit 1999 wurden wir nur mit einer einzigen Schaltsekunde beglückt, nämlich zwischen 1998 und 1999, als die Korken knallten und sich kein Mensch für sie interessierte.

Unterm Datum vom 30. März 1991, das Wetter in Nartum war „schön“, notierte Kempowski in seinem Tagebuch: „Habe heute, Mitternacht, darauf gewartet, daß unsere Funkuhr sich umstellt, tut sie nicht. Die haben eine Zeit herausgesucht, in der man garantiert schläft. Man soll das nicht mitkriegen, daß sie einen eigenen Willen hat.“ (Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991. München: Albrecht Knaus, 2008, S. 123.) Die Umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit erfolgte eben erst am 31. März um 2:00 Uhr. Wer zusehen will, wie die Zeiger unterm Diktat aus Braunschweig tanzen, muss halt zwei Stunden länger wach bleiben.

Zuletzt hätte man in der Sylvesternacht von 2005 auf 2006 die Chance gehabt, punkt Mitternacht ein einsekündiges Stocken der Funkuhr zu betrachten. Oder kreisten auch da alle drei Zeiger nach einem unerfindlichen Plan? Ich weiß es nicht, ich habe den kostbaren Augenblick verpasst. Seit dem 1. Januar 1970 tickt uns allen ja die Unixzeit. Am vergangenen Mittwoch zeigte diese Uhr die kuriose Zahl von 1.213.141.516 Sekunden an. Darin sind die 23 seither zwischengeschobenen Schaltsekunden natürlich enthalten. – Carpe diem!

Wesley

Saturday, 14. June 2008

sneijder

Ich bekenne: Ich habe mir gestern schon wieder ein Fußballspiel angeschaut. Vielleicht musste das sein, weil die vertane Zeit, die ich beim verkrampften Gekicke der deutschen Nationalmannschaft gegen Kroatien zugebracht hatte, nach Kompensation gierte. Ich hatte noch in blasser Erinnerung, dass dieses Spiel doch durchaus auch ästhetische Reize entfalten und jene triumphale Leichtigkeit zur Schau stellen kann, die dem staunenden Betrachter bei allem verbissenen Kampf momentweise das nahezu schwerelose Bewegungsmuster eines Balletttanzes bietet.

Das Glück wollte es, dass ich bei meiner zufälligen Wahl an das zweite Vorrundenmatch in der Gruppe C zwischen Frankreich und den Niederlanden geriet. Mal abgesehen davon, dass ich Zeuge wurde, wie wohl erstmals in der Geschichte des Fußballs der amtierende Weltmeister (Italien) und der Vizeweltmeister (Frankreich) von ein und derselben, vor dem Turnier nicht eben zum allerengsten Kreis der Favoriten gezählten Mannschaft nicht bloß besiegt, sondern geradezu deklassiert wurden – dieses Spiel war ein Meisterstück.

Dass es dazu werden konnte, verdankt es allerdings nur zur Hälfte seinem Sieger. Der verbissene, kollektive Widerstand der Équipe Tricolore, die über weite Strecken das Spiel beherrschte, in einem Trommelfeuer blindwütiger Attacken die Nederlands Elftal unter argen Druck setzte und den routinierten holländischen Keeper Edwin van der Sar mehrfach zu grandiosen Glanzparaden herausforderte, trug zu diesem Kunstwerk ebenso bei wie das bis zuletzt nicht nachlassende, trotzige Aufbäumen der französischen Individualisten, allen voran Franck Ribéry und Thierry Henry.

Meine große Entdeckung des Abends war allerdings der Niederländer mit der Rückennummer 10, der 24-jährige Wesley Sneijder. Nachdem er schon durch seine kluge Vorgabe auf Robben dessen sensationelles Tor zum 3 : 1 in der 72. Minute vorbereitet hatte, nur eine Minute nach dem französischen Anschlusstreffer von Henry, gelang ihm noch kurz vor Schluss einer seiner grandiosen Distanzschüsse zum 4 : 1-Endstand. Daran sieht man, was für ein blutiger Laie ich in Sachen Fußball bin und auch bleiben werde, denn schließlich wechselte dieser schmächtige Sneijder bereits vor einem Jahr zur höchsten jemals von Ajax Amsterdam kassierten Ablösesumme in die Primera Division von Real Madrid: 27 Millionen Euro war den Spaniern dieser Transfer wert.

Ich kann nicht versprechen, dass ich mir nicht doch noch ein drittes Spiel anschaue, und sei es zum Abgewöhnen. Dazu bietet sich Deutschland gegen Österreich am kommenden Montag ja geradezu an.

Kazett

Saturday, 14. June 2008

siemsen-ja-und-nein

Ich lese gerade im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem nahezu verschollenen deutschen Schriftsteller Hans Siemsen dessen Buch Russland ja und nein (Berlin: Ernst Rowohlt Verlag, 1931). Im Herbst 1930 hatte Siemsen im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine sechswöchige Reportagereise in Stalins Reich unternommen. Obwohl das Buch, der Titel deutet es ja schon an, alles andere als ein Lobgesang auf den Kommunismus sowjetischer Prägung ist, hatte er damit sein Bleiberecht im bald aufziehenden Dritten Reich endgültig verwirkt. Dass die Nazis es erst am 31. Dezember 1938 auf ihre „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ setzten, kann man vielleicht am ehesten mit ihrer Unbildung und Ignoranz erklären. Schon bei den Bücherverbrennungen im Frühjahr 1933 waren ihnen beim Zusammenstellen ihrer Listen ja etliche kuriose Fehler unterlaufen.

