Archive for May 24th, 2008

Gizeh (III)

Saturday, 24. May 2008

miserables

Wer kennt sie nicht, Les Misérables, seit sie zu Beginn der 1980er-Jahre die Musical-Bühnen der Welt eroberten. Seither haben mehr als fünfzig Millionen Menschen das Stück gesehen, das in 38 Ländern und 227 Städten zur Aufführung kam. Damit es alle verstanden, wurde es in 23 Sprachen übersetzt. Auf den Programmzetteln konnte man lesen, dass es auf dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo „basiert“. Diesen Roman, der in der vollständigsten deutschen Übersetzung 1500 Seiten dick ist, auf eine Spieldauer von drei Stunden zu verkürzen, das ist ungefähr so, als wollte man die Schöpfungsgeschichte in einem einzigen Satz zusammenfassen: Es werde Licht!

Wenn nach einer der zahlreichen Aufführungen des Spektakels von Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Libretto) das Licht angeht, dann wissen die Zuschauer weniger als nichts von diesem Jahrhundertbuch. Der sing- und tanzbare Extrakt, der sich mit viel Pomp und wenig Geist zum Ticketpreis von 30 Euro für mittlere Plätze farbenprächtig und klangvoll über das nun frenetisch applaudierende Publikum ergossen hat, ist im Lichte der Lektüre von Victor Hugos Roman aus dem Jahre 1862 betrachtet nur der schwache Abglanz eines fahlen Schattens: ein Nichts. Zum gleichen Preis wären in jeder gut sortierten Buchhandlung zehnmal mehr Stunden intensivsten Lesevergnügens zu erstehen gewesen. Aber lassen wir das, man kann niemanden zu seinem Glück zwingen.

Im ersten Buch des dritten Teils seines Romans, „Paris in einem Sonnenstäubchen“ überschrieben, singt Hugo das Loblied auf die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, wie Walter Benjamin Paris einmal genannt hat: „Paris kennt keine Grenzen. […] Wie wunderbar ist solch eine Stadt! […] Paris besitzt einen unübertrefflichen Frohsinn. […] Es ist gewaltig. […] Es macht aus seiner Logik den Muskel des einmütigen Willens. Es vervielfacht sich in allen Formen des Erhabenen. […] Es ist überall, wo die Zukunft anbricht, […] es strahlt das Hochherzige über die Erde aus. […] Seine Bücher, sein Theater, seine Kunst, seine Wissenschaft, seine Literatur und seine Philosophie sind die Handbücher der Menschheit. […] Es läßt seine Sprache die ganze Welt sprechen, und diese Sprache wird der Logos. Es bildet in allen Geistern den Fortschrittsgedanken heraus. Die befreienden Lehren, die es erdenkt, tragen die Generationen im Herzen, und mit der Seele seiner Denker und Dichter sind seit 1789 alle Helden aller Völker gezeugt.“ (Victor Hugo: Die Elenden. A. d. Frz. v. Paul Wiegler u. Wolfgang Günther. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1990, Zweiter Band, S. 23 – 25.)

Wie will man das singen? Wie will man das tanzen? Und wie soll man den plötzlichen Bruch auf einer Musicalbühne darstellen, der mit dem nächsten Satz wie Blitz und Donner mitten in diese Lobeshymne niederfährt. Dieser Satz lautet in der Übersetzung: „Demungeachtet führt es sich wie ein Gassenjunge auf, und dieses gewaltige Genie, das Paris heißt und die Welt durch sein Licht verändert, schmiert mit einem Stück Kohle Bouginiers Nase auf die Mauer des Theseustempels und schreibt ,Crédeville ist ein Dieb‘ auf die Pyramiden.“

Da hat sich also Victor Hugo aus Gérard de Nervals Voyage en Orient (1851) bedient und dabei kurzerhand das anonyme Grafitto der Nase von Bouginier – wer mag das wohl gewesen sein? – von der Plattform der Cheopspyramide bei Gizeh aufs athenische Hephaiston verlegt, das auch Thesaion oder Theseum genannt wird. So ein kleiner diebischer Gassenjunge und Fälscher, dieser Victor Hugo!