Gizeh (IV)

gizeh

Auch der literaturbeflissene Arzt im Ruhestand Geoffrey Braithwaite, Ich-Erzähler in Julian Barnes’ Roman Flaubert’s Parrot (1984), hat sich seine Gedanken gemacht, was genau in der Morgendämmerung des 8. Dezember 1849 auf dem Plateau der Cheopspyramide geschah: „Die aufgehende Sonne ließ die obersten Steine der Pyramide aufleuchten, und als Flaubert an sich hinunterblickte, bemerkte er eine kleine festgepinnte Geschäftskarte. ,Humbert, Frotteur‘, stand dort zu lesen sowie eine Adresse in Rouen.“ (Julian Barnes: Flauberts Papagei. Roman. A. d. Engl. v. Michael Walter. Zürich: Haffmans Verlag, 1987, S. 97.) – Merkwürdig, in meiner Übersetzung der Reisetagebücher von Flaubert ist von Rouen nichts zu lesen.

Braithwaite fährt fort: „Ein Moment perfekt ins Ziel gelenkter Ironie. Und ein modernistischer Moment: Wie hier das Alltägliche ins Erhabene hineinpfuscht, ist doch die Art von Wechselspiel, die wir als typisch für unser abgebrühtes, nicht übers Ohr zu hauendes Zeitalter beanspruchen. Wir danken Flaubert, daß er das aufgegriffen hat; die Ironie existierte gewissermaßen erst dann, als er sie wahrnahm. Andere Besucher hätten in der Geschäftskarte vielleicht nur ein Stück Abfall gesehen – sie hätte jahrelang dort bleiben können, die Stecknadeln wären langsam vor sich hin gerostet; aber Flaubert verlieh ihr eine Funktion.“ (Ebd., S. 97 f.) – In einem Punkt irren Braithwaite resp. Barnes. Es gab zuvor mindestens einen „anderen Besucher“, sensibel genug für die Empfindung, dass an diesem erhabenen Ort Werbung für Bohnerwachs und fürs Bohnern zu treiben einem Akt kaum noch zu überbietender Profanierung gleichkommt. Sein Name: Gérard de Nerval.

Der folgende Absatz von Braithwaite resp. Barnes gibt mir ein Rätsel auf: „Jetzt kommen wir zur Ironie der Ironie. Aus Flauberts Reisenotizen geht hervor, daß Monsieur Frotteur die Geschäftskarte nicht selbst dort festgepinnt hat; der wendige und vorsorgliche Maxime Du Camp brachte sie an; er war in der violetten Nacht vorausgeflitzt und hatte diese kleine Mausefalle für seines Freundes Sensibilität aufgestellt. Mit diesem Wissen verschieben sich die Gewichte in unserer Reaktion: Flaubert wird schwerfällig und berechenbar; Du Camp wird zum geistreichen Kopf, zum Dandy, der dem Modernismus ein Schnippchen schlägt, noch bevor sich der Modernismus erklärt hat.“ (Ebd., S. 98.) – Ich konnte trotz gründlicher Suche keine Stelle in Flauberts Reisenotizen entdecken, aus der dergleichen hervorginge. Vielleicht handelt es sich ja nur um einen kleinen Flüchtigkeitsfehler und die Quelle für diese Täuschungsgeschichte heißt in Wahrheit Les lettres d’Egypte (1965)? Der nächste Absatz aus Flauberts Papagei könnte jedenfalls darauf hindeuten:

„Greifen wir zu Flauberts Briefen, dann entdecken wir, daß er einige Tage nach dem Ereignis seiner Mutter über die sublime surprise dieser Entdeckung schreibt. ,Und wenn ich mir überlege, daß ich diese Karte eigens von Croisset mitgenommen und sie nicht einmal selbst dort angebracht habe! Der Halunke [Maxime Du Camp] hat meine Vergeßlichkeit ausgenutzt und diesen Glücksfall von Geschäftskarte auf dem Boden meines Chapeau claque entdeckt.‘ Es wird also noch merkwürdiger; als Flaubert von zu Hause aufbrach, bereitete er schon die special effects vor, die dann später als so überaus typisch für seine Art, die Welt wahrzunehmen, wirken würden.“ (Ebd., S. 98 f.)