Im kurzen Vorwort zu seinem Russland-Buch schreibt der Autor: „Von den Sowjet-Russen können wir viel lernen, von ihren Fehlern und den Fehlern, die sie machen und gemacht haben, ebensogut wie von ihren Vorzügen und Leistungen. […] Ich habe in Rußland viel gelernt. Im Guten wie im Bösen. Vielleicht nützt es ein paar Menschen, wenn ich davon erzähle.“ (A. a. O., S. 5.)

Hier klingt unter der Tarnkappe vornehmer Bescheidenheit bereits jener resignative Ton an, der in den wenigen erhaltenen Briefen Siemsens aus den Jahren des Exils schließlich dominieren wird. Es ist doch alle Hoffnung vergeblich, die große Utopie ist gescheitert – dies ist, zwischen den Zeilen, die verzweifelte Botschaft von Siemsens Reisebericht.

Ob es vor nun 77 Jahren ein paar Menschen „genützt“ hat, dieses Buch zu lesen, ist mehr als fraglich. Heute aber ist die Lektüre, was mich betrifft, durchaus Gewinn bringend, in vielen kleinen Details bedenkenswert und erhellend. So wenn Siemsen über das Schicksal der verwahrlosten, verwaisten, vagabundierenden Kinder in Russland schreibt: „Zur selben Zeit aber wurden im selben Rußland stehlende Kinder einfach niedergeschossen, aus den Zügen, mit denen sie als blinde Passagiere fuhren, herab und unter die Räder geworfen, eingefangen, laufen gelassen und wieder eingefangen, von Razzien zusammengetrieben in Gefängnissen und Konzentrationslagern kaserniert und, wenn keine Lebensmittel, wenn selbst trockenes Brot einfach nicht mehr da war, wieder entlassen, wieder auf die Straße geschickt.“ (Ebd., S. 37.)

Da springt es mich also an, dieses Wort „Konzentrationslager“, das sich wenig später zum Kainsmal eines faschistischen Regimes mausern sollte, welches das Verbrechen des Jahrhunderts längst schon plante. Anfangs kürzten die neuen Herren im Land der Dichter und Denker das Schreckenswort noch, was ja auch nahe liegend ist, mit „KL“ ab. Angeblich waren es dann die SS-Wachmannschaften in den Menschenvernichtungsfabriken, die später der Abkürzung „KZ“ wegen ihres härteren Klanges den Vorzug gaben. In einem Buch aus dem Jahr 1931 steht das Wort da noch in aller Unschuld. Und der Stalinismus fand bald ein eigenes, viel weicher klingendes für die gleiche schmutzige Angelegenheit: Gulag.

Foul

Friday, 13. June 2008

abseits

Ich interessiere mich nicht für Fußball. Dieses schlichte Bekenntnis bedarf allerdings der Relativierung: Ich interessiere mich insofern nicht für Fußball, als mir herzlich egal ist, ob die deutsche oder die österreichische Mannschaft bei der Europameisterschaft den Einzug ins Viertelfinale schafft. Ausgesprochen interessant finde ich aber, dass diese Frage offenbar für die überwältigende Mehrheit meiner Zeitgenossen und Landsleute in diesen Tagen an allererster Stelle steht.

Warum ist gerade dieses Mannschaftsspiel in Europa und Südamerika so überaus populär, während die US-Amerikaner Baseball, American Football und Basketball, die Kanadier und Russen Eishockey, die Inder und Pakistani Feldhockey bevorzugen? Warum haben Polo, Radball oder Unterwasserrugby nie aus ihrem Schattendasein herausgefunden? Und ließe sich nicht ein völlig neues Mannschaftsspiel ersinnen, dass an Attraktivität für den Zuschauer alle bisher bekannten überträfe?

Das entscheidende Kriterium für den Massenerfolg einer Sportart ist seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre Medientauglichkeit. Tischtennis zum Beispiel hat den Vorzug, dass sich jedermann mit geringem Kostenaufwand das Spielfeld in den Garten oder Keller stellen kann. Ein Volkssport par excellence also. Als Fernsehvergnügen eignet sich dieses Ballspiel aber leider gar nicht, dazu ist der weiße Zelluloidball einfach zu klein und zu schnell. Dieses Manko schmälert auch das Vergnügen beim Ansehen von Eishockey-Spielen auf dem Bildschirm erheblich.

Wesentlich für die Durchsetzungsfähigkeit eines Mannschaftsspiels ist zudem die Einfachheit seiner Spielregeln. Deshalb konnte zum Beispiel das wunderbare Cricket der Briten in der übrigen Welt kaum Anhänger finden. Und selbst beim verhältnismäßig schlicht geregelten Fußballspiel verhinderte die Abseitsregel lange Zeit, dass auch die Zuschauerinnen Geschmack an der Sache finden konnten. Das lag natürlich an den männlichen Fußballfans, die nicht willens oder in der Lage waren, ihren Frauen diese Regel zu erklären.

Nachzudenken lohnt es sich für mich auch über die Rolle des Fouls im modernen Fußball. Hier lohnt der Vergleich mit einem anderen in den Medien äußerst erfolgreichen Sportspektakel: dem Formel-I-Rennen im Autosport. Ich konnte mich des Verdachts nie erwehren, dass dessen Faszinationskraft entscheidend von der jederzeitigen Möglichkeit eines schweren Unfalls ausging. Ganz offensichtlich tritt dieses niedere Motiv der Zuschauer ja in den Boxarenen zu Tage. Ein Sieg nach Punkten im Ring ist niemals so befriedigend wie ein blutiger Knock-out. Dass in der Liste der Qualifikationsmerkmale für die K.-o.-Runde bei der Europameisterschaft im Fußball das Fairplay-Verhalten der Mannschaften, also die Zahl der gelben und roten Karten, erst an letzter Stelle vor dem Losentscheid steht, ist eine Konzession an die Sehbedürfnisse und primitiven Instinkte der Zuschauer. Ohne skandalöse Fouls wäre Fußball nur halb so schön. Nicht umsonst firmiert eine der interessantesten Websites zum Thema unter dem ehrlichen Namen „Blutgrätsche“.

Genieprofil

Wednesday, 11. June 2008

dali

Neulich habe ich mich gefragt, was eigentlich die Prominenz von genialen Menschen ausmacht. Ihre eigentliche himmelstürmende Leistung – oder doch eher die zufälligen Merkwürdigkeiten ihres privaten Erdenlebens? Würden die Auktionshäuser Christie’s und Sotheby’s einen van Gogh zum gleichen Preis anbieten können, wenn sich der Maler nicht sein Ohr abgeschnitten hätte? Dürfte Rainald Goetz die Leser seines Weblogs bei Vanity Fair weiterhin anöden, wenn er sich nicht 1983 in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen mit einer Rasierklinge die Denkerstirn geschlitzt hätte?

Was wäre die Relativitätstheorie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, gleich ob allgemein oder speziell, ohne die weit herausgestreckte Zunge ihres Schöpfers? Und wo bliebe Beuys ohne die Putzfrau, die seine Fettecke in der Düsseldorfer Akademie wegwischend zum Schmutzfleck erklärte? Ist es nicht ein französisches Kleingebäck aus Rührteig, in Tee getunkt, dem allein Marcel Proust die blasse Erinnerung an seine Lebensleistung verdankt? Und imponiert an Franz Kafka irgendetwas mehr als seine testamentarische Verfügung, alle seine unveröffentlichten Werke nach seinem Tod zu vernichten?

Salvador Dalí mochte mit feinstem Pinsel noch so akribische Bilder auf die Leinwand zaubern, hyperrealistisch und zugleich surreal; hätte er nicht sein sehr spezielles Oberlippenbärtchen pomadisiert, wäre er vermutlich nur noch als Epigone des Surrealismus im Gespräch. Und was wüssten die Klassikfans von Glenn Gould, hätte der kanadische Pianist bei seinen Konzertauftritten nicht regelmäßig eine Show mit seinem Klavierstuhl veranstaltet, um sich schließlich – Gipfel spektakulärer Selbstinszenierung – dem Showgeschäft des Konzertrummels vorzeitig konsequent zu verweigern?

Hätte sich Sartre in jungen Jahren die Augen richten lassen, dann hätten ihm vermutlich auch die Ablehnung des Nobelpreises und der Besuch in Stammheim wenig genützt, er wäre heute nur noch bei Insidern der neueren Philosophiegeschichte bekannt. Und hätte Nabokov seinen Skandalroman Lolita nicht geschrieben, dann wäre sein restliches Gesamtwerk kaum weniger lesenswert, sein Bekanntheitsgrad aber vergleichsweise gering, Schmetterlingsfängerei hin oder her.

Immer sehr wirkungsvoll für den langfristigen Bestand in der öffentlichen Wahrnehmung ist ein dramatisches Ende. Rolf Dieter Brinkmanns Unachtsamkeit beim Überqueren einer Straße in London, Jörg Fausers gedankenloser Spaziergang längs der Autobahn, die Doppelselbstmorde der Ehepaare Zweig und Koestler, das einsame Verlöschen des Uwe Johnson in Sheerness on Sea auf der Isle of Sheppey – wenige Beispiele für viele Fälle, wo der selbstdestruktive Exit zum kreativen Input der Marketingabteilungen in den jeweiligen Verlagen wurde. Ich bin zynisch? Ach was, die Verhältnisse sind zynisch. Soll ich mich, beispielsweise, selbst vor laufender Kamera mit der Schlagbohrmaschine trepanieren, damit ihr mein Format erkennt? Ich werde euch was husten. Ihr könnt mich getrost vergessen.

Snob im Slum

Tuesday, 10. June 2008

huftschwung

Nachdem der wohlhabende Erfolgsschriftsteller Stefan Zweig, Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten, 1934 seine schlossähnliche Villa auf dem Kapuzinerberg oberhalb Salzburgs geräumt hat und nach London emigriert ist, leidet er für die verbleibenden acht Jahre seines aus freien Stücken beendeten Lebens zunehmend unter dem Verlust seiner Heimat, den er sich – anders als sein Schriftstellerkollege und Landsmann Joseph Roth, mit dem er eifrig korrespondiert – zunächst noch als einen bald vorübergehenden einzureden versucht.

Der Kosmopolit lenkt sich wie gewohnt mit Reisen ab. Anfang 1935 besucht er New York und hält seine Eindrücke in einem Tagebuch fest. Am 20. Januar besucht Zweig mittags den Bankier Felix Warburg und besichtigt in dessen „auf gotisch und Kathedrale“ gemachtem Haus Warburgs großartige Rembrandt-Sammlung. Da ja aber bekanntlich New York eine Stadt der Kontraste ist und man nicht immer unter sich bleiben sollte, wenn man ihr Eigentliches so recht genießen will, begibt sich der Weltschriftsteller Zweig zum Tagesausklang nach Harlem, um im „Negertanzlokal“ Savoy Ballroom Rassenstudien zu betreiben.

„Phantastisch, wie sie tanzen,“ so schwärmt er nachher im Hotel, „schlenkernd, mit allen Gelenken, weich die Frau wie Leoparden, von einer Biegsamkeit der Hüften, die man bei uns kaum kennt, und wie straff dagegen die Männer: hier, wo sie noch nicht vercultiviert ist, arbeitet die Natur das Polare des Sexuellen viel deutlicher heraus. Das amüsanteste aber die Toiletten, abgelegte Salonfahnen und Hüte von sechs Jahren oder acht, die hier die Treppenfegerinnen und Kindermädchen mit unglaublichen [!] Stolz tragen. Sie passen zum Schreien schlecht zu diesen primitiven ebenholzfarbenen Körpern.“ (Stefan Zweig: Tagebücher. Hrsg. v. Knut Beck. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1984, S. 370.)

Zum Schreien schlecht passt allerdings auch zu einem aufgeklärten Mitteleuropäer der generalisierende Singular „die Frau“, wo doch im animalischen Vergleich des weichen Hüftschwungs der Leopard in der Mehrzahl auf dem Fuße folgt. Gerade 18 Monate war es her, dass Stefan Zweig beim Berliner Antiquariat Hellmut Meyer & Ernst ein 13-seitiges Redemanuskript jenes Mannes erstanden hatte, der die rhetorische Verallgemeinerung („der Jude“) zur Vernichtungswaffe machen sollte. Das Autograf war bis zum 12. Mai im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen, in der Ausstellung „Die drei Leben des Stefan Zweig“.

Knut Beck, der Herausgeber der Zweig-Tagebücher, muss dies ähnlich empfunden haben, denn er hat hinter „Frau“ im gedruckten Text ein politisch korrektes „[en]“ eingefügt. Aber man kann aus falsch verstandener Liebe zum Gegenstand seiner Forschung und übertriebener political correctness auch in Versuchung geraten, unbequeme Tatsachen zurechtzubiegen. Das Manuskript der Rede, das Zweig seiner Devotionaliensammlung für stolze tausend Reichsmark einverleibte und die Hitler angeblich 1928 im Berliner Lustgarten gehalten haben soll, muss übrigens eine Fälschung gewesen sein. In diesem Jahr sprach der nachmalige „Führer“ nur zweimal in Berlin: am 13. Juli im Saalbau „Friedrichshain“ und am 16. November im Sportpalast.

Eccentrics (III)

Monday, 09. June 2008

links-engelhardt

Was die rechte Lebensweise angeht, im besonderen Falle die Frage der richtigen Ernährung, verhält es sich so. Im Mittelpunkt der Normalität formulieren die Diätetiker das Ideal größtmöglicher Ausgewogenheit, „nichts zu viel und nichts zu wenig“. Sie berechnen pro Kilogramm Körpergewicht den idealen Tagesbedarf an Fett, Kohlenhydraten, Proteinen, Vitaminen, Spurenelementen und Ballaststoffen und bereiten uns dann, den Kochlöffel in der Rechten und die Nährstofftabelle in der Linken, unsere täglichen Mahlzeiten.

An den Rändern der Exzentrizität hingegen plädieren messianische Gesundheitsapostel für mehr oder weniger radikale Verzichtserklärungen, für Rohkost, Instinctotherapie, Vegetarismus, Veganismus und eine unüberschaubare Vielzahl von speziellen Diäten, von der Hayschen Trennkost bis zum Heilfasten nach Franz Xaver Mayr. Während letztere sich in aller Regel aber als zeitlich befristete Übergangsphasen zur Gewichtsabnahme, Entgiftung und „Entschlackung“ empfehlen, gehen manche Küchenexzentriker noch einen Schritt weiter und fordern die maßlose Reduktion des Speiseplans gleich lebenslänglich – wie lange auch immer ein solches Leben in der bewussten Beschränkung währen mag.

Ich kannte zum Beispiel mal eine junge Frau, nennen wir sie Liane, die sich etliche Jahre alltäglich ausschließlich von sehr vielen Bananen, wenigen Zitrusfrüchten und mehreren Litern Früchtetee ernährte. Liane war außergewöhnlich schlank, aber durchaus muskulös und geistig auf der Höhe, verfügte, etwa beim Radfahren, über große Ausdauer und litt unter keinerlei chronischen oder akuten Krankheiten. So hatte sie z. B. schon seit Jahren keine Erkältung mehr gehabt. Auf die Frage, ob sie die Eintönigkeit beim Essen nicht als sehr langweilig empfinde, gab Liane sinngemäß zur Antwort: „Essen dient doch nicht der Unterhaltung! Nach Abwechslung verlangt nicht mein Verdauungstrakt, sondern mein Gehirn.“ Ihre eigenwillige Dauerdiät war sehr billig und sparte zudem viel Zeit, die üblicherweise für Einkäufe und Zubereitung draufgeht. Leider kann ich nicht berichten, ob dieser wagemutige Selbstversuch auch langfristig zu keinen Mangelerscheinungen geführt hat, denn ich verlor Liane bald aus den Augen.

Ich musste kürzlich wieder an sie denken, als ich einen Wikipedia-Artikel über den „Aussteiger“ August Engelhardt (1875 – 1919) las. Was für Liane die Bananen, das waren für diesen Exzentriker die Kokosnüsse. Der Nürnberger Sektengründer, der im Alter von 32 Jahren in die Südsee ausgewandert war und das zu Neuguinea gehörige Eiland Kabakon erworben hatte, nannte seine Beschränkung auf ein einziges Nahrungsmittel „Kokovorismus“ und predigte: „Nackter Kokovorismus ist Gottes Wille. Die reine Kokosdiät macht unsterblich und vereinigt mit Gott.“ (Hier zit. nach Johannes W. Grüntzig u. Heinz Mehldorf: Expeditionen ins Reich der Seuchen. München: Elsevier, 2005, S. 233.)