Da ich – offenbar im Unterschied zu Braithwaite resp. Barnes – die ältere Stelle von Nerval kenne („[…] ein Bohnerwachshändler von der Piccadilly hat sogar auf einem ganzen Block sorgfältig die Vorzüge seiner durch das improved patent von London geschützten Erfindung eingravieren lassen.“), wage ich mal die Vermutung, dass Flaubert sie ebenfalls kannte und durch sie dazu inspiriert wurde, in seinem Chapeau Claque die Visitenkarte des Bohnerers aus Rouen von Croisset auf die Spitze der Pyramide zu tragen. Noch einmal Braithwaite resp. Barnes: „Ironien breiten sich aus; Realitäten weichen zurück. Und, nur mal interessehalber, warum eigentlich nahm er seinen Chapeau claque mit zu den Pyramiden?“ – Pourquoi pas!

9 Responses to “Gizeh (IV)”

  1. Günter Landsberger Says:

    Und mich erinnert das Bild mit Sphinx und Cheopspyramide ganz dunkel an eine Zigarettenmarke, die es in meiner Kindheit in Österreich gegeben hat. (Hieß sie am Ende gar Gizeh?) Als ich im Umfeld des von meinem Großvater gepachteten Wirtshauses aufgewachsen bin, sind so ziemlich alle einschlägigen Zigarettenmarken von damals in meinen Gesichtskreis getreten. Vor allem die Bilder der Schachteln sind im Gedächtnis haften geblieben.

  2. Günter Landsberger Says:

    Und siehe da: http://www.gizeh-online.de/content/geschichte.html

  3. Matta Schimanski Says:

    Ich habe das Bild natürlich sofort erkannt.
    Diese Blättchen zum Selberdrehen habe ich in meiner Jugend immer benutzt, mit Drum oder Javaanse Jongens halfzware Shag, oder auch Old Holborn. Das wurde während meines Auslandssemesters in den USA immer mit großem Misstrauen betrachtet (also von den älteren Herrschaften; von den jüngeren mit großem Spaß), denn dort drehte man nur Joints selbst.

  4. Matta Schimanski Says:

    „Ironien breiten sich aus; Realitäten weichen zurück.”

    Klingt im Original viel schöner, weil es sich reimt:

    “Ironies breed; realities recede.”

  5. Günter Landsberger Says:

    Liebe Frau Schimanski, immerhin bin ich zeitlebens Nichtraucher und muss so etwas Zigarettiges eigentlich gar nicht wissen. Es gibt aber wohl immer auch ein Nebenbei-Wissen. Man kriegt so manches unwillkürlich mit.

  6. Matta Schimanski Says:

    Lieber Herr Landsberger, das war doch weder Vorwurf noch Häme oder sonst irgendwas in der Art – ich war nur froh, auch mal was zu kennen, und wenn es nur Zigarettenblättchen sind.

  7. Günter Landsberger Says:

    Aber, aber! Nicht den leisesten Anflug von “Vorwurf” oder gar “Häme” habe ich bei Ihnen, liebe Frau Schimanski, herausgehört. Wie können Sie mich nur so missverstehen?

  8. Matta Schimanski Says:

    Dann ist alles gut. Es hätte mir sehr Leid getan, hätten Sie sich von mir “dumm angemacht” gefühlt.
    Entschuldigen Sie bitte das Missverständnis!

  9. Revierflaneur » Blog Archiv » Dienstag, 27. Mai 2008: Gizeh V Says:

    […] Schleifer; aber auch einer jener sexuell Abartigen, die sich gern in der Menge reiben.“ (A. a. O., S. […]

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