Schon nach wenigen Jahren praktiziertem Kokovorismus musste Engelhardt allerdings ins Hospital von Herbertshöhe auf Papua-Neuguinea eingeliefert werden. Er „wog bei einer Körpergröße von 1,66 Metern nur noch 39 Kilo, litt am gesamten Körper an Krätze, hatte zahlreiche Hautgeschwüre und konnte vor Entkräftung nicht mehr gehen.“ Aber ein überzeugter Heilsbringer lässt sich von solchen Rückschlägen nicht entmutigen. Nach seiner Wiederherstellung fühlte er sich dem erstrebten ätherischen Zustand nur umso näher und setzte seine Kokosnussdiät fort. August Engelhardt starb im Alter von 49 Jahren auf Kabakon, seine Todesursache ist ebenso unbekannt wie seine Grabstätte.

Milans Taufe

Monday, 09. June 2008

Heute leider wegen Familienfeier geschlossen.

Last Decision

Sunday, 08. June 2008

kid

Wenn uns von der Natur schon die Entscheidung nicht überlassen wird, ob wir den Nachteil, geboren zu sein, für die irdischen Freuden gleich welcher Art in Kauf nehmen wollen, dann sollte uns das Heer der zum Tode Mitverurteilten doch wenigstens anheim stellen, ob wir uns von der gleichen Natur, die schon einmal unser Schicksal bestimmte, auch ein zweites Mal vergewaltigen lassen wollen – oder ob wir die Selbstbestimmungsrechte, die uns mit diesem unbestimmt befristeten Dasein an die Hand gegeben wurden, dazu nutzen wollen, Hand an uns zu legen und aus dem unbestimmten Datum unseres Abschieds ein bestimmtes, aus freiem Entschluss gewähltes zu machen.

Als immer gegenwärtige Möglichkeit jedes selbstbewussten Individuums unserer kurzfristig so erfolgreichen Spezies eröffnet der Freitod die vielleicht radikalste Perspektive auf das Ideal der Freiheit. Diesen Akt „Selbstmord“ zu nennen und gar als ein Verbrechen unter Strafe zu stellen, enteignet die Person noch ihres allerletzten, unveräußerlichsten, nacktesten Besitzstandes: seines Leibes; indem nämlich die Gemeinschaft dem Einzelnen damit das letztwillige Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper aberkennt – zu dem ja aber doch auch jenes Gehirn, in dem der Entschluss zum gewaltsamen und vorzeitigen Weggang reifte, untrennbar gehört.

Dieses Selbsttötungsverbot mag in früheren Epochen der Menschwerdung im Sinne des Kollektivs begründet gewesen sein, als die Gesamtpopulation von Homo sapiens noch um jedes einzelne Individuum verlegen war. Und selbst mit Blick auf die Zeit der ersten Hochkulturen an Nil, Euphrat und Tigris mag man verstehen, dass die Sklavenhalter ihrem Humankapital mittels schmerzhafter Körperstrafen drohen mussten, um es davor zurückschrecken zu lassen, sich auf kurzem und vergleichsweise schmerzlosem Wege der Arbeitspflicht zu entziehen. Da dies vermutlich nicht immer fruchtete, erfanden die Weltreligionen, allen voran das Christentum, jenseitige Sanktionen hinzu, um ihre Schäflein diesseits im Joch zu halten.

Ein paar tausend Jahre später ist das archaische Relikt des Selbsttötungsverbots – die fortdauernde religiöse und kulturelle Ächtung eines frei gewählten, schmerzlosen Rückzugs aus dem Leben – bloß noch absurd. Angesichts von mehr als 6.000.000.000 Menschen, deren Durst und Hunger, Bewegungsdrang und Unterhaltungsbedürfnis unbegrenzt sind und so die Ressourcen dieses begrenzten Planeten, ob erneuerbar oder nicht, in absehbarer Zeit definitiv verschlingen und vernichten müssen; angesichts dieser Zuspitzung eines unauflöslichen Widerspruches ist jeder frei gewählte, vorzeitige Tod eines Menschen objektiv eine Entlastung, ein kleiner Beitrag zum Naturschutz.

Die Exponentialkurve der „Bevölkerungsexplosion“ wurde durch die epidemischen, natur- oder kriegsbedingten Katastrophen in den letzten tausend Jahren nur schwach gebremst: kleine Knicke, keine Umkehr. Die Tendenz zur Selbstauslöschung unserer raren Spezies wurde durch Pest und Cholera, Erdbeben und Vulkanausbrüche, zwei Weltkriege, Auschwitz und Hiroshima kaum gemildert. (Carl Djerassi mit seiner Antibabypille und die Ein-Kind-Politik der Chinesen leisteten einen mindestens so großen Beitrag zum Ziel: eine durch den Menschen völlig aus der Balance gebrachte Biosphäre neu zu justieren.) Vielleicht ist die letzte Chance, einen auf längere Sicht auch vom Menschen bewohnbaren und von ihm kultivierten Planeten im Sonnensystem zu erhalten, wenn der Freitod künftig nicht mehr als ein Verbrechen und als eine Sünde, sondern als letzte Erfüllung eines frei bestimmten Menschenlebens erkannt wird.

Eccentrics (II)

Friday, 06. June 2008

bah

Der Großmeister des Interviews, André Müller, hat einmal als selbst Interviewter bekannt, dass er sich in Gespräche zwischen Irren besser hineinfinden könne als in die meisten Unterhaltungen der vorgeblich geistig Gesunden: „Im Irrenhaus würde ich mich wahrscheinlich wohlfühlen. […] Nicht unbedingt in der Art, wie man dort eingesperrt ist; nicht die Ärzte. Aber ich hab, wenn ich so manchmal Filme über Irre sehe, die miteinander sprechen, das stimmt ja völlig, die reden ja keinen … das schaut immer so wie Unsinn aus, aber im Grunde ist das ein irrsinnig stimmiger Dialog, und in den würde ich mich immer sehr gerne einklinken. Also, da könnte ich ganz gut mitreden. So muss ich halt immer schaun, dass man immer … also meine Lebensleistung ist, ein normales Bild nach außen abzugeben. Das ist meine größte Schwierigkeit.“

Eine sehr ähnliche Aussage fand ich kürzlich bei Philip K. Dick: „Die grundlegende Voraussetzung, die all meine Kurzgeschichten beherrscht, ist, daß ich, würde ich je eine extraterrestrische Lebensform (besser bekannt unter der Bezeichnung ,kleine grüne Männchen‘) kennenlernen, feststellen müßte, daß ich mit ihr mehr zu reden wüßte als mit meinem Nachbarn. Was die Leute in meiner Straße tun, ist, ihre Zeitungen und ihre Post hereinzuholen und mit ihren Autos wegzufahren. Im Freien gehen sie keiner anderen Beschäftigung nach, als ihren Rasen zu mähen. Einmal ging ich nach nebenan, um zu sehen, womit sie sich im Haus beschäftigten. Sie sahen fern.“ (Philip K. Dick: Afterthought by the Author; hier zit. nach ders.: Black Box. Frankfurt am Main: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, 2008, S. 625.)

Auch André Müllers Schwierigkeit ist Dick vertraut: „Ich hatte eine Heidenangst, das Universum könnte entdecken, wie anders ich eigentlich war. Ich hatte den Verdacht, daß es irgendwann die Wahrheit über mich herausfinden und vollkommen normal darauf reagieren würde: Es würde mich kriegen. Ich hatte nicht das Gefühl, es sei bösartig, nein, bloß scharfsichtig. Und es gibt nichts Schlimmeres als ein scharfsichtiges Universum, wenn man ein bißchen sonderbar ist.“ (Dick, a. a. O., S. 633.)

Solche Vorstellungen und Ängste sind mir nur zu vertraut. Manchmal denke ich, dass ich sofort weggesperrt würde, wenn man meine Gedanken lesen könnte.

Aber die Gedanken sind frei. Und so scharfsichtig ist das Universum noch nicht, dass es sie erraten könnte.

Eccentrics (I)

Thursday, 05. June 2008

engelhardt-und-makelli

In der Mitte drängen sich auf engstem Raum die normkonformen Durchschnittsmenschen und erfreuen sich ihrer Verwechselbarkeit. Otto Normalverbraucher und Erika Mustermann definieren den gesunden Menschenverstand und meiden die kleinste Abweichung von ihresgleichen wie die Pest. Der Prototyp idealer Anpassung macht allenfalls ein Prozent der Gesamtpopulation aus. Sehr interessant, diese Leute.

Im weiten Feld rings um dieses Zentrum leben fast alle anderen Menschlein, die sich durch mehr oder weniger seltene Hobbys, mehr oder weniger heimliche Laster und mehr oder weniger ungewöhnliche Meinungen einen letzten Rest von Individualität zu bewahren trachten. Sehr uninteressant, diese Leute.

Und ganz weit draußen schließlich, am äußersten Rand, schwirren jene lebensuntüchtigen Außenseiter umher, die auf diese oder jene Weise dazu beitragen, die Möglichkeiten des Menschseins um eine radikale Perspektive zu bereichern: die Freaks, Religionsstifter, Schizophrenen, Philosophen, Verbrecher, Künstler, Anarchisten, Erfinder, Entdecker und Visionäre. Diese Leute, die das restliche Prozent ausmachen, sind wieder sehr interessant.

Um die 98 Prozent, die Bewohner des Mittelfelds, muss ich mich nicht kümmern. Das besorgen ja schließlich die mittelmäßigen Massenmedien alltäglich mit stupider Gründlichkeit. Wenn ich an die Masse denke und ihre überwältigende Macht, dann muss ich unwillkürlich gähnen. Diese Vorstellung ersetzt mir abends im Bett mit zuverlässiger Wirkung das Schäfchenzählen.

Was mich anregt und belebt, das ist einerseits das Ideal des normierten Menschen, jener Avatar der Zukunft, der es nicht mehr nötig haben wird, zwischen McDonald’s und Burger King zu wählen oder zwischen SDP und CDU; und andererseits das Ideal des Exzentrikers, der es ebenfalls nicht mehr nötig hat, unter vorgegebenen Angeboten zu wählen, sondern sich seine eigene Welt ständig neu erschafft.

Weglasser

Wednesday, 04. June 2008

magersucht

Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich. Vor diesem ersten Satz standen dreiundzwanzig andere. Ihr Schicksal: Sie wurden gestrichen.

Die wahre Prosakunst besteht im Weglassen, schon erst recht in Zeiten des Überflusses, wo auch das Fabulieren an Adipositas erkrankt ist. Und schon wieder haben etliche Haupt- und Nebensätze, die nicht genug Geist hatten, ihren Geist aufgegeben. Weg damit!

Das Geschwätz ist ein Signum unserer auch sonst überlauten Zeitläufte. Wenn die Prosa noch was lernen kann, dann hart am Rande des Schweigens, wo sich immer schon die Lyrik herumtrieb.

Wenn sich ein Einbrecher ertappen lässt, der sich in meiner Bibliothek zu schaffen macht, dann werde ich ihn mit Zettels Traum erschlagen, zu etwas muss das Sumobuch ja schließlich taugen. Das Epitaph auf den vereitelten Dieb aber werde ich nicht in der Tatwaffe, sondern eher in den Sudelbüchern finden. „Ach Gott,“ so fragt Lichtenberg dort, „wo sind unsere philosophischen Geschichtsschreiber? Männer, die tief geprüfte Sachen kurz und stark zu sagen wissen?“

Neben vielen anderen Ehrentiteln wurde Alfred Polgar auch der eines Weglassers umgehängt. Kein Wort zuviel. Eindruck schindet man damit nur bei den Hellhörigsten. Aber es geht ja nicht ums Nahziel geschundener Impression, sondern um den treffendsten Ausdruck. Es geht um Verknappung. Ich bin, nach mancherlei Süchten, der literarischen Anorexia nervosa anheim gefallen.

Untiefen

Tuesday, 03. June 2008

boot

In einer Folge der amerikanischen TV-Serie Lost serviert John Locke dem eingekerkerten Benjamin „Ben“ Linus alias Henry Gale auf einem Plastiktablett eine spärliche Eierspeise und daneben ein Buch, das er zuvor aus dem Regal gezogen hat. „From my own bookshop“, wie Locke zynisch anmerkt, als Ben das Cover betrachtet. Es handelt sich hierbei um eine Paperbackausgabe des ersten Bandes der Valis-Trilogie des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick, der in diesem Jahr am 16. Dezember 80 Jahre alt geworden wäre.

So ist ein vermeintlicher Trivialautor, ein Fließbandproduzent literarischer Massenware, mittlerweile also in den Untiefen der Zweit- und Drittverwertung eingetroffen, als Zitat, als bedeutungsschwangere Sprechblase auf einem billigen Frühstückstablett, wo er nun das traurige Dasein eines an den Haaren herbeigezogenen Sinngebers spielen darf. Neben zwei gerührten Eiern.

Viele kennen die Filme Blade Runner (1982), Total Recall (1990), Die Truman Show (1998), The Matrix (1999), Minority Report (2002) und A Scanner Darkly – Der dunkle Schirm (2006). Aber noch viel zu wenige wissen, dass all diese Kinoerfolge auf dem schier unerschöpflichen Ideenreichtum eines einzigen Mannes beruhen, des ebenso genialen wie traurigen Philip K. Dick. Jemand, der in die Zukunft blickt, kann ja auch nichts anderes als traurig sein. Diesen Blick halten nur wenige aus, und insofern ist der gelegentliche, scheinbar maßlose Vergleich von Dick mit Kafka gar nicht so abwegig.

Ob nun Philip K. Dicks Romane, die der Heyne Taschenbuchverlag in einer 15-bändigen Edition zu moderaten Preisen neuerdings herausgebracht hat, oder ob seine 118 SF-Erzählungen, die der Haffmans Verlag in Zürich 1993-2001 zuerst in deutscher Übersetzung veröffentlichte, den eigentlichen Kern dieses Dick’schen Riesenwerks ausmachen – darüber streiten die Gelehrten vermutlich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Wenn man als Zeitgenosse eine Ahnung davon bekommen will, wie und auf welche Weise unsere Welt bald untergehen wird, dann muss man wohl beides lesen: die Romane und die Erzählungen von Philip K. Dick.

Erfreulich ist, dass der bei Zweitausendeins untergeschlüpfte Haffmans Verlag die Kurzprosa des Meisters nun in einer fünfbändigen Kassette anbietet, zum Preis von knapp 50 Euro und ergänzt um einen 93-seitigen Philip-K.-Dick-Companion, herausgegeben vom Dick-Kenner und -Übersetzter Heiko Arntz. Es sollte mich nicht wundern, wenn manche Imagination dieses Zaubermeisters es in den verbleibenden Jahren bis zum Untergang unserer Art noch in die Kinosäle der uniformen Schwachsinnsmetropolen spätkapitalistischen Zuschnitts schafft.

Geschafft?

Monday, 02. June 2008

bosch

Kempowski berichtet in seinem 1991er Tagebuch Somnia vom Kampf mit seinem Verlag Albrecht Knaus, der Bertelsmann-Gruppe zugehörig, die jetzt unter Random House firmiert, um das Bild auf dem Schutzumschlag zu seinem Buch Mark und Bein, einer Episode. Am 28. August 1991 hatte er Bilder von Hieronymus Bosch betrachtet und entdeckte dabei „eine blaue Schüssel mit Hand, Dolch und Würfel“. Das wäre doch was! Das wäre doch was gewesen.

Am 9. November des gleichen Jahres telefonierte der Autor mit seinem Lektor Karl-Heinz Bittel und schlug ein anderes Bosch-Bild vor. Offenbar war man in München nicht begeistert von Kempowskis erstem Vorschlag. Vom 16. bis zum 20. des gleichen Monats fand in Haus Kreienhoop (Nartum), dem Wohnsitz des Schriftstellers seit 1973, das letzte der vielen Literaturseminare statt, die der unentwegte Pädagoge 1980 ins Leben gerufen hatte.

„Die Leute hat es sehr interessiert,“ so berichtet Kempowski nach dem Ende dieser Abschiedsveranstaltung, „welche verschiedenen Umschlagentwürfe für M/B [Mark und Bein] zur Debatte standen. Ich hatte sie ausgelegt und numeriert. Der Messer-durch-Hand-Vorschlag (Hieronymus Bosch) wurde einstimmig abgelehnt, der Hockney-Vorschlag favorisiert, wie im Verlag. Ich stimmte schließlich zu, fand die goldene Brücke, daß der schöne blaue Zaun-Sonnentag eben trügerisch sei und durch den Inhalt des Buches in Frage gestellt. Ah! Bittel lehnte sich zurück, die Formel war gefunden, eilte ans Telefon, und im Verlag lehnten sich auch alle zurück: ,Gott sei Dank! Geschafft!‘ Die Vertreter hatten aufgeschrien, als sie den Teller-und-Hand-Entwurf sahen. [Oskar] Pastior stimmte für die Hand, und weil er immer geschwiegen hatte, hatte seine Stimme enormes Gewicht, und beinahe hätte er uns rumgekriegt.“ (Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991. München: Albrecht Knaus Verlag, 2008, S. 358, 451 u. 471.)

Ich habe gerade mal nachgeschaut, was die Erstausgabe von Mark und Bein antiquarisch kostet. Bei ZVAB sind gegenwärtig überhaupt nur zwei Exemplare im Angebot, eins für 145 und eins für 259 Euro. Mein Exemplar ist insofern ein besonderes, als es auf dem Schmutztitel den Eindruck trägt: „Für die Freunde unserer Verlage / Weihnachten 1991“. Noch im alten Jahr, wie ich einer Notiz von meiner Hand entnehme, habe ich Mark und Bein dann gelesen, und wenn ich mich recht erinnere, mit Genuss.

Einen Schutzumschlag hat das in blaues Leinen gebundene, leider nur gelumbeckte Büchlein allerdings nicht. Den werde ich ihm nun nachträglich verpassen, mit dem Teller-und-Hand-Bild von Hieroymus Bosch.

Gizeh (VI)

Sunday, 01. June 2008

ei

Jetzt mal endlich runter von der Pyramide! Denn eigentlich geht es mir ja hier gar nicht in erster Linie um ein paar relativ neue Kritzeleien im alten Ägypten und den Niederschlag, den sie bei Gerard de Nérval, Gustave Flaubert und Victor Hugo (und vielleicht auch bei Vladimir Nabokov) gefunden haben, sondern um etwas weitaus Grundsätzlicheres: um die vermeintliche oder tatsächliche Entweihung eines mit Bedeutung aufgeladenen Ortes durch eine vermeintlich oder tatsächlich triviale Inschrift. Es geht um die junge Schrift auf dem alten Stein. Es geht um das Recht oder Unrecht der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit.

Heute möchte ich daran erinnern, dass vor genau 40 Jahren, im wildbewegten Mai 1968, in der Hansestadt Hamburg für genau 17 Tage der erste Graffiti-Künstler Deutschlands auftrat. Sein Name: Peter-Ernst Eiffe. Über diesen „Hofnarren der APO“ hat Peter Schütt vor auch schon wieder zwölf Jahren in der Zeit ausführlich Bericht erstattet.

Schütt ist berühmt geworden, weil er sich den Spruch „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ ausgedacht hat. Dieser eingängige Slogan, der in den folgenden Jahren geradezu ein Kernsatz der 68er-Bewegung wurde, stand dann auf einem schwarzen Transparent, mit dem Schütts Kommilitonen Gert Hinnerk Behlmer und Detlev Albers im November 1967 die feierliche Rektoratsübergabe an Werner Ehrlicher in der Universität der Hansestadt störten. (Albers ist übrigens zufällig gestern in Bremen verstorben.) Über seine erste Begegnung mit Eiffe schreibt Schütt:

„Das war im Anschluß an die studentische Vollversammlung, die der Sprengung der Rektoratsfeier am 9. November 1967 folgte. Ich war am Vorabend festgenommen worden, weil ich mit Pinsel und Farbeimer versucht hatte, am Bauzaun der Universität eine Losung anzubringen: ,Ehrlicher wird immer entbehrlicher.‘ Zwei Zivilfahnder hatten mir das Handwerkszeug aus der Hand genommen und mich zur Wache gebracht. Eiffe kam auf mich zu und begann, auf mich einzureden: ,Das müßt ihr anders machen! Eimer und Pinsel sind Schnee von gestern! Ich habe die modernen Waffen der Kulturrevolution …‘ Und er öffnete seine Aktentasche und zeigte mir – eine Spraydose und etliche Filzstifte. Technische Neuheiten!“ (Peter Schütt: Wer hat in Deutschland die ersten Graffiti gesprüht? In: Die Zeit Nr. 12 v. 23. März 1995, S. 95.)

Mittlerweile ist ganz Deutschland dank dieser technischen Neuheiten mit Kritzeleien (Tags) und Malereien (Graffiti) überzogen, längst nicht mehr nur auf Bauzäunen, sondern auf jeder nur denkbaren Außenfläche der Stadtlandschaft. Je schwerer erreichbar die Malgründe sind, desto größer ist der „Fame“, den die wagemutigen Sprayer in der Szene für sich verbuchen können. Bis heute Morgen Punkt zehn Uhr triumphierte z. B. die schwarze Inschrift „EI“ auf der Weißblechrotunde, die den Turm des Essener Karstadt-Hauses krönte (siehe Titelbild). Dann brach das historische Bauwerk in sich zusammen. Ich habe anderswo mal gerätselt, was dieses „EI“ uns eigentlich sagen wollte. Offenbar war der anonyme Künstler in der luftigen Höhe von 35 Metern bei der Vollendung seines Werkes gestört worden. Jetzt weiß ich, was er schreiben wollte: EIFFE